Muss man sich im Alter schonen? Soll man nur noch im Lehnstuhl über Vergangenes nachsinnen? In einem einzigartigen Altersheim in der Schweiz weigern sich Knechte und Mägde, von der Plackerei abzulassen. Weil dort ihre Erfahrung und ihr Fleiß geschätzt sind, erleben sie ihre alten Tage in Würde
07.10.2010

Dem Hügli Hans kann es kaum jemand recht machen. Das erbost die anderen im Heim, diese 70- oder 80-jährigen Jungspunde, manchmal sehr. Da stehen sie tagaus, tagein in der Beerenplantage, karren auf Anordnung Hüglis Holzspäne und Tannenreisig heran, um die jungen Stauden zu schützen, und dann kommt der Beerenchef an seinem Stock daher und ist nicht zufrieden. Da habe man zu wenig abgedeckt, müssen sie sich anhören, hier sei ein treibendes Stöcklein achtlos abgezwackt, da eines unsachgemäß aufgebunden worden. So gehe es natürlich nicht.

"He ja, wenn man die Arbeit sieht, dann tut man sie eben, auch als Ältester"

Der Hügli Hans könnte ebenso gut im Lehnsessel sitzen, dösen und die anderen machen lassen. Nächstes Jahr wird er 100 Jahre alt. "He ja, wenn man die Arbeit sieht, dann tut man sie eben, und zwar richtig, auch als Ältester", sagt der Hügli Hans und führt weiter sein strenges Regiment über Beeren und Menschen.

Vor ein paar Monaten noch habe er gedacht, jetzt sei es fertig mit der Arbeit, so schlecht sei es ihm gegangen, Nierenprobleme und eine Blutvergiftung. Jetzt aber steht der Hügli Hans wieder regelmäßig in der Plantage. Und täglich besucht er die letzte Stute dieses außergewöhnlichen Bauernbetriebes, seine Herta, auch schon 30-jährig, die an einer bösen Beinverletzung leidet. "Unsachgemäß sind sie halt mit ihr umgegangen, die Jungen", knurrt der Hügli Hans. Und beinahe stolz berichtet er, wie er einmal zwei Mitbewohner kräftig geohrfeigt habe, weil der eine grob mit den Beerenpflanzen und der andere schlecht mit der Herta umgegangen sei. Denen habe er es gezeigt! Die hätten nicht mehr aufgemuckt. Und dem Heimleiter habe er auch sofort Bescheid gesagt.

Der Hügli Hans, 99-jährig, klein und zerbrechlich, mit zitternden Händen und Augen, die nicht mehr so richtig wollen, lebt seit bald einem Vierteljahrhundert im Dienstbotenheim Oeschberg, in der Gemeinde Koppigen, unweit von Bern. Zusammen mit ihm verbringen hier sechs Frauen und 34 Männer ihren Lebensabend: in einem hochherrschaftlichen Haus mit nicht minder stattlichen Nebengebäuden und einem ansehnlichen landwirtschaftlichen Betrieb; bestehend aus Wald, Wiese, Garten, Schweinen, Kühen, Hühnern ­ und eben der Stute Herta. Gemeinsam haben diese 41 alten Menschen, dass sie ihr Leben lang treu gedient haben, die meisten von ihnen als Knechte und Mägde; oft jahrzehntelang beim gleichen Bauern, für Kost, Logis und einen kargen Lohn.

Die Tage waren lang, damals, in fremden Diensten, begannen oft morgens um halb fünf und endeten im Sommer manchmal erst gegen neun Uhr abends. Heute sind sie alt und man sieht ihnen die harte Arbeit an. Es sind gebückte, schiefe Körper, die sich in den Garten, aufs Feld, in den Wald oder in den Stall bewegen, manche brauchen Stöcke und Gehhilfen, gehen nur noch mühsam, schlurfend und hinkend, mit zittrigen Händen. Und doch ist es ihr ganzer Stolz, auch im Alter noch nützlich zu sein, ihr Fachwissen einbringen und anpacken zu können, den Ertrag ihrer Arbeit zu sehen: die reifen Beeren, die im Sommer am Straßenrand verkauft werden, die frisch gemolkene Milch, die täglich auf dem Tisch steht, das Gemüse aus dem Garten, die kunstvoll aufgerichteten Holzbeigen, die für manches Kaminfeuer in der Gegend sorgen.

