Ein spontanes Feierabendbier ist nicht drin, wenn die besten Freunde weit weg wohnen, aber wenn sie dann da sind...
Tim Wegner
07.10.2010

Sie wollte nur den Schlüssel aus der Schublade holen. Ein stechender Schmerz im Rücken, zum Arzt geschlichen, Diagnose: Bandscheibenvorfall. Neu in der Stadt, neu im Job, jetzt das. Wasserflaschen kaufen? Fehlanzeige. Staubsaugen? Unmöglich. Das fühlt sich nicht nach Aufbruch an, eher wie aus dem Nest geplumpst.

Wen um Hilfe bitten?

Wen um Hilfe bitten? Bei Natalie in der Nachbarstadt hatte sie sich schon zu lange nicht gemeldet, es war so aufregend gewesen in letzter Zeit. Simone hatte schon genug geholfen. Saskia kann nicht kommen, zu weit, zu beschäftigt; dafür Beistand am Telefon, scheiße, du tust mir so leid, bestimmt geht's bald besser. Die neuen Kollegen? Sind furchtbar nett, aber da will man auch nicht gleich fragen, könntest du vielleicht mein Bett frisch beziehen?

Vor allem die Jungen, Gutausgebildeten zwischen 20 und 40 sind, was die Globalisierung verlangt: mobil, flexibel, spontan. Eltern und Geschwister leben woanders, auf die Liebe ist kein Verlass, aber hoffentlich auf die Freunde: Sie sind da, wenn es einem schlechtgeht, geben Halt und Sicherheit, eine innere Heimat. Nur - es wird immer schwieriger, welche zu finden, wenn man alle paar Jahre umzieht.

Freunde bedeuten den Deutschen mehr als Familie

Den Deutschen bedeuten sie mehr als Familie, Kinder und Partnerschaft. 89 von 100 brauchen, nach einer Umfrage der Stiftung für Zukunftsfragen, Freunde, um sich glücklich und zufrieden zu fühlen. Nur Gesundheit ist ihnen wichtiger. Schön, wenn jemand sich kümmert, einfach so. Weil er will, nicht weil er muss. Jemand, dem wir vertrauen, auf den wir uns verlassen und mit dem wir lachen können. Der uns morgens um fünf zum Flughafen fährt. Den wir jederzeit anrufen können, wenn wir uns mit dem Liebsten gestritten oder dieses irre Jobangebot bekommen haben.

Im Schnitt haben die Deutschen drei Freunde. Klingt nicht viel. Silke, Saskia, Simone. Wenn nach jedem Wegzug nur ein Freund bliebe, wären das nach zwei Studentenstädten, fünf Praktikumsstationen und einem Auslandsaufenthalt schon acht. Realistisch? Manche haben 25 Freunde und sagen, sie hätten Kapazität für mehr. So viel Aufmerksamkeit kann doch kein Mensch ausschütten; da muss man fast den Job aufgeben, um sich um alle kümmern zu können.

Freunde sind lebenswichtig

Das ist vielleicht auch ein Luxusproblem, immerhin sagen 17 Prozent der Deutschen, sie hätten keine engen Freunde, und 30 Prozent geben an, sie fühlten sich häufig oder manchmal einsam. Das geht nicht nur auf die Psyche: Menschen, die sich allein fühlen, haben ein höheres Risiko für Herzprobleme und ein schwächeres Immunsystem, fanden amerikanische Wissenschaftler heraus. Freunde sind lebenswichtig.

Warum zieht man trotzdem immer weiter? Ist doch besser, sich spontan auf ein Feierabendbier oder einen Ausflug zu treffen; rüberlaufen zu können, wenn Axel anruft und sagt, kannst du kommen, meine Oma ist gestorben. Allein: Vierzig Jahre im selben Unternehmen - Karrieren einer anderen Generation, als Lebensläufe noch vorhersehbar waren. "Heute ist die Freiheit groß, aber oft bestimmt von der Angst, den Anschluss und dann die Arbeit zu verlieren", sagt Heiner Keupp, Münchner Professor für Sozial- und Gemeindepsychologie. Man darf nicht an der Heimat kleben, Personalchefs stehen auf Sprachkenntnisse, Zeugnisse und Weltgewandtheit.

2006 zogen in Deutschland über eine Million Menschen in ein anderes Bundesland und 155 000 Deutsche gingen ins Ausland, sieben Prozent mehr als im Vorjahr. Karin, die zum Studieren nach Kuba zog; Silke, die in England ihren Traumjob fand; Thilo, der für drei Jahre eine Stelle in Portugal hat. Wie Artisten müssen sie die Balance finden, neue Freundschaften zu schließen und alte zu pflegen, hängen oft bis halb eins nachts am Telefon. Und dann haben sie noch nicht Opa angerufen oder Muttern oder sich nach ihrem Patenkind erkundigt.

Eine Seele in zwei Körpern

Es klang federleicht: "Freundschaft, das ist eine Seele in zwei Körpern", sagte Aristoteles. Heute sind es zwei Körper, und sie befinden sich auf zwei Kontinenten. Funktioniert das überhaupt - Freunde halten, wenn das Leben eine Durchreise ist? "Freundschaften zerbrechen nicht automatisch, wenn einer wegzieht. Man geht nicht verloren - aber es ist auch nötig, immer wieder neue Beziehungen aufzubauen", sagt Heiner Keupp. Freundschaften pflegen bedeutet ausgefeilte Terminplanung, die wichtigsten Hilfsmittel sind Kalender und Adressbuch. Und man muss Geld ausgeben wollen, 150 Euro für den Flug zur Freundin nach London, 250 Euro für Hotel und Zugfahrt zur Hochzeit am Nord-Ostsee-Kanal undsoweiter. Und man muss sich mit seinem schlechten Gewissen arrangieren - schon wieder Nico und Tanja nicht zurückgerufen; schon wieder den Geburtstag von Flo vergessen. Das Gute ist: Die vergessen auch. Man lernt, nachsichtig miteinander zu sein.

Mit Telefon und E-Mail kann man ein paar Monate bis zum Wiedersehen überbrücken. Macht nichts, wenn es nur ein kurzes ist: Du, ich bin am Dienstag in der Stadt, Lust auf einen Kaffee? Klar, wer weiß, wann wir es das nächste Mal schaffen. Wenigstens eines ist sicher: Derjenige, der viele Jahre und Ortswechsel aushält, ist ein wahrer Freund. Wenn man den trifft, fühlt es sich wohlig warm an, die alten Gags, derselbe Geruch, als wär' keine Zeit vergangen. Sogar in der ICE-Lounge am Hauptbahnhof.

Stabil sind meist Jugendfreunde

"Ein guter Freund, eine gute Freundin aus Kinder- oder Jugendtagen ist oft die stabilste Beziehung, die man haben kann", sagt Keupp. Die über die Jahre dazukommen, können nicht alle bleiben. Wenn man nur ein, zwei Jahre hat, sich anzufreunden, reicht es manchmal schlicht nicht weiter: Mit Katja verbindet einen nur der Sport. Vorbei, weil sie von Kiel nach Berlin zieht. Mit Julian lässt sich prima erzählen, aber nie am Telefon, das kann er nicht. Nun ist er seit kurzem in San Francisco und schreibt nur noch E-Mails "an alle". Plötzlich ist man einer von 83 Leuten im Verteiler. Man erfährt viel Gutes: das Wetter! Das sprudelnde Leben! Die Leute! Und nicht, dass er dort nur die Firma kennt und den Park, in dem er joggt, und seit fünf Abenden allein im Café saß.

Armer Julian. Vielleicht sind ja doch ein paar Nette in seinem Büro. Wer viel arbeitet, wird mangels Zeit sowieso eher im Kollegenkreis Anschluss finden. Andere treten einem Chor bei oder einem Fußballverein, sprechen Leute an in einer Bar oder inserieren in Internetforen: "Ich bin noch ziemlich neu in Köln. (...) Jetzt suche ich noch ein paar nette Leute für gemeinsame Unternehmungen und Erlebnisse ..., und um hoffentlich eine gute Freundschaft aufzubauen", schreibt etwa die 24-jährige "nekni82" in single-kontaktanzeigen.org. Aber so könne man eine Bekanntschaft nur anbahnen, sagt Heiner Keupp, "wachsende Freundschaften müssen gelebt werden von Auge zu Auge".

Anfangs sondiert man nach Sympathie, und beide müssen dieses fragile Spiel beherrschen, aufeinander zuzugehen und sich in Ruhe zu lassen. Man verabredet sich. Essen gehen oder Kino. Man redet und erzählt, trifft sich noch mal. Und noch mal. Und nach einer Weile, man hat es gar nicht bewusst mitbekommen, ist plötzlich klar: Das ist ja ein Freund geworden.

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