Deutschstunde im Wohnzimmer, Religion beim Großvater. Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, verstoßen gegen die Schulpflicht
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Hinter dem großen Wohnzimmerfenster treibt der Wind Nieselregen über die Felder. Ein riesiger Damm, die Autobahnauffahrt zur Sauerlandlinie, Lüdenscheid-Mitte, versperrt den Blick auf den grauen, öden Winterhorizont. Endlose Reihen von LKW rollen vorbei, man hört sie nicht.

Diesseits des Fensters, zwischen Vitrinenschrank und Kachelofen, sitzen Stephanie Edel, ihre neunjährige Tochter Laura und drei befreundete Kinder am Wohnzimmertisch. Vor ihnen liegen aufgeschlagene Schreibhefte. Es ist Freitagvormittag, neun Uhr. Andere Kinder sitzen um diese Zeit in der Schule. Auch diese Kinder müssen lernen, nur eben daheim im Wohnzimmer von Familie Edel. Lauras Mutter fordert die Kinder auf, einen argumentativen Brief zu verfassen.

Deutschunterricht zwischen Suppenterrinen und Kinderspielzeug. Um Punkt Viertel vor acht hatte die Hausschule mit Religion begonnen, beim Großvater, einem pensionierten Pfarrer mit weißem Rauschebart. Auf den Deutschunterricht werden zwei Stunden Kunst folgen. Und dann, gegen Mittag, essen alle Kinder nebenan in der Küche eine Hühnersuppe, die Lauras Mutter am Vorabend zubereitet hat.

Seit fünf Jahren unterrichtet die Familie Edel ihre Kinder selbst, statt sie zur Schule zu schicken. Freitags kommen Kinder von befreundeten Familien hinzu, donnerstags bringen die Edels ihre Kinder zu einer der beiden anderen Heimschulfamilien in Lüdenscheid.

Mit ihrem Hausunterricht verstoßen die Edels gegen geltendes Recht in Deutschland. Um der Schulpflicht Genüge zu tun, müssen Kinder eine staatlich anerkannte Schule besuchen. Die Edels wollen auch anerkannt werden ­ als Hausschuleltern.

Aus Sicht der Schulbehörde und des Landes Nordrhein-Westfalen sind die Edels Schulverweigerer. Sie tun im Prinzip das Gleiche wie jene streng religiösen Paderborner Russlanddeutschen, die unlängst damit Schlagzeilen machten, dass sie ihre Kinder von der Schule nahmen, weil sie sie von Sexualkunde, Evolutionslehre und gemischt geschlechtlichem Sport fern halten wollten. Damit diese Kinder nicht nur die fundamentalistische Parallelgesellschaft kennen lernen, setzen Land und Schulbehörde alles daran, die Kinder doch in die Schule zu bekommen.

Bei ihnen liege der Fall anders, sagen Stephanie und Jan Edel. Die beiden, 37 und 40 Jahre alt, sind ebenfalls Christen, aktive Mitglieder der westfälischen Landeskirche. Abgeschottet vom Rest der Gesellschaft leben sie aber ganz gewiss nicht. Ihre Kinder gehen nachmittags ins Schwimmbad wie andere Kinder auch, sie haben Internetzugang und machen Ausflüge mit anderen Mädchen und Jungen. Die Edels nehmen keinen Anstoß an Fächern und Inhalten wie Sexualkunde, Evolutionslehre oder Sport. Sie sind unzufrieden mit der Schule, weil sie den Unterricht für nicht kindgerecht halten und weil den Kindern der Spaß am Lernen zu schnell vergehe. Sie wollen, dass Kinder verschiedenen Alters miteinander und voneinander lernen. Im Hausunterricht würden ihre Kinder besser gefördert und könnten sich besser entfalten als auf der Schule ­ zumindest während der Grundschulzeit, sagen die Edels. Ihr Ältester, Philemon, besucht nach einigen Jahren Hausunterricht nun das staatliche Gymnasium.

Die Edels meinen auch: Philemons Erfolg auf dem Gymnasium zeige, dass ihr eigener Unterricht dem der Grundschule in nichts nachstehe. In Naturwissenschaften und Englisch bringt Philemon Einsen und Zweien mit nach Hause, und in Deutsch liegt er immerhinzwischen Zwei und Drei. "Auch bei mir war Philemon im Deutschunterricht kein Überflieger."

