Um das Gemeindeleben in Obertürkheim war es ziemlich still geworden. Bis ein Experiment, das gar keines sein sollte, zeigte: Wenn jemand was zu sagen hat, hören die Leute zu. Seitdem sind Talk-Gottesdienste zum Markenzeichen geworden
Tim Wegner
07.10.2010

In Obertürkheim läuft man immer ein bisschen Gefahr, verhaftet zu werden. Vom Pfarrer. Kurz vor Beginn der Kinderkirche geht Ralf Vogel an diesem Sonntagmorgen durch die Stuhlreihen. Plötzlich bleibt er vor einem blonden Mädchen stehen, zeigt mit dem Finger auf sie und ruft: "Maria! Du bist meine Maria!" Der Pfarrer braucht noch eine Darstellerin für den Kindergottesdienst. Aber diesmal hat der schlaksige Mann mit den wachen Augen und der hohen Stirn keinen Erfolg. Das Mädchen möchte lieber zuschauen.

Andere Menschen hat Pfarrer Vogel erfolgreich "verhaftet". Nicht nur für die Kinderkirche, sondern vor allem für die Kür der schwäbischen Kirchengemeinde, die "Nachtschicht". Den DDR-Bürgerrechtler Rainer Eppelmann zum Beispiel. Oder Marcelo Bordon, früher Abwehrchef beim VfB Stuttgart, heute bei Schalke 04. Statt eine Predigt zu halten, hat Pfarrer Vogel sie befragt, Eppelmann zur Feindesliebe, den frommen Kicker Bordon zu seinem Glauben.

Diese Talk-Gottesdienste haben Obertürkheim seit sieben Jahren weit über seine Grenzen hinaus bekannt gemacht. Der Stuttgarter Ortsteil hat etwas mehr als 8000 Einwohner, rund 1500 von ihnen gehören zur evangelischen Kirchengemeinde. An Sonntagen wirkt der Ort, der sich an die Weinberge im Neckartal schmiegt, richtig verschlafen. Dann hat man Mühe, ein Lokal zu finden, das geöffnet hat. Wer etwas erleben will, fährt ein paar Stationen mit der S-Bahn nach Stuttgart. Denkt man.

"Kirchenerlebnis der ganz besonderen Art"

Aber an vier Sonntagen zu Jahresbeginn, im Januar, Februar und März, kommen viele Stuttgarter nach Obertürkheim. Dann ist dort "Nachtschicht" ­ ein abendlicher Gottesdienst anstelle einer morgendlichen Feier. Solch ein Programm das ganze Jahr über aufrechtzuerhalten, gehe nicht, sagt Vogel. Dafür seien die Organisation, die Auswahl der Themen und die Anfragen für die Talkgäste zu aufwendig.

Die "Nachtschicht" soll ein "Kirchenerlebnis der ganz besonderen Art" sein. So steht es in dem bunten, von einer Werbeagentur entworfenen Flyer. Die Idee: Die Gottesdienstbesucher lernen teils prominente, teils eher unbekannte Menschen kennen, die für ein Thema stehen ­ Hauptsache glaubwürdig. "Es gibt Kraft für den eigenen Weg, wenn man Menschen kennenlernt, die ihren Weg gefunden haben", sagt der Pfarrer. Er beschreibt ein sehr niedrigschwelliges Angebot, Volkskirche ohne große Ansprüche an persönliche Frömmigkeit ­ aber auch ohne überdurchschnittlich starke Kerngemeinde, ohne ausgedehnten Mitarbeiterstab wie in anderen Profilgemeinden. Die "Nachtschicht"-Staffeln machen die Kirchengemeinde eher zur Quartals-Profilgemeinde.

Begonnen hatte alles mit einem Zufallstreffer. 1999 war das, ins Pfarramt der evangelischen Kirchengemeinde war erst im Jahr zuvor ein neues Ehepaar gezogen, das sich die Pfarrstelle teilt: Cornelia Krause und Ralf Vogel. Sie organisierten einen Gedenkgottesdienst zum 100. Geburtstag Gustav Heinemanns. Mit Helmut Simon als Gast, dem Heinemannkenner und ehemaligen Verfassungsrichter.

Statt Predigt ein Gespräch mit einem Zeitzeugen. Simon redete öffentlich mit Pfarrer Vogel über den ehemaligen Bundespräsidenten und Querdenker. Einige Besucher waren zu Tränen gerührt, berichtet Vogel. Die Veranstaltung war nicht als Test gedacht. Aber allen war klar, dass sie ein Anfang sein musste.

