Der aufgeklärte Mensch und seine spirituelle Unterernährung
30.11.2010

Die Ferien waren zu Ende gegangen. Unsere Koffer standen wieder auf dem Dachboden, und wenn ich aus dem Fenster blickte, sah ich Regentropfen auf das Pflaster spritzen.

Auf meinem Schreibtisch lagen Stapel unerledigter Post, offene Rechnungen türmten sich und pausenlos klingelte das Telefon, als plötzlich jemand vor der Tür stand. Zittrig und klein, mit Händen wie aus Wachs: mein Nachbar, Herr Wimmer. Der Alte setzte sich in meinen Korbstuhl und suchte nach Worten. Er habe keine Freunde mehr, sagte er schließlich, und seine Kinder hätten keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Seit dem Tod seiner Frau sei er ganz alleine zurückgeblieben. Kurz: Sollte ich einmal längere Zeit nichts von ihm hören, so möge ich doch so freundlich sein, eine der Telefonnummern anzurufen, die er mir auf einen Zettel notiert habe.

"Alleine zurückgeblieben."

"Alleine zurückgeblieben." Als der Mann gegangen war, trat ich auf meinen Balkon und beobachtete die Menschen unten auf den Bürgersteigen. Die einen liefen nach links, die anderen nach rechts. Lediglich ein Landstreicher fiel ein wenig aus der Reihe, der an den bunten Sträußen vor dem Blumenladen schnupperte. Herr Wimmer, mein Nachbar, sah nicht glücklich aus, was man versteht. Ich weiß nicht, ob er an ein Paradies glaubt, an Reinkarnation oder an ein Ende mit gar nichts. Selbst in seiner Generation ist die Vorstellung von Ewigkeit geschrumpft auf die paar Jahre an Pension, für die man dann ein Leben lang geschuftet hat. Mir fiel ein Satz aus einer Geschichte ein, die ich am Abend zuvor gelesen hatte. Es gibt einen Gott im Himmel, schreibt darin Isaac Singer, und eines Tages werdet ihr Rechenschaft ablegen müssen.

Es ist noch nicht lange her, seit ich wieder in die katholische Kirche zurückgekehrt bin. Es gab viele Gründe für ein Comeback. Einer davon war, gesehen zu haben, wohin eine Gesellschaft geht, die sich nur noch auf sich selbst bezieht. Ein anderer war, dass mich mein Leben langweilte. Ich suchte nach Wahrheit. Wenn Sie mich nun aber fragen, ob ich sie gefunden habe, muss ich zugeben: Ich arbeite daran. Trotz der neuen "Affäre mit Gott", wie Graham Greene dieses Verhältnis einmal nannte, fallen mich die alten Ungewissheiten an wie wilde Tiere in der Nacht. Und wenn die ganze Welt nur Zufall ist, überlege ich dann. Ergebnis einer unbestimmten Energie, die im Universum herumsaust und selbst nicht weiß, was sie soll? Wurde die Schrift des Lebens, die in unseren Genen seit Jahrmillionen Regie führt, möglicherweise nicht doch von einem dummen Urknall geschrieben?

Ein geistiger Nuklearschlag

Alles ist ein wenig anders geworden. Man spricht eine neue Sprache. Man bewegt und benimmt sich anders. Dann dieses verfluchte Tempo. An manchen Tagen lese ich fünf Zeitungen und blättere in Magazinen, aber es fällt mir schwer, daraus klug zu werden. Gelegentlich kommt es mir sogar vor, als sei eine Art Big Bang eingetreten, ein geistiger Nuklearschlag, der uns in eine andere Umlaufbahn katapultierte.

Hat der Umbruch der Millenniumsjahre nicht auch eine gewaltige Rast- und Ratlosigkeit ausgelöst? Man bekommt einen Eindruck von der wilden Jagd nach dem verlorenen Sinn, wenn man in den riesigen Trauben vor den Wie-kann-ich-besser-leben-Regalen der Buchhandlungen steht. Wer sind wir, scheinen die Wartenden zu fragen, wo kann ich finden, was mir fehlt? Mein Friseur erzählte mir enthusiastisch, er habe soeben ein Relax-Wochenende gebucht, mit einem indischen Guru hoch oben in den Bergen. "Fast besser als meine Feldenkrais-Gruppe", glaubt er. Ein Bekannter schickte eine Grußkarte aus einem "Retreat-Center", in dem er endlich mal wieder "sich selbst spüren" wolle. Bei einer kleinen Tischgesellschaft, an der ich unlängst teilnehmen durfte, schwärmte ein junger Diplomat über seine neueste Entdeckung. Der Buddhismus, fasste er zusammen, sei in Wirklichkeit "die einzige Methode, um ganz und gar glücklich zu werden". Ich wurde ganz klein auf meinem Platz und vergrub den Kopf im Salatteller. Peinlich, nur Mitglied einer Glaubensgemeinschaft zu sein, in der es nicht so sehr um einen selbst, sondern vor allem um den anderen geht.

