Der Mann aus der Zeitung
07.10.2010

Sie dachte jeden Sommer an ihn, seit sieben Jahren. Es fing meistens im Juni an, und es hörte erst im August auf, manchmal sogar im September, je nachdem, wie lange es warm blieb. Sie dachte an seine kurzen, dunklen Haare, an den unangenehmen, erregenden Geschmack seines Kusses an ihrem einzigen gemeinsamen Morgen damals, an die kleinen Falten in seinen Mundwinkeln und unter seinen Augen, wenn er lächelte. Vielleicht, dachte sie, als sie jetzt ins "Adria" hereinkam und sich an den hintersten Tisch setzte, würde sie ihn zuerst auf die Mundwinkel küssen und dann unter die Augen, und dann würde er ihr sagen, dass sie nicht älter geworden sei, dass sie noch besser aussehe als damals. Und sie würde ihm dasselbe sagen, und sie wüssten beide, dass es nicht stimmte.

Sie hatte das Foto mitgenommen - zur Sicherheit. Sie brauchte es nicht, aber sie hatte ein besseres Gefühl, wenn es in ihrer Handtasche war. Es war das einzige Foto, das sie von ihm hatte. An dem Tag, an dem es gemacht wurde, waren sie zu zweit in Agaton gewesen, er musste für seine Mädchen neue Badeanzüge kaufen, sie brauchte wie immer Geschenke für die schrecklichen Nachbarn, die zu Hause auf die Wohnung aufpassten. Seine Frau wollte nicht mit, und ihr Mann hasste Einkäufe. Also fuhren Nicolas und Gisèle allein in die Stadt. Sie begleiteten einander geduldig in die Geschäfte, sie tranken auf dem Platz hinter der Basilika Granatapfellimonade unter dem weißen Sonnenschirm mit der Philip-Morris-Reklame, und als ein Straßenfotograf mit seiner Polaroidkamera kam, die wie eine Ziehharmonika aussah, ließen sie sich von ihm fotografieren. Später rissen sie das Bild in der Mitte durch, sie behielt die Hälfte, auf der er zu sehen war, er die andere, und vielleicht hatte er ihr Foto heute auch eingesteckt.

Es war nicht leicht gewesen, ihn wiederzufinden. Zuerst hatte sie die Idee, im Hotel anzurufen und zu fragen, ob sie noch seine Adresse hatten, aber je länger sie darüber nachdachte, desto weniger traute sie sich. Dann überlegte sie, ob sie nicht bei einer dieser Fernsehshows anrufen sollte, in denen Leute wie er und sie zusammengebracht wurden. Am Ende gab sie eine Anzeige auf. Sie wusste sofort, was sie schreiben wollte: "Agaton Beach, Ostern vor sieben Jahren: Du spieltest gut und oft Tennis, warst in Begleitung deiner Frau und deiner Töchter, ich reiste mit meinem Ehemann. Wenn du frei bist, würde ich dich gern wiedersehen. Kennwort: Hotelname." Nachdem die Anzeige erschienen war, las sie sie immer wieder durch, es gefiel ihr, was sie geschrieben hatte. Am besten fand sie: "Kennwort: Hotelname."

Als er jetzt in der Tür des Cafés auftauchte, zögerte sie. Er stand im Gegenlicht, die Sonne schien von außen weiß und grell ins "Adria" hinein, und sein von der Straße abgewandtes Gesicht verschwamm in einem fast abendlichen Zwielicht. Sie hatte ihn anders in Erinnerung gehabt, aber am Ende erkannte sie ihn trotzdem. Vielleicht war es die Art, wie er in der Tür stehen blieb und sich umschaute, vielleicht war es sein Gang. Er ging durchs Café direkt auf sie zu, klopfte auf den Tisch und sagte: "Darf ich?"

Komisch, diese Stimme hatte sie noch nie vorher gehört.

"Was ist weiß und mag Reis?", sagte sie. Er sah sie erstaunt an. Er konnte sich also nicht erinnern.

Sie kicherte. "Nicht die Frau des Thais", sagte sie langsam, "sondern seine Geliebte! " Jetzt lachte er auch. Er lachte, und in seinen Mundwinkeln war keine einzige Falte. Sie legte die Hand auf seine Hand und fuhr mit dem Daumen über die Haare auf seinem Handrücken. Ja, genau, dachte sie erleichtert, genau, genau, genau ...

"Ich habe ein miserables Gedächtnis", sagte er.

"Ich weiß", sagte sie. "Wie unser Hotel hieß, wusstest du auch nicht mehr."

"Du bist überhaupt nicht älter geworden." "Nein?", sagte sie. Sie wollte streng klingen, und es gelang ihr sogar ein wenig. "Aber schöner, nicht wahr?"

Er nickte. "Woher wusstest du, dass ich das sagen wollte?", sagte er.

Sie tranken beide einen Espresso und rauchten.

"Hast du angefangen zu rauchen?", sagte sie.

"Nein", sagte er. Aber dann sagte er: "Doch, doch ... ja."

Sie überlegte, während sie schwiegen, ob sie ihn nach seiner Frau und seinen Töchtern fragen sollte. Besser nicht, dachte sie, aber dann fragte sie ihn doch, und er sagte schnell und wie auswendig gelernt: "Da ist alles o. k., wir haben keine Probleme."

Als der Kellner kam und fragte, ob sie noch etwas wollten, sagte sie ja. Er antwortete nicht. Sie trank noch einen Espresso, und dann noch einen. Später trank sie noch einen Grappa, obwohl sie sonst nie Grappa trank.