"Nichts zu tun, das wäre das Schlimmste, da würde es mir schnell langweilig"

"Nichts zu tun, das wäre das Schlimmste, da würde es mir schnell langweilig", sagt der Kehrli Emile. "Ich war schon immer gerne draußen und mit den Tieren zusammen", sagt der Zingg Christian, der für die Schweine zuständig ist, "das will ich weiterhin tun können." "Bloßes Herumhocken", sagt der Eschler Viktor, "hält keiner aus. Das macht nur nervös." Und auch der Älteste im Bunde, der Hügli Hans, erklärt, er sei das Werken halt von jeher gewöhnt. Auf der faulen Haut liegen, das bringe er gar nicht zustande.

"Vorsicht, Altersheim", steht auf einer Straßentafel, wenn man von Bern her kommend auf der Landstraße nach Koppigen einbiegt. Das Häusergeviert des Dienstbotenheimes steht in einer Kurve, und täglich donnern hier Lastwagen, Busse und der Pendlerverkehr vorbei. Wollen sich die Bewohner vom Nebengebäude in den Speisesaal des Hauptgebäudes, den ehemaligen "Landgasthof zur Sonne", bewegen, so müssen sie die Straße auf einem Fußgängerstreifen überqueren. Weil die Wagen in aller Regel viel zu schnell um die Kurve fahren, ist es auch schon zu Unfällen gekommen, in einem Fall zu einem tödlichen. Nicht jeder Fahrer tritt vorausschauend auf die Bremse, wenn eine gebückte, wartende Figur am Straßenrand sichtbar wird, in Gummistiefeln, grobem Arbeitsgewand, Zipfelmütze, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, manchmal mit einem Stumpen oder einer Pfeife im Mund.

"Die Straße ist laut und gefährlich", sagen Verena und Alexander Nägeli, das Heimleiterpaar, "doch auf der anderen Seite ist sie auch eine Attraktion für unsere Bewohner: Sie hat Unterhaltungswert. An warmen Abenden sitzen die Männer und Frauen gerne auf den Bänken vor dem Haus, direkt an der Straße ­ lieber als hinten auf der Wiese. Hier sehen und erleben sie etwas, sie werden von Pendlern und Lastwagenfahrern gegrüßt, man kennt sich."

Ein Altersheim wie jenes in Koppigen, speziell für Knechte und Mägde, die nicht bettlägerig oder an den Rollstuhl gebunden sind und noch so weit anpacken möchten, wie es ihre Kräfte erlauben, so ein Heim gibt es nur einmal in der Schweiz und in Deutschland gar nicht. Das Heim war dank einer Spende der kinderlos gebliebenen, wohlhabenden Geschwister Affolter möglich geworden; die Porträts von Ferdinand und Elise Affolter hängen im Hauptgebäude an der Wand neben manchem Kleinod aus herrschaftlichen Zeiten. Es war ihr Wille gewesen, ein solches Heim für alte Knechte und Mägde zu schaffen, verbunden mit einem landwirtschaftlichen Betrieb, um dem braven Gesinde ein Alter in Würde zu ermöglichen, mit Betreuung, anständigem Essen und sinnvoller, dem Fachwissen der Bewohner entsprechender Beschäftigung.

Es ist verboten im Hause auf den Boden zu spucken

Das Heim existiert seit 1906 ­ und die Hausordnung von damals gilt im Wesentlichen bis heute; sie hängt, in alter deutscher Schrift verfasst und in 22 Paragrafen gegliedert, gleich neben der Haustüre des ehemaligen Gasthofes. Paragraf 4 regelt, dass jeder Pflegling Anspruch auf ein eigenes Bett hat. Gemeinschaftsduschen und -toiletten befinden sich auf dem Gang. Gemäß Paragraf 5 werden täglich vier Mahlzeiten serviert: "Die Kost ist einfach, aber reinlich und schmackhaft zubereitet." Paragraf 10 hält schließlich fest, dass es verboten sei, im Hause auf den Boden zu spucken.