Es ist nicht so, dass die Leute nichts mehr glaubten. Ganz im Gegenteil. Wie in einen Zaubertrank stürzten wir uns die Jahre über nacheinander in die Psycho-, die Drogen-, die Eso-, die Bio-, die Fitness-, die New-Economy-, die Wellness-, die Diät- und in die Geheimnisse-des-Glücks-Welle. Nicht zu vergessen die Pornowelle, die mit gut besuchten "Erotikmessen" längst Bestandteil bürgerlicher Kultur geworden ist. Jeder einigermaßen begabte Animateur kann heute mit einer neuen Verheißung, und sei sie noch so krumm, über Nacht ein Heer von Ahnungslosen hinter sich versammeln. Nur von einem Angebot erwarten wir offenbar kaum noch was: von jenem Modell, das Europa einmal so erfolgreich machte ­ Christentum, die Rezeptur des Abendlandes.

Haben wir überhaupt noch ein Bild von Gott?

Manche Länder tun sich leichter mit Religion, andere schwerer. Dass es in Deutschland in dieser Frage einen regelrechten Komplex gibt, ist sicherlich auch ein Ergebnis schuldhafter Nazi-Vergangenheit. Zum Fluch des Bösen gehört, dass es auch das Gute schlecht macht und Traditionen, Werte und Überzeugungen in den Sumpf zieht, die eigentlich unerlässlich sind. Nicht ohne Grund wirkt die hektische Suche nach neuen Inhalten oft genug wie eine Flucht ­ um bloß nicht in Berührung zu kommen mit etwas, das möglicherweise politisch nicht korrekt und außerhalb der Mode ist. Aber haben wir darüber nicht auch ein sehr merkwürdiges Bild von Gott bekommen? Besser gesagt: Haben wir überhaupt noch eines?

Niemals zuvor jedenfalls, außer in den Jahren des Faschismus, gab es in diesem Staat eine Gesellschaft, in der das Heidentum die Kultur stärker dominierte als heute. Inzwischen haben wir einen Zustand erreicht, den man wohl als spirituelle Unterernährung, wenn nicht gar als religiösen Notstand bezeichnen muss. Viele Christen fühlen sich bereits wieder, nach einem Jesus-Wort, wie "Schafe unter die Wölfe geschickt". Und betrachtet man den permanenten Großangriff auf die Überlieferung der Evangelien, ist man in der Tat erinnert an die Passion in der Via Dolorosa. Der Hintergrund der Kreuzigung Christi heute wie damals: Man glaubt IHM nicht.

Der Weg ist nicht leichter geworden. Wer heute damit anfängt, wieder an Gott zu denken, steht inzwischen vor einem Berg von Fragen, die früher niemand stellte. Ein Gott auf einem Esel. Ein Schöpfer der Welt, der seinen Jüngern die Füße wäscht. Gibt es nicht doch viele, allzu viele Widersprüche in der überlieferten Religion? "Wer an Jesus glaubt", konnte der Religionsphilosoph Karl Barth noch ohne Zittern postulieren, "der hört das Wort Gottes." Und heute? Heute sind wir davon überzeugt, dass es nichts mehr gibt, was als einigermaßen klare Erkenntnis zu vertreten wäre. Das neue Dogma: Alle Religion ist relativ. Und ist nicht, Heilige hin, Kirchenväter her, die ganze christliche Überlieferung ohnehin nur Schwindel und Betrug? Unzählige Artikelserien handeln vom "Fluch des Christentums". Schlaue Theologen finden Beweise gegen Jesus, welche die Generationen vor uns in ihrer Verblendung offensichtlich übersehen hatten. Gut, wenn dem so ist, dann ist es wirklich an der Zeit, Adieu zu sagen. Schmeißen wir die Kreuze aus den Schulen. Tilgen wir das "C" aus den Namen von Parteien. Belassen wir es an Weihnachten bei Kaufrausch und Kaviar. Warum nicht?

Und wenn dem nicht so ist? Was dann? Halten wir, bitte, mal einen Moment inne. Meinetwegen nur für einen Test. Wäre es denn nicht auch einen Versuch wert, einfach über den Tellerrand hinauszusehen? Sich einmal hineinzustellen in den Raum, den Christen als "Geheimnis" bezeichnen? Nachzuvollziehen, dass Kirchenfenster nur von innen leuchten? Zu begreifen, dass die Schätze des Glaubens weder im Crash-Kurs noch ohne die Rückeroberung des metaphysischen Denkens zu bekommen sind? Im Zweifel für den Angeklagten. Ja. Auch hier. Und wer dann plötzlich eine andere Brille aufsetzt, könnte in der Tat die Chance haben, Kirche auch, um es salopp zu sagen, als eine globale Bewegung für "Love and Peace" zu sehen. Als eine verwegene Truppe, die sich mit ihrem Gebot der Feindesliebe, das es in keiner anderen Religion gibt, den Gewalten dieser Welt in den Weg wirft. Weil sie ganz einfach die Lösung kennt, um die Spirale von Gewalt und Gegengewalt endlich durchbrechen zu können.