Dann ging sie auf die Toilette. Dort nahm sie das Bild aus ihrer Handtasche und sah es an. Sie saß auf der Toilette und sah das Bild von Nicolas an, dem schönen, klugen, hysterischen Nicolas, der damals alles wollte, und sie wollte auch alles, aber sie traute sich nicht, und dann machte er ihr eine Szene, als sei er die Frau und sie der Mann, und darum wollte sie ihn nie wiedersehen. Sie sah das Bild von Nicolas an, und sie wusste, dass der Mann da draußen an ihrem Tisch nicht Nicolas war.

"Du hast dich aber sehr verändert", sagte sie, als sie zurückkam, und sie betonte das Du.

"Ja?" - "Ja."

"Es ist schon so lange her", sagte er, "die Zeit frisst unser Leben."

Komisch, so was Ähnliches hatte ihr Mann früher auch oft gesagt. Sie mochte das nicht. Sie mochte es nicht, wenn Leute immer nur hinter sich den Tag sahen und vor sich die Nacht. Darum hatte sie ihn am Ende rausgeworfen. Nicht nur darum, aber darum auch. Sie hatte ihm gesagt, er solle gehen, und als er sie vor Schreck so dumm angeschaut hatte, schaute sie dumm und erschrocken zurück, und dann sagte sie, es täte ihr leid, aber sie könne ihre Entscheidung jetzt nicht mehr zurücknehmen. Es würde ganz einfach sein, wenn sie wollte. Sie müsste den Fremden an ihrem Tisch bloß nach seinem Namen fragen, und dann käme alles raus. Aber sie nahm wieder seine Hand, sie strich wieder über seinen Handrücken, dann drehte er die Hand um, und ihre Handflächen berührten sich, zwei warme, weiche Handflächen.

Sie zahlten - jeder für sich -, standen unsicher auf und gingen raus. Draußen war es herbstlich kühl, und die Sonne war weiß und scharf wie im Winter. Sie gingen schweigend die wenigen Schritte zu ihrem Haus. Sie schloss die Haustür auf, und er folgte ihr, ein bisschen zu dicht, wie sie fand. Im Fahrstuhl küsste er sie. Es war ein guter Kuss, aber zu lang, und sie mussten noch mal runterfahren, weil ein Nachbar den Fahrstuhl gerufen hatte. Sie fuhren zu dritt wieder rauf, jeder sah in eine andere Richtung.

In der Wohnung wollte er sie wieder küssen, aber sie riss sich von ihm los und ging in die Küche. Auf dem Tisch stand wie immer die große Obstschale, gefüllt mit Apfelsinen, Äpfeln und Pfirsichen. Sie nahm einen Teller und ein Obstmesser, legte eine Apfelsine auf den Teller und schälte sie. Als sie fertig war, rief sie: "Möchtest du Obst, Nicolas?" Aber er antwortete nicht. Sie ging ins Wohnzimmer, doch dort war er nicht. Er war auch nicht im Bad oder auf der Toilette. Sie fand ihn im Schlafzimmer, wo er auf dem Boden saß und in einem Kunstbuch blätterte. Neben ihm lag ein Stapel anderer Bücher, die er aus den Regalen herausgezogen hatte, und sie erkannte dazwischen auch den dunkelroten Einband ihres Tagebuchs, das sie normalerweise im Nachttisch aufbewahrte. Er sah sie streng an und blätterte weiter.

Sie ging wieder ins Wohnzimmer, und während sie die Orange aß, schaute sie aus dem Fenster. Die Sonne war nicht mehr so grell, und Minuten später verschwand sie ganz, und der Himmel wurde zuerst milchig und dann eisgrau. Es wird trotzdem nicht regnen, dachte sie.

Plötzlich stand er in der Wohnzimmertür. Er hatte kein Hemd mehr an und keine Hose, und in der Hand hielt er das Obstmesser. Es wird trotzdem nicht regnen, dachte sie noch einmal, und dann sagte sie: "Was ist rot und kennt Not?"

"Ich will eine Apfelsine", sagte er. "Schälst du sie mir?"

Er verschwand und kam mit der ganzen Obstschale wieder, die er auf den gläsernen Couchtisch knallte. In der Glasplatte tauchten sofort mehrere lange, dünne Risse auf. Sie fuhr mit dem Finger langsam an ihnen entlang, sagte aber nichts, nahm dann eine Apfelsine aus der Obstschale und streckte ihm die Hand entgegen. Er legte das Messer mit der Klinge in ihre Hand, und zwar so, dass sie die kleinen, scharfen Zähne der Klinge spürte. Sie sagte laut "Aua! ", worauf er laut lachte, und sie musste auch lachen, und sie küssten sich. Er streichelte ihre Oberarme und ihren Nacken mit der Klinge des Messers, dann legte er es schnell weg, auf eine Art, die ihr nicht gefiel. Er knöpfte ihr Kleid auf, und als er sah, was sie darunter trug, sagte er: "Zieh dir etwas anderes an, du bist doch keine Nutte."

Nachdem sie sich umgezogen hatte, sah sie sich noch einmal das Foto von Nicolas an. Sie saß im Schlafzimmer auf dem Bett und guckte es an, und plötzlich hatte sie überhaupt keine Sehnsucht nach ihm. Sieben Jahre hatte er ihr jeden Sommer gefehlt, sieben Jahre dachte sie jeden Sommer, mit ihm würde alles anders werden. Und nun sah sie, während sie zum letzten Mal sein Bild betrachtete, dass alles nur ein Hirngespinst war. Sogar der weiße Sonnenschirm mit der Philip-Morris-Reklame über ihm bedeutete ihr nun nichts mehr.

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