Zu wenig Nachwuchs, zu alt, zu wenig Inspiration

Anfänge gab es viele, als Cornelia Krause und Ralf Vogel, heute beide 44, nach Obertürkheim kamen, auch in der Kinder- und Jugendarbeit. Ulrich Schlumberger ist seit 17 Jahren Vorsitzender des Kirchengemeinderates. Später in der "Nachtschicht" wird er laut und beherzt mitsingen, über das Vergangene spricht er leise und vorsichtig.

"Über 50 Jahre lang hatten wir nur Pfarrer, die hier in den Ruhestand gegangen sind", erzählt Schlumberger. Nicht nur das habe lange Zeit mutige Innovationen verhindert. Vieles hänge mit Obertürkheims Lage zusammen. Weinberge und Neckar umschließen den Ort, er könne nicht mehr wachsen. Für junge Familien gebe es zu wenig Wohnraum, sie zögen weg. Die Statistik gibt ihm recht. Der Anteil der Obertürkheimer über 65 nimmt zu. "Unsere Kirchengemeinde war stark überaltert. Es kamen immer dieselben zum Gottesdienst. Wenn es mal 30 waren, war das schon gut."

So richtig mag niemand diese Beschreibung in deutliche Worte übersetzen, man muss sich seinen Reim darauf machen: Zu wenig Nachwuchs, zu alt, zu wenig Inspiration - ­ so muss es Ende der Neunziger gewesen sein. Das Einzige, was richtig gut lief, war die Kirchenmusik. Die Krise war für das Pfarrerspaar eine Chance. "Wir brauchten hier null Energie für Streit", sagt Vogel. Aber umso mehr Energie für den Job.

Immer wieder betont der Pfarrer, dass sich die Gemeinde nicht nur mit der "Nachtschicht" profilieren möchte. Kinderkirche, Jugendarbeit, die Kinderbibeltage in den Herbstferien, Konzertgottesdienste ­ all das soll mehr als reine Pflichterfüllung sein.

"Guten Tag, haben Sie im Alltag Stress?"

Es sind nur noch neun Stunden bis zur ersten "Nachtschicht" der 2007er-Staffel, aber die Kinderkirche soll trotzdem nicht ausfallen. Vogel räumt die Bühne im Luthersaal für ein kurzes Einspiel frei. Zuvor hat er schon die Stühle so zurechgerückt, dass sie drei Zuschauerreihen für die Kinder ergeben. Dann hilft er noch, ein paar Tische aufzubauen, an denen später gebastelt werden soll. Er packt selbst mit an, und wenn man ihn dabei beobachtet, merkt man: Der kann nicht anders.

So viel Tatkraft hat andere angesteckt. Mit den Jahren hat Vogel viele Jugendliche fürs Ehrenamt begeistert, in den vergangenen Jahren dürften es so an die 40 gewesen sein. An diesem Morgen kümmern sich acht von derzeit elf Betreuern um die 15 Kinder, die zum Gottesdienst gekommen sind, eine sehr gute Quote.

Julian Kiedaisch, 19, ist einer der engagierten Jugendlichen. In Jeans und blauer Trainingsjacke gestaltet er selbstbewusst die Kinderkirche, obwohl er fast die ganze Nacht über bei McDonald's gejobbt hat. Warum er den Stress auf sich nimmt? "Es war der Ralf", sagt er nur und meint Pfarrer Vogel. Immer mehr Konfirmanden wollten mitarbeiten, berichtet Julian Kiedaisch.

Verjüngen wird sich der feste Stamm Ehrenamtlicher deshalb nicht. Pfarrer Vogel macht sich nichts vor: "Alle, die wir hier haben, sind nach dem Abitur weg." Auch darum lag es nahe, etwas zu etablieren, was von Dauer ist, nicht dem Wandel unterworfen: die "Nachtschicht".

Als nach der Kinderkirche die letzte Fingerfarbe von den Tischen gewischt ist, kann man sich noch nicht vorstellen, dass am selben Tag ein richtiger Besucherstrom auf die Andreaskirche zukommen wird.

Kurz nach 18 Uhr, geht es los. Die jugendlichen Ehrenamtler der Gemeinde haben sich Overalls in grellen Farben angezogen. Jetzt stehen sie im Vorraum der Kirche und sprechen die hereinströmenden Gäste an. "Guten Tag, haben Sie im Alltag Stress?" Eine Blitzumfrage.