Für Gläubige ist Gott eine Realität

Anders ausgedrückt: Für Gläubige ist Gott eine Realität. Ein Narr, wer sie nicht sehen kann. Nicht die biblische Überlieferung ist demnach eine Scheinwelt, sondern eine Welt ohne sie, die Welt der Medien, der Meinungen, des Marketings, ist es. Verlören wir diese Seite unseres Daseins, wären wir so etwas wie ein Kopf ohne Hirn, ein Leib ohne Seele: halbe Menschen eben. Vermutlich sogar, wie ein Blick auf die zunehmende Zahl bestialischer Verbrechen zeigt: echte Zombies.

Es ist eben nicht egal, an was man glaubt. Wie der Unglaube noch kein Wert an sich ist, so ist nicht jede Spiritualität und jede Religion schon per se ein Heilsangebot. Es gibt verrückte Formen davon, und einige sind, man kann es in der "Tagesschau" verfolgen, absolut lebensgefährlich. Auf die Botschaft kommt es an. Sie ist grundlegend für den Zusammenhang von Glaube und Demokratie, Glaube und Freiheit, Glaube und Solidarität. Wenn man das bedenkt, dann sind die vielen zu beobachtenden Zeichen des Niederganges schon ein Beleg für die These, dass die Quellen der Ethik eben nicht unter dem Parkett des Börsenhandels liegen und auch nicht aus überschuldeten Staatshaushalten sprudeln. Dann läuft eine Moderne, die sich nicht mehr auf eine übergeordnete Instanz bezieht, schon kraft ihrer Konstruktion ins Leere. Wie eine Radachse, die sich nur um sich selber dreht. Abgesehen davon, dass wir, was wirkliches Weltwissen betrifft, objektiv immer dümmer werden.

In unseren Tagen erwarten wir von den Hirten der Kirche zu Recht unübersehbare Zeichen, die der Geschichtlichkeit der Stunde entsprechen. Eine Art Perestroika des Christentums. Schließlich ist mit der Sache Jesu die letzte Vision verbunden, die uns noch geblieben ist. Die Frage ist ja gar nicht: Hat das Christentum noch eine Chance in dieser Gesellschaft? Die Frage ist in Wahrheit: Hat die Gesellschaft noch eine Chance ohne das Christentum? Das Ding ist nur: Wir haben aus dem Evangelium eine Veranstaltung gemacht, die sich mit allem anfreundet, was das Leben irgendwie bequemer macht. Es ist ein Wir-tun-nur-noch-so-als-ob-Christentum. Aber nicht nur Priester verbiegen und verraten die Botschaft Jesu. So viel ich weiß, gibt es in diesem Land noch immer 50 Millionen Menschen, die Mitglied der beiden großen Volkskirchen sind. Nicht gerade eine Minderheit. Wo aber ist das Volk Gottes? Hat es sich versteckt? Und ist es angesichts dieser Verhältnisse nicht auch an der Zeit, einmal die Erwartungen zu überprüfen, die wir gegenüber der so genannten Amtskirche entwickelt haben? Sie zumindest dem Maß anzugleichen, das wir selbst zu geben bereit sind? Heute fragen wir pausenlos und ziemlich ungeniert nach unseren Wünschen an die Religion. Die frühen Christen fragten auch noch danach, was ER erwartet. Und das macht dann wohl den Unterschied.

Wieder mehr Glauben wagen

Es gibt einen Traum: Könnte man nicht auch, um ein Wort Willy Brandts zu nutzen, wieder mehr Glauben wagen? Wieder damit beginnen zusammenzufügen, was zusammengehört? Glauben und Leben. Gott und die Welt. Die Botschaft des Evangeliums neu zu entdecken. Als Hilfe zur Selbsthilfe. Seine unendliche Kraft. Seine unendliche Weisheit. Seine unendliche Barmherzigkeit. "Rufe mich, und ich werde dir antworten", heißt es im Buch der Bücher. Dann könnte sich auch herumsprechen, dass wir längst nicht mehr nur in der Zeit nach Christus leben, sondern bereits wieder, mehr und mehr, in der Zeit vor ihm. Und wer weiß, möglicherweise bekommen wir dann nach den ideologischen Verkrampfungen des letzten Jahrhunderts endlich wieder einen klareren Blick auf die ganze Größe des Mysteriums Jesu. Mehr erschrecken als über die uns so plagenden Zweifel könnten wir dann freilich über die Feststellung: Ja, es stimmt. Alles ist wahr.

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