Wurzeln schlagen -­ für viele ist das nur noch ein Traum.
30.11.2010

Den Augenblick werde ich nie vergessen. Nach einem halben Jahr in Amerika und Asien bestieg ich im Oktober 1959 eine Lufthansa-Maschine, die mich von Tokio zurück nach Deutschland brachte. Wir überquerten den Nordpol. Irgendwann senkte sich das Flugzeug. Ich sah im Morgendunst die skandinavische Küste unter mir und war glücklich. Ich sah auf meine Heimat, auf Europa, vergaß den Kalten Krieg, die Grenzen, alles, was die Europäer voneinander trennte. Ich erinnerte mich noch einmal der Cowboys und der Women Clubs in Texas sowie der seltsamen japanischen Begrüßungszeremonien ­ und fühlte mich als Europäerin. Die Mentalität der Menschen, das Leben auf anderen Kontinenten, war mir verwirrend fremd geblieben.

Ich entsinne mich nicht, dass der Begriff Heimat zwanzig Jahre früher, 1939, für mich als vierzehnjähriges Hitler-Mädchen eine Rolle gespielt hatte. Wir sprachen von der Scholle, von Blut und Boden, wir sangen vom "gebenedeiten, heiligen Vaterland". Der Begriff Heimat kam in Hitlers "Mein Kampf" nicht vor. Es gehe um mehr, so habe ich gefolgert, um etwas Gewaltiges. Um Großdeutschland, dem Teile Europas, ja auch afrikanische Kolonien einverleibt werden sollten. Meine Mutter trat dem Reichskolonialbund bei. Von Heimat sprachen wir erst in der Niederlage. Nun musste die "Heimatfront" verteidigt werden, "Heimatvertriebene" mussten eine Zuflucht finden. Heimat ­ mit diesem Begriff verbinden sich Trauer und Verlorenes, aber auch die Forderung nach Rückkehr.

"He, do Kappeskopp! Maach, datte fott küss!"

Anfang der sechziger Jahre kam ich mitten in Deutschland in die Fremde. Geboren in Vorpommern, auf der Insel Usedom, übersiedelte ich nach Köln. "He, do Kappeskopp! Maach, datte fott küss!" Als ich zum ersten Mal richtige kölsche Jungs untereinander streiten hörte, überlegte ich, ob es vielleicht Sorben, Serben oder Basken sein könnten. De Zoch kütt! Nie hat mich einer überreden können, als Marienkäfer oder Osterhase kostümiert, als Hornisse, Klofrau oder Zwiebel ausstaffiert an einem Umzug teilzunehmen, auf einer Prunksitzung "Kölle alaaf!" zu rufen oder, Kamelle sowie Strüßje fangend, Rosenmontag am Straßenrand zu stehen. An Weiberfastnacht schlich ich in mein möbliertes Zimmer. Die Welt, aus der ich komme, die der Pommern und der Mecklenburger, lag in einem anderen Erdteil, weit entfernt.

1951 war ich aus der DDR geflüchtet. Zwei Entführungsversuche der Stasi lagen hinter mir. Selbst ein Besuch zu Hause war mir nicht gestattet. An die Wiedervereinigung glaubte ich nicht mehr. Was macht ein Mensch, der überzeugt ist, seine Heimat wird er nie mehr wiedersehen? Ich verklärte den heimatlichen Ort und auch die vertrauten Menschen dort. In meinen Träumen hörte ich die Ostsee rauschen, den Schrei der Möwen über Meer und Strand, wanderte über Hügel, vorbei an den idyllischen kleinen Seen hinein in die weiten Buchenwälder und sog den Duft der frischen Räucherflundern ein. "Die Heimat ist wie die Mutter. Es gibt nur eine", sagen die Italiener. Dort, auf Usedom, so flüsterte ich mir zu, liegen deine Wurzeln, liegt dein Glück.

Von der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren konnte ich nicht leben. Ich suchte nach einer Ersatzheimat. Einem Ort der Geborgenheit, des Einklangs mit dem Himmel und der Erde. Ich suchte ein solches Zuhause in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, in einer Partei, die, um es mit August Bebel auszudrücken, ein Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit erstrebt, soweit das auf Erden möglich ist. Ich brauchte einige Zeit, mich in Köln einzuleben. Doch dann sollte die Stadt für mehr als dreißig Jahre so etwas wie eine zweite Heimat für mich werden. Jenseits ihrer seltsamen Karnevalsgebräuche überzeugten mich der Bürgersinn, die bürgerlichen Tugenden der Kölner. Am Rhein, "der großen Völkermühle", wie Carl Zuckmayer ihn genannt hat, lernt man Weltaufgeschlossenheit und Toleranz. Hier waren schon römische, keltische und napoleonische Soldaten entlanggezogen, schließlich Bergarbeiter aus vielen Ländern und türkische Gastarbeiter. Hier, am Rhein, haben sich "die Völker vermischt wie die Wasser aus Quellen und Bächen zu einem gewaltigen Strom". Oder wie der Kölner sagt: "Jeder Jeck ist anders."

Heimat ist nicht denkbar ohne Wahlverwandte. Solche liebevolle Menschen habe ich am Rhein gefunden: Heinrich und Annemarie Böll. Heinrich Böll gehörte zu den Menschen, die die widersprüchlichsten Eigenschaften in sich vereinen: Er war sanft und radikal, friedfertig und rebellisch, störrisch und barmherzig, ein humorvoller, gütiger, mitleidvoller Anarchist. Zu jenen, die bei Böll Zuflucht suchten, gehörten auch die aus ihrer Heimat ausgewiesenen Kopelews, Raissa und Lew Kopelew aus Moskau. Mit seinem mächtigen Kopf und dem langen weißen Bart sah Lew aus wie ein Nachfahre Tolstois. Wie seine Frau plagte ihn das "Herzasthma des Exils", der "Entwurzelung", der "nervöse Schrecken der Heimatlosigkeit", wie Thomas Mann einst die erzwungene Emigration beschrieben hat. Lew Kopelew, den ukrainischen Juden und Offizier der Roten Armee, hatten Stalins Leute während der Besetzung Ostpreußens verhaftet und wegen "Mitleids mit dem Feind", also mit uns, den Deutschen, sieben Jahre lang in ein Straflager gesperrt. Mein Mann, politischer Häftling unter Hitler und später unter Ulbricht, auch er aus der DDR geflüchtet, und ich fanden in der Kölner Wohnküche der Kopelews Wahlverwandte.

Heimat kann zur Fremde werden

Als die Wende kam, machte ich eine völlig unerwartete Erfahrung: Heimat kann zur Fremde werden. Im März 1990 packte ich meine Koffer, um nach vierzig Jahren erstmals wieder dahin zurückzukehren, wo ich hergekommen war. Verklärte die Wiedersehensfreude Meer und Strand? Scharen von Möwen tummelten sich am Ostseeufer mit Haffenten und Schwänen auf dem mit Tang durchsetzten Muschelstreifen. Am Strand zwischen Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin entlangschlendernd, fühlte ich mich zurückversetzt in mein Kindheitsparadies.

Nein, die Landschaft war es nicht, die mich verstörte. Sie war so schön wie eh und je. Aber sogleich bei diesem ersten Wiedersehen und auch in den folgenden Jahren traf ich auf Landsleute, die mich zweifeln ließen, ob ich noch in diese Inselwelt gehörte. An der Entfremdung trugen beide Seiten Schuld: ich, die aus der DDR geflüchtet war, und Menschen, die dort geblieben waren.

Es hat jahrelang gedauert, bis ich begriff, dass die Lebensart in zwei verschiedenen, die Menschen prägenden Welten die Gemeinsamkeiten der Herkunft überlagern können. Ohne Rücksicht auf die durch die Wende entstandenen Unsicherheiten und Empfindlichkeiten begann ich, mich noch während meines ersten Aufenthalts ins politische Leben einzumischen. Die Volkskammerwahlen standen vor der Tür. Von Sozialdemokraten dazu aufgefordert, erklärte ich, die einstige Jungmädelführerin, mich sogleich bereit, auf dem Ahlbecker Konzertplatz eine Wahlrede zu halten. Doch was ich sagte, meine Landsleute verzogen keine Miene: "Wegger is dat? Wat will dei hier?", flüsterten sie einander zu. "Sturköppe", murmelte ich und sehnte mich nach Köln zurück ­ um von dort aus, eine typische Besser-Wessi, sofort meine Inselaktivitäten mit Eingaben an den Albecker Gemeinderat fortzusetzen.

Sei es nicht an der Zeit, die aus unserem Ort vertriebene jüdische Familie aus Israel in ihre Heimat einzuladen? Abgelehnt. Wäre es nicht an der Zeit, an ihrem früheren Wohnhaus eine Gedenktafel anzubringen? Abgelehnt. So geht es bis heute weiter. Was ich oder andere für mich vorschlagen ­ der Gemeinderat sagt Nein. Ich, die Eingeborene, bin jetzt eine "Ringeschniete" und zähle zu den Wessis, von denen man sich nichts sagen und nichts vorschlagen lassen möchte. Ich, die von der schweren Zeit in der DDR doch keine Ahnung habe, solle mich ob meiner politischen Vergangenheit als Hitler-Mädel jetzt lieber still verhalten. Meine Erfahrungen lassen mich an die Äußerungen meiner Kollegin Margret Boveri denken, die nach 1945 schrieb: Es ist nun einmal so, dass die Emigranten "nicht eigentlich von dem wissen, was im Gewissen, in der Seele, im Alltagsleben derjenigen vorgegangen ist, die geblieben sind", und umgekehrt die Gebliebenen nichts von den Veränderungen erfahren konnten, die sich in den Flüchtlingen vollzogen, "und deshalb wird ganz allgemein und wohl auch unbewusst die Ausflucht des höflichen Ignorierens gewählt".

All dessen ungeachtet besitze ich inzwischen ein Ferienhaus in einem Dorf am Achterwasser. Dort lebe ich im Sommer und bin glücklich. Im Nachbardorf wohnt Bruder Martin, der Pastor und mein bester Freund. Keiner der Dorfbewohner lässt mich spüren, dass ich nicht dazugehöre. Und dennoch bleibt ein Rest von Fremdheit, herrührend aus unterschiedlichen Erfahrungen und daraus entstandenen Wertvorstellungen. Auf Usedom trifft man noch Menschen, denen die alten preußischen Tugenden Ordnung, Sauberkeit und Fleiß viel bedeuten. Ich setze ihnen Werte wie Toleranz, Zivilcourage und Solidarität entgegen.

Kann man unter diesen Bedingungen Heimat gewinnen?

Globalisierung und Automatisierung verpflichten zu dauernder Mobilität, zu Wechsel von Wohnorten und Berufen, um nicht arbeitslos zu werden. Doch was ist, wenn der Mann eine Beschäftigung in Lübeck und die Frau in Berlin, der Sohn in Ludwigsburg gefunden hat? Kann man unter diesen Bedingungen Heimat gewinnen? Eine Heimat, in der man Wurzeln schlägt, für die man Verantwortung empfindet und ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit? Die alte Infrastruktur für unseren Heimatbegriff, so fürchte ich, gibt es bald nicht mehr.

Die Heimat der Zukunft wird für viele die Heimatlosigkeit sein. Was mag man ihr entgegensetzen können? Vielleicht lauten die wichtigsten Fragen in Zukunft: Wie leben wir in der Fremde? Wie können wir in der Fremde Heimat finden?

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