Das Dienstbotenheim kommt bis heute ohne öffentliche Subventionen aus und verlangt nur bescheidene Kostgelder, die alle Bewohner mit ihren Alters- und Invalidenrenten bezahlen können. Wer tüchtig mitarbeitet, bezahlt etwas weniger, rund 50 Franken (33 Euro) pro Tag. Wer weniger arbeiten mag oder viel Betreuung braucht, zahlt gegen 60 Franken. Der Heimleiter selbst ist gelernter Landwirt, ihm stehen seine Ehefrau und 17 Angestellte ­ manche mit Teilzeitstellen ­ zur Seite.

Der Tagesablauf im Dienstbotenheim ist der Herkunft und Lebensart seiner Bewohner angepasst. Zum soliden Frühstück mit Kaffee, Milch, Rösti, Brot, Butter und Joghurt wird morgens um sieben Uhr die Glocke im Hof geläutet, und bereits vorher, noch in der Dunkelheit, haben einige der Männer die Schweine und Kühe gefüttert, gemolken und die Ställe ausgemistet. Wer mag, begibt sich nach dem Frühstück zur Arbeit auf die Felder, in den Garten oder den Wald. Es gibt aber keinen Zwang zur Arbeit ­ und vor allem keine Hektik. Jeder packt an, wo er will und so viel wie er mag. Das Heimleiterpaar akzeptiert, wenn ein alter Knecht erklärt, er habe sein Leben lang genug geschuftet und wolle jetzt seine Ruhe haben.

Wer sich allerdings innerhalb der Gruppe der Heimbewohner Achtung und Respekt verschaffen will, der tut dies durch Arbeit. Die alten Knechte und Mägde spötteln gerne über jene, die den ganzen Tag nur herumsitzen oder am Turnen im Saal teilnehmen; sie wetteifern miteinander, wer nun heute am meisten geleistet habe. Nur am Sonntag, erzählt der Zingg Christian, erlaube er sich, nach dem Frühstück nochmals ins Bett zu gehen, vielleicht bis gegen elf Uhr. Um elf Uhr nämlich wird bereits zum Mittagessen geläutet.

Es kommen fast ausschließlich eigene Produkte auf den Tisch, am Sonntag werden jeweils Tischtücher und Servietten aufgelegt, Männer und Frauen ziehen ihre schönsten Gewänder an, es gibt ein Glas Wein zum Essen und ein Schnäpschen zum Kaffee. Wer Geburtstag hat, darf sich ein Mittagessen wünschen. Der Kropf Karl hatte sich zum Geburtstag Kartoffelpüree, Schweinsbratwurst und Salat gewünscht, zur Nachspeise Eis mit Schlagsahne, zur Feier vom Müller Noldi gab es Käse-Fondue mit Fruchtsalat und der Zingg Christian freut sich jetzt schon auf Pommes, Schnitzel und Meringue (Gebäck aus Eischnee und Zucker) mit Schlagsahne.

Mit 75 Jahren auf den ersten Flug

Der Hirschi Alfred hatte 52 Jahre lang dem gleichen Bauern gedient, am Anfang für ein Trinkgeld, gegen Ende seiner Arbeitstätigkeit für 600 Franken (390 Euro) pro Monat. Kürzlich gewann er auf einer Werbefahrt eine Reise in die Türkei, die er auch prompt antrat, und kam so, im Alter von 75 Jahren, zu seinem ersten Flug. Es sei schon recht gewesen in der Türkei, erzählt er, es gebe viele Orangen dort, doch in der Schweiz gefalle es ihm besser. Der Michel Walter blieb 42 Jahre lang bei einem Bauern am Brienzer See und erhielt für seine Arbeit jeweils am Samstagabend ein Fünfzigernötli zugesteckt. Sie seien anständig gewesen, seine Meisterleute, sagt er, er gehe sie heute noch besuchen. Als einer der wenigen im Dienstbotenheim hat der Älteste, der Hügli Hans, der Beerenchef, seine Arbeitsstelle häufig gewechselt, zog von einem Bauern zum anderen. An manchen Orten sei es halt besser, an den anderen schlechter gewesen, erzählt er. Bei einem Bauern musste er in einer ungeheizten, fensterlosen Kammer hausen, die oberhalb eines Holzschuppens lag. Das tolerierte er ein paar Monate lang, kurz vor dem Winter zog er dann weiter -­ zum Glück: Dieser Winter anno 1928/29 brachte Temperaturen bis zu minus 25 Grad.