"Schneller! Von der Wiege bis zum Grab ­ ohne zu leben"

Das Thema der diesjährigen "Nachtschicht"-Serie heißt "Schneller! Von der Wiege bis zum Grab ­ ohne zu leben". Es geht um die Zeit. Jede Stimme der Nicht-Gestressten landet als grüner Post-it-Zettel an einer Pinnwand. Orangefarbene Zettel stehen für Gäste, die ihren Stress zugeben. Schnell wachsen zwei Balken heran. An den erstaunten Blicken einiger offenbar neuer Gäste sieht man: So viel direkte Ansprache erwarten sie nicht, wenn sie in die Kirche gehen.

Als die Glocken um 19 Uhr zu läuten beginnen, geht das fast unter im lauten Gemurmel der "Nachtschicht"-Besucher und im Gepolter der Stühle, die noch eilig in den Kirchraum geholt werden müssen. Die Bänke in der schlichten Kirche sind längst besetzt, über 400 Menschen sind gekommen, bei den ersten "Nachtschicht"-Gottesdiensten waren sie in Obertürkheim froh, wenn über hundert kamen. Der Zulauf hat sich in sieben Jahren vervierfacht.

Pfarrer Vogel eröffnet die "Nachtschicht" im Jackett, ohne Talar, aber "im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes". Fast alles wie sonst auch im Gottesdienst. Doch bevor der Psalm verlesen wird, stellt Pfarrer Vogel seinen Gast vor, den Schweizer Meditationslehrer und Theologen Peter Wild. "Begrüßen Sie mit mir unseren Gast aus der Schweiz, Peter Wild!", fordert Vogel die Kirchgänger auf, es klingt frisch, fröhlich, wie von einem Unterhaltungs-Profi. Lauter Applaus. Der Altarraum als Showbühne. Plötzlich schwingt ein bisschen was von Gottschalk und Jauch mit in der Kirche.

Er genießt es sichtlich, den Talkmaster zu geben

Die "Nachtschicht" lebt vom Talent, das Ralf Vogel mitbringt. Und von seinem Einsatz. Einige Stunden vor ihrem Auftritt sitzen Vogel und sein Schweizer Gast im Pfarrhaus beim Kaffee. "Wie geht es Ihnen?", fragt Peter Wild den Pfarrer. Der Gastgeber erklärt, dass er seit Wochen einen Infekt mit sich herumschleppe, aber wegen der Vorbereitungen habe er einfach keine Zeit, krank zu werden. "Das Adrenalin lässt keine Krankheit hochkommen."

Während der "Nachtschicht" hat Vogel seine Aufregung sehr gut im Griff, das Adrenalin ist quasi in den kleinen, grünen Ordner gepresst, den er bei sich trägt. Darin ist der Ablauf des Gottesdienstes auf Karteikarten festgehalten. Diese Struktur lässt ihm Raum, sich auf das Gespräch im Altarraum zu konzentrieren, das die Predigt ersetzt. Er genießt es sichtlich, den Talkmaster zu geben, die Brücke zwischen den Zuschauern und seinem Gast zu sein, für seine Gottesdienstbesucher zu sprechen. Dann spielt er den "Hektiker", der stellvertretend für alle wissen will, wie das mit der inneren Ruhe geht, "wenn wir uns in eine Aufgabe verbissen haben". Zu diesen Worten ballt er die Faust.

Mit seinem Gast hat er einen Glücksgriff getan. Peter Wild, ein kleiner, gedrungener Mann, strahlt mit seinem Schweizer Dialekt eine Ruhe aus, die zum Zuhören zwingt. "Wenn Sie richtig gestresst sind ", erzählt er, "dann stehen Sie mal vom Schreibtisch auf, gehen Sie zum Fenster und sehen Sie sich die Menschen da draußen an, die gar nicht wissen, was Sie da machen." Kunstpause. "Und Sie merken: Sie können das, was Sie immer tun, auch einfach mal lassen." Wieder erfüllt lauter Applaus die Kirche, durchmischt mit dem befreiten Lachen der Zuhörer. Es klingt, als fühlten sie sich verstanden. Ralf Vogel steht da und strahlt.

Letztlich hängt doch alles an ihm, dem Pfarrer mit Showtalent. Was wäre, wenn Vogel mal länger krank würde? Oder wenn er irgendwann einmal die Gemeinde verließe? Der Pfarrer antwortet schnell. "Das ist das Kritischste bei der ,Nachtschicht'. Diese Geschichte ist mit mir verbunden." Das Obertürkheimer Modell steht und fällt, bei aller Unterstützung durch die insgesamt etwa 100 Ehrenamtlichen der Gemeinde, mit Ralf Vogel. Leicht nachzumachen ist das nicht.