Ob das soziale Leben der Kinder leide, wenn sie nicht in die Schule gehen? Nein, sagt die Mutter. Philemon habe es an Freundschaften nie gemangelt. Selbst wenn er das Leben in einer regulären Schulklasse erst auf dem Gymnasium kennen gelernt hat, sei er nie ein Außenseiter gewesen, und er sei es auch jetzt nicht. Kürzlich hat Philemon eine Liste von Klassenkameraden erstellt, die ihn zu Hause besuchen wollen. Schriftlich, damit er den Überblick behält.

Brigitte Bunselmeier-Lohr ist Schulrätin im Märkischen Kreis, zuständig für Grund- und Hauptschulen. Sie will nicht über die Familie Edel reden, sie will ihre Äußerungen nur generell verstanden wissen. "Jede Vorsortierung von Lebenswirklichkeit aus dem örtlichen Zusammenleben heraus schafft schon eine Parallelgesellschaft", sagt sie. "In der Grundschule sind alle Kinder aus einem nur räumlich begrenzten Umfeld beisammen. Da trifft man Leute, die man freiwillig vielleicht nicht treffen würde. Und diese Erfahrungswelt brauchen Kinder, um soziale Fähigkeiten wie Toleranz zu lernen."

Was ein Argument sei, will Edel von den Kindern am Wohnzimmertisch wissen. Die Kinder kommen nicht darauf. "Wenn ich etwas behaupte und dann jemand anderem einen guten Grund dafür sagen muss, dass es auch wirklich so ist", erklärt Stephanie Edel. Die Kinder notieren, in welcher Reihenfolge man einen argumentativen Brief schreibt: Adresse, Ort und Datum, Anrede, Hinführung zum Thema, Behauptung und Begründung, Schlusssatz und Grußformel mit Namen. Nun sollen zwei von ihnen in Stillarbeit Argumente dafür suchen, dass Fernsehen gut für Kinder sei, die anderen sollen Argumente dagegen suchen.

Die fünf Minuten Stillarbeit nutzt die Mutter, um bei Karlina nach dem Rechten zu sehen. Karlina ist das dritte Kind der Edels. Sie wird erst im Sommer schulpflichtig. Daheim nimmt sie seit anderthalb Jahren am Schulunterricht teil. Im Hausunterricht fangen Kinder an zu lernen, wenn sie so weit sind, nicht wenn der Einschulungstermin es für sie vorsieht, erklärt Stephanie Edel. Heute hat Karlina Windpocken und bleibt im Bett.

Wie Stephanie und Jan Edel darauf kamen, ihre Kinder selbst zu unterrichten? "Es hat sich so ergeben", sagt sie. Ihr Vater sei Neurologie- und Psychiatrieprofessor, ihre Mutter promovierte Psychologin. In ihrem Elternhaus habe immer die Frage im Raum gestanden: "Was braucht der Mensch, um seelische Gesundheit zu haben?" Als Jugendliche hat sie in den USA das Homeschooling kennen gelernt. Dann bekam sie vier Kinder in Abständen von anderthalb bis zwei Jahren. "Ich wollte die Kinder nicht in den Kindergarten geben", sagt sie. "Wir hätten ein zweites Auto kaufen müssen, um sie dann in einen mittelmäßigen Kindergarten zu bringen. Vor dem PISA-Schock war das Bewusstsein für vorschulisches Lernen noch gar nicht da." Als der Älteste, Philemon, vier war, begann sie mit dem Vorschulunterricht. Laura lernte bald mit.

Im Spätherbst 2000 war Stephanie Edel mit Philemon zur Schulanmeldung gegangen. Die Schulleiterin erkundigte sich danach, wie der Junge die Schule erreichen würde, die Busverbindung sei sehr schlecht. Da rückte Stephanie Edel mit der Wahrheit heraus: Sie wolle den Jungen gar nicht in die Schule geben. Sie unterrichte ihn lieber selbst zu Hause. Die Schulleiterin habe verständnisvoll reagiert, erinnert sich Stephanie Edel. Sie habe darauf gedrängt, dass sich Stephanie Edel um eine offizielle Regelung kümmern müsse, erinnert sich die Schulleiterin.