Oft gab auch das Essen Anlass zur Klage, wenn die Bauersfrau geizte, das Gesinde mit Kartoffeln, hartem Brot, ranzigem Käse und hauchdünn geschnittenen Fleischscheibchen abzuspeisen versuchte. Manch einer im Dienstbotenheim rühmt deshalb das gute Essen, das hier auf den Tisch komme. Die Bewohner leben in Einer-, Zweier- oder Dreierzimmern, und wer seine Kammer mit einem anderen teilen muss, beklagt sich nicht darüber.

Tagsüber sind die Männer und Frauen an der Arbeit, sitzen auf einer der Bänke innerhalb und außerhalb des ehemaligen Gasthofes oder im Aufenthaltsraum mit dem Fernseher. Bei den Männern sehr beliebt ist eine Bude in der Scheune, die als Werkstatt und Ruheraum zugleich dient: die autonome Zone im Dienstbotenheim und der einzige Raum, in dem man rauchen darf. Hier wird gepafft, palavert, gestritten oder auch nur Zeitung gelesen, Radio gehört oder gedöst. Die einzelnen Figuren sind in dem düsteren Raum und hinter dicken Rauchschwaden kaum mehr erkennbar.

Weit weniger gesprächig als die Männer geben sich die sechs Frauen im Heim, die nie im Leben einen Fuß in die verrauchte Bude setzen würden, auch nicht draußen im Stall oder auf den Feldern arbeiten, sondern in der Küche oder der Waschküche. Die Kuhn Rosmarie hat erst kürzlich ihren Liebsten beerdigen müssen, den sie im Heim kennen gelernt hatte. Ihre Kammer gleicht einem Jungmädchenzimmer, mit zahllosen Puppen, Plüschtieren, Fotos und Zeichnungen an den Wänden. Manchmal erlaubt sich einer der alten Knechte einen Scherz und bindet die Kuhn Rosmarie an deren Schürzenbändern hinten am Stuhl fest, was sie oft erst dann bemerkt, wenn sie sich nach dem Essen wieder erheben will ­ zum großen Gaudi des Übeltäters.

"Heiraten ging einfach nicht, als kleiner Knecht"

Fast niemand unter den Bewohnern hat jemals geheiratet. "Das ging einfach nicht, als kleiner Knecht", sagt der Älteste, der Hügli Hans. "Mit unserem kargen Lohn konnten wir keine Familie aushalten, und dann hätten wir auch eine Wohnung suchen müssen, weil die Bauersleute keine Frauen und Kinder in den Kammern der Knechte duldeten."

Noch schweigsamer und zurückgezogener als die ehemaligen Mägde im Heim sind ein paar wenige Männer, von denen das Heimleiterpaar bruchstückhaft weiß, dass sie schon als kleine Buben ihre Familien verlassen, sich auf einem fremden Hof ihr Brot verdienen mussten: sei es, weil sie unehelich geboren wurden, oder sei es, weil es einfach zu viele Geschwister gab und die Eltern die vielen Münder nicht mehr stopfen konnten. Diese Männer verrichten still ihre Arbeit, sprechen kaum mit den Mitbewohnern und wollen schon gar nicht von fremden Besuchern behelligt werden. Sie werden ihre Geschichte mit ins Grab nehmen, all die demütigenden Erlebnisse, das Ausgestoßen-, Ausgebeutet- und Verachtetwerden, über das sie bis heute keine Worte verlieren mögen.

 

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Motorrad aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.