"Gäbe es überall eine ,Nachtschicht', würde sich das totlaufen."

Zumal Obertürkheim auch von der eheinternen Arbeitsteilung profitiert. Cornelia Krause kümmert sich beispielsweise um seelsorgerliche Aufgaben und um Konzertgottesdienste, ihr Mann organisiert die "Nachtschicht", die Kinderkirche und vieles im Haushalt mit den beiden Kindern. "Es macht vielleicht den Eindruck, mein Mann stünde vorne an, aber zwei Drittel der Gemeindearbeit mache ich", sagt sie. Für einen Pfarrer allein wäre ein Projekt wie das in Obertürkheim nicht zu schaffen.

Auf dem blauen Ablaufplan, den die Gottesdienstbesucher zusammen mit einem Gesangbuch an ihren Platz genommen haben, ist auch eine Entspannungsübung mit Meditationslehrer Peter Wild vorgesehen. Er fordert die Kirchgänger auf, im Sitzen die Schultern hochzuziehen, "bis es wehtut". Danach sollen sie die Schultern wieder senken und sich entspannen. "Dann können Sie sich in Zukunft erinnern, wie gut es tut, sich die Spannung den Buckel herunterrutschen zu lassen." Beim ersten Durchgang folgen viele Gäste dieser Aufforderung noch zögerlich. Den Sitznachbarn signalisiert man so ja immerhin: "Es geht mir wie euch, ich weiß, wovon der Mann da vorn spricht, ich bin auch oft angespannt." Aber dann: Schultern hoch, Schultern runter, 400-fach, es sieht aus, als rolle eine Welle durch die Kirchenbänke.

Ralf Vogel hat durch eine Befragung vor drei Jahren herausgefunden, dass nur ein Drittel der "Nachtschicht"-Besucher aus Obertürkheim kommt, der Rest reist aus anderen Stadtteilen Stuttgarts an. Deshalb liegt der Termin auch am Sonntagabend. Die Veranstaltung soll niemanden davon abhalten, den Gottesdienst in der eigenen Gemeinde zu besuchen.

Eine besondere Zielgruppe hat Vogel nicht im Blick. "Ich will mit der ,Nachtschicht' jedermann ansprechen ­ Junge, Alte, Evangelische, Katholische, Integrierte und Ausgetretene", sagt er. Das scheint auch zu gelingen. Eine bunt gemischte Gemeinde hat sich versammelt, um die "Nachtschicht" zu erleben.

Ruft so viel Strahlkraft Neid in anderen Gemeinden hervor? Nicht wirklich. Pfarrer Reinhard Mayr aus dem Nachbarort Untertürkheim sagt zumindest, er freue sich über das Angebot seines Kollegen, kopieren müsse er es deshalb nicht: "Ich bin sehr froh, dass es das dort gibt, weil es mich entlastet. Gäbe es überall eine ,Nachtschicht', würde sich das totlaufen."

"Viel Arbeit für wenig Ehr."

Pfarrer Vogel sieht die Sache ebenfalls pragmatisch. Er empfehle seinen Gemeindemitgliedern ja auch Veranstaltungen in anderen Kirchen. "Vielleicht ist das eines der größten Probleme in unserer Landeskirche. Dass man nicht einfach mal sagt: 'Hey, geht doch auch mal woandershin!', gibt er dann doch zu bedenken.

Sorgt Ralf Vogel mit seiner "Nachtschicht" für so etwas wie Gemeindeaufbau? Über die Frage, wie viele Ehrenamtliche sich in Reaktion auf die "Nachtschicht" aktiv im Gemeindeleben engagieren, muss Vogel eine Weile nachdenken, die Reihe läuft ja schon seit Jahren. Dann kommt er drauf: Eigentlich habe er so erst einen für die Mitarbeit in der Gemeinde gewinnen können. Man könne auch sagen: "Viel Arbeit für wenig Ehr." Auch der Vorsitzende des Kirchengemeinderates, Ulrich Schlumberger, macht sich keine Illusionen: "An normalen Sonntagmorgen müssen wir uns weiterhin über 30 Besucher freuen."

Noch ist die "Nachtschicht" nicht zu Ende. Viele Menschen sind geblieben, obwohl das letzte Lied schon längst verklungen ist. Ein lautes Gemurmel erfüllt die Kirche, häufig ist lautes Lachen zu hören. Es ist eine Gemeinde, die da entstanden ist und die sich nun austauscht. Wenn auch nur für einen Abend.

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