Die Edels bemühten sich um eine offizielle Regelung, vergebens. Sie versuchten eine Privatschule zu gründen. Sieben Elternpaare aus Lüdenscheid wollten sich beteiligen. Die Edels haben den Raum dafür, ein großes Haus und eine Scheune. Doch den Beitrag für die Vorfinanzierung für drei Jahre, die der Schule eine Kontinuität über den Tag hinaus garantieren soll, konnte keines der Elternpaare aufbringen. Als dann noch von einer Klassenstärke von mehr als 24 Schülern die Rede war, entschieden die Eltern, diesen Weg nicht mehr weiter zu verfolgen. "So große Klassen können unsere Kinder auch an der Regelschule haben." So, erzählt Stephanie Edel, sei es dann zu dem Konzept mit dem Hausschulunterricht gekommen. Und sie fährt fort: "Wir wollen jahrgangsübergreifenden Unterricht in Kleingruppen. Die Kinder lernen ja auch voneinander, wenn die siebenjährige Karlina mit dem vierjährigen Janis Buchstaben knetet."

Philemon erschien nach dem Ende der Sommerferien 2001 nicht in der Schule. Die Schultüte und den Ranzen hatte er da längst bekommen, er ging ja daheim schon in den Unterricht. Der damalige Schulamtsleiter, Siegfried Kruse, schaltete sich in den Fall ein. Er hatte kurz zuvor mit russlanddeutschen Schulverweigerern in Meschede zu tun gehabt. "Hausschuleltern verweigern den Kindern die Kindheit und das Beste", lautet seine Überzeugung. Er wisse aus eigener Lebenserfahrung, wie eng das Korsett religiöser Indoktrination sein könne, sagt er heute.

Die Edels gründeten eine ­ nicht religiöse ­ Elterninitiative und stellten ihr Privatschulkonzept der Bezirksregierung vor. Sogenannte Nichtschülerprüfungen sollten den Kindern später anerkannte Schulabschlüsse sicherstellen ­ staatliche Prüfungen für deutsche Diplomatenkinder nach einem Auslandsaufenthalt.

Das Konzept wurde abgelehnt, aber Stephanie Edel unterrichtete ihre Kinder weiter zu Hause. Die Grundschulleiterin schickte Mahnungen, Mitarbeiter vom Ordnungsamt standen vor der Tür. Die Schulbehörde schickte einen Bußgeldbescheid. Die Edels legten Widerspruch ein, zahlten dann doch. Beim zweiten Mal setzte ein Richter das Bußgeld herab. Seine Begründung: Die Ordnungswidrigkeit könne sich eines Tages im Zuge einer europäischen Angleichung erledigen. Kein anderes EU-Land verbietet Hausunterricht so ausschließlich wie Deutschland. Andere kennen wenigstens Ausnahmeregelungen.

Zusammen mit ihrer Elterninitiative haben die Edels eine Petition im nordrhein-westfälischen Landtag eingereicht. In diesem Sommer will die schwarz-gelbe Landesregierung das Schulgesetz novellieren. Unter anderem sollen die Schulämter die Schulverweigerung konsequenter und schärfer ahnden. Ob die Lüdenscheider Initiative mit ihrem Begehren für die Hausschule durchkommt oder nicht, wird auch davon abhängen, was der Gesetzgeber langfristig unter Schulverweigerung versteht. Hausschüler wie die der Familie Edel seien ja nicht Schulverweigerer im eigentlichen Sinn, habe der Vorsitzende bei der Petitionsanhörung einleitend gesagt.

Die Hausschulkinder sitzen inzwischen mit ihrer Suche nach Argumenten für und gegen das Fernsehen allein im Wohnzimmer. Stephanie Edel ist oben bei ihrer kranken Tochter. Laura tuschelt Gioia gute Gründe für das Fernsehen zu. "Man kann beim Fernsehen Englisch lernen. Es gibt auch Tierfilme. Auch christliche Filme. Man kann es sich gemütlich machen." ­ "Und man muss sich nicht anstrengen", fällt Gioia ein.

Als Stephanie Edel von der kranken Karlina zurückkehrt, tragen Grace und Joel abwechselnd ihre Argumente, die sie jeder für sich auf