Der Morgen am Meer. Der Lebensmut von Hildegard von Bingen
Dirk von Nayhauß
07.10.2010

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

In der Nacht unterm Sternenhimmel, wenn es still wird und ich eine unglaubliche Weite spüre. Oder morgens am Meer, wenn das Wasser noch glatt ist und die Sonne aufgeht. Schwimme ich in diesem Morgenlicht, in dieser Stille, ohne Wellen, ohne Wind - das sind Momente, in denen ich richtig glücklich bin, auf der Welt zu sein. Dann habe ich das Gefühl, ich gehe in etwas auf, ich bin Teil von etwas. Man hat ja eine Sehnsucht nach der Harmonie und dem Nicht-mehr-auf-sich-selber-Blicken. Oft genug ist man unglücklich und fragt sich: Warum muss ich weiterleben? Warum bin ich überhaupt geboren? Vergänglich und vergeblich, das war bei mir schon immer als Gefühl stark beieinander. Ich war ein fröhliches Kind, aber dann kam plötzlich so eine schwere Wolke, die sich auf mich legte. Trotzdem habe ich dagegen angelebt, ich habe gekämpft. Und früh am Morgen, im Meer schwimmend, ist dieses dunkle Grundgefühl weg. Die Morgenstimmung ist ja immer mit Hoffnung verbunden; dieses sanfte Morgenlicht, wo der Tag noch ein Versprechen ist, da fühle ich mich glücklich.

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Viel, sehr viel. Vor allem Neugierde, denn das ist doch das Wichtigste, dass man sie nie aufgibt. Auch die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen. Mein Sohn ist erwachsen. Was er mir heute noch beibringt, ist die Geduld, und die Vernünftigkeit. Er sieht die Dinge oft viel gelassener als ich, ich bin jemand, der losstürzt und sich in Gefahr begibt. Da hat er mich oftmals schon zurückgehalten.

An welchen Gott glauben Sie?

Wenn Menschen krank sind, die ich liebe, stelle ich in einer Kirche Kerzen auf und bete für sie über das Kerzenlicht zu Gott. Man sehnt sich ja nach jemandem, der einen beschützt, gerade Kindern wünscht man einen Schutzengel an die Seite. Ich glaube tatsächlich, dass es Schutzengel gibt. Ich habe zu oft gemerkt, dass ich an etwas gehindert worden bin, das mich absolut ins Unglück gestürzt hätte. An Hildegard von Bingen fasziniert mich, wie sie es geschafft hat, ihre Stimme zu erheben in einer Zeit, in der es Nonnen nicht gestattet war, sich öffentlich zu äußern. Sie war sehr mutig. Aber sie hat auch Momente der Schwäche, und gerade das finde ich interessant.

Hat das Leben einen Sinn?

Momentweise - wie der Morgen am Meer. Ich bin froh, solche Momente erleben zu können. Und das kann ich nur, weil meine Mutter nicht die Möglichkeit hatte, mich abzutreiben. Ich habe abgetrieben, und heute frage ich mich oft, ob das richtig war.

Damals habe ich gedacht: Es ist richtig. Wir glaubten, es finanziell nicht zu schaffen, aber wir haben uns was vorgemacht, bei armen Menschen kommen auch Kinder auf die Welt. Heute sage ich mir: Es war falsch. Wenn ich dran denke, dass man mich das alles nicht hätte erleben lassen, was ich erlebt habe, das wäre ein Verlust.

Muss man den Tod fürchten?

Ich versuche, mich vorzubereiten. Kann ich in der Nacht nicht schlafen, stelle ich mir oft vor: So, jetzt kommt der Tod. Er tritt wie auf mittelalterlichen Bildern mit seiner Sense ins Zimmer und sagt: "Jetzt bist du dran." Wie würde ich reagieren? Ich hoffe, dass ich damit einverstanden wäre. Auf jeden Fall möchte ich dem Tod bewusst begegnen. Viele sagen: "Am liebsten in der Nacht und mit Herzinfarkt. Oder ein Unfall und gar nichts spüren." Aber dieser Moment des Übergangs ist das Letzte, was man im Leben erleben kann, und das will ich mir nicht entgehen lassen.

Welche Liebe macht Sie glücklich?

Meine Mutter und mein Sohn sind die einzigen Menschen, die ich wirklich geliebt habe. Zwischen meiner Mutter und mir war eine tiefe Liebe. Obwohl wir so arm waren, dass sie mir ein Gefühl der Geborgenheit eigentlich gar nicht geben konnte. Und dann war Krieg, die Eltern hatten doch selber alle Angst. Damals entstand eine Schutzlosigkeit, die ich immer noch empfinde. Aber ich war mir der Liebe meiner Mutter absolut gewiss. Heute ist die tiefste Liebe die zu meinem Sohn. Dass ich das so empfinden kann und er auch, darüber bin ich sehr froh. Ich lebe heute allein. In meinem Leben gab es vier wichtige Männer, mit denen bin ich freundschaftlich verbunden, und in einer gewissen Weise besteht noch eine Art Liebe, aber es ist nicht so, dass sie mich täglich beschäftigen. An meinen Sohn denke ich dagegen täglich.

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