Sechs Jahre nach der orangenen Revolution ist die Aufbruchstimmung der Depression gewichen. Trotzdem faszinierend, diese Ukraine!
07.10.2010

Schade, dass sie weg sind. Vergangenen Sommer haben uns die Kastanien vor den Fenstern unserer Pfarrwohnung mitten im Stadtzentrum noch erfreut. Gerne hätten wir sie wieder blühen sehen. Doch sie mussten weichen - einem Hotelneubau. Ist die Wirtschaftskrise in der Ukraine etwa schon vorbei? Unsere Gemeindeglieder berichten oft von ihrem schweren Alltag. Alte Menschen, die es nur selten zu den Gottesdiensten in der Deutschen-Evangelisch-Lutherischen Gemeinde St. Katharina schaffen, erzählen, dass sie oft sonntags arbeiten müssen, um ihre 600 bis 800 Griwna Rente aufzubessern und den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Von den umgerechnet 60 bis 80 Euro können sie gerade so die Kommunalgebühren begleichen.

Andererseits habe ich noch in keiner Stadt so viele teure Autos gesehen wie hier. Weniger Betuchte nehmen die Metro und die Sammeltaxis, sogenannte Marschrutkas. Gehen wir durch die Stadt, fallen uns die gut gekleideten Damen und Herren auf, die Reichen und Superreichen. Aber eben auch die Bettler an den Häuserecken und in den Straßenunterführungen, die sich auffällig oft bekreuzigen. Sie sind unübersehbar, obwohl sie sich selbst zurückhalten. Friedrich, unser ältester Sohn, legte einer alten Bettlerin einmal zwei Griwna (umgerechnet 20 Cent! ) in ihr Gefäß. Sie bedankte sich überschwänglich und wollte das Geld erst annehmen, als Charis, meine Frau, erklärt hatte, wer dieser Elfjährige ist. Sie segnete ihn und wünschte ihm für sein Fortkommen in der Schule alles Gute.

Geschichte mit Unterbrechung

Unsere Gemeinde in Kiew hat eine lange Geschichte. Im August 1767 hielt zum ersten Mal ein deutscher Pfarrer in Kiew einen lutherischen Gottesdienst für einige deutsche Einwohner - und zwar in der ersten bürgerlichen Apotheke der Stadt, jetzt ein schönes Apothekenmuseum in einem der ältesten Bezirke, im Podol. Der spätere Schwiegersohn des deutschen Apothekers gründete die Gemeinde. 1857 wurde das steinerne Kirchgebäude fertiggestellt, in dem wir heute noch unsere Gottesdienste feiern. 1938, während der Zeit des Sowjetkommunismus, konfiszierte der Staat das Gebäude. Erst im Jahre 1989 konstituierten sich die "Sowjetdeutschen" in Kiew aufs Neue und beschlossen, ihre Traditionen wiedererstehen zu lassen.

Es dauerte dann gut zehn Jahre, bis unsere Gemeinde nach langem und zähem Ringen die Kirche zur Nutzung zurückbekam. Mit großer Unterstützung der Bayerischen Landeskirche, der Partnerkirche der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine, ist das Gebäude wunderschön restauriert worden und bietet heute über 300 Gemeindegliedern ein Zuhause. Und zwar wirklich ein Zuhause das ist ja manchmal leicht dahergesagt. Hier stimmt das Bild, die Menschen betonen das auch immer wieder. Sie sind dankbar für die Gemeinschaft und die Hilfe aus der Gemeinde. Die Bitte für die Kranken in unseren Abendgebeten ist den Menschen wichtig. Mit voller Überzeugung riefen wir uns Ostern an der Kirchentür zu: "Christos woskres! " - Christus ist auferstanden!

Kinder sprechen schon Russisch

Ostersonntag war ich in Bila Zerkwa, einem Ort rund 85 Kilometer südwestlich von Kiew. Im früheren Wohnzimmer einer Haushälfte, die uns dort zur Verfügung steht, drängte sich die kleine Gemeinde zur Osterfeier mit Abendmahl; die Kinder hatten Lieder und Gedichte vorbereitet. Das kleine Häuschen gehört der Gemeinde seit über einem Jahr. Doch noch immer sind nicht alle administrativen Hürden der Eigentumsüberschreibung genommen. Ein Behördenmitarbeiter will für seine Unterschrift 500 Griwna von der Gemeinde, habe ich gehört. Korruption ist in der Ukraine nicht selten.

In Shitomir, rund 140 Kilometer westlich von Kiew, bin ich auch oft zu Besuch. Die Gemeinde dort ist in der alten lutherischen Kirche nur Gast, die Baptisten haben das Gebäude zur Nutzung übertragen bekommen. Die Fahrt zu den Außengemeinden ist jedes Mal eine Herausforderung. Nach dem Winter ist die Straße überall von Schlaglöchern übersät. Schlaglöcher heißen auf Russisch "Jama". Um mich von diesem jammervollen Zustand zu erholen, halte ich unterwegs gerne an und lasse unseren Hund im Wald toben. Eine fremde Sprache zu lernen ist wirklich spannend. Ich konnte mein in der Schule gelerntes Russisch schon 1996 bei einem Einsatz in der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde in Grodno in Weißrussland aufbessern. Meine Frau spricht nach vielen Jahren des Kontakts zu Spätaussiedlern in Deutschland sehr gut russisch. Auch unsere Kinder sind voller Enthusiasmus dabei, in der Deutschen Schule Russisch und auch Ukrainisch zu lernen. Unsere fünfjährige Annegret erstaunte uns neulich, als wir sie aus ihrem Kinderzimmer auf Russisch mit ihrer Puppe reden hörten.

Armut und Politikverdrossenheit

Über die gemeinsame Sprache kommt man den Menschen nahe, erfährt vieles über ihr Leben, über die Probleme. Da ist die Angst vor dem Alter bei dem einen, weil doch die Kinder weit entfernt in Russland leben. Da ist die Furcht vor einer Inflation, vor der Vereinsamung. Da steht jemand vor einer dringend notwenigen Operation. Doch woher das Geld nehmen dafür? Woher das Geld für die Medikamente, die zusätzlichen Handgelder für die Ärzte? Ein Versicherungssystem gibt es nicht. Auch wenn in der Verfassung eine kostenlose Gesundheitsvorsorge festgeschrieben ist, so sieht die Realität eben anders aus.

Wie gut, wenn die Gemeinde helfen kann - mit Unterstützung insbesondere aus Deutschland und von deutschsprachigen Gemeindegliedern hier in Kiew. Nach jedem Sonntagsgottesdienst hat unsere Köchin ein Menü mit Fleisch und vielen Vitaminen vorbereitet. Körperliche Stärkung für diejenigen, die sich das sonst oft nicht leisten können. Manchmal sitzen auch andere mit am Tisch, zum Beispiel die Botschafter aus Deutschland und Finnland. Natürlich ist auch bei uns nicht alles nur von geschwisterlicher Liebe geprägt. Auch hier stoßen Menschen mit ihren Eigenheiten aufeinander. Und oftmals ist materielle Not ein Einfallstor für neidische Blicke und Bemerkungen.

Vorboten der Fußballeuropameisterschaft

Unsere Kirche steht mitten im Stadtzentrum, schräg gegenüber vom Präsidentenpalast. Keine 200 Meter ist die politische Macht von uns entfernt - und doch ist sie ganz weit weg. Das geht hier fast allen Menschen so: Von einem Interesse der politischen Führung für ihre Probleme spüren sie wenig. Wie enttäuscht sie von den Politikern sind, habe ich vor der Präsidentenwahl oft gehört. Immerhin beteiligten sich zwei Drittel der Wahlberechtigten an der ersten Wahl Mitte Januar und knapp 70 Prozent an der Stichwahl drei Wochen später. Der große Enthusiasmus aber, der hier bei der orange Revolution im Jahre 2004 herrschte, ist schon lange Vergangenheit. Die Aufbruchstimmung ist der Depression gewichen.

Ach ja, die Bäume vor dem Fenster sind zwar für ein neues Hotel abgesägt worden. Nicht weil die Wirtschaftskrise hier etwa abklingen würde, sondern weil Kiew in zwei Jahren zur Fußballeuropameisterschaft viele Gäste erwartet. Aber natürlich ist Kiew auch schon jetzt eine Reise wert. Wir haben in dem knappen Jahr, seit wir hier sind, einiges gesehen. Die Kinder hat das Höhlenkloster besonders beeindruckt, eine Ansammlung von Kirch- und Klosterbauten im ukrainischen Barock über mittelalterlichen Einsiedlerhöhlen. Aus der Schule in Deutschland war ihnen schon das Goldene Tor von Kiew aus dem Klavierzyklus "Bilder einer Ausstellung" von Modest Mussorgski ein Begriff - einer Komposition zu Bildern eines russischen Architekten. Auch die fünfschiffige Sophienkathedrale mit ihren alten Mosaiken und Fresken hat uns sehr fasziniert. 1000 Jahre Geschichte sind da spürbar. Einfach wunderbar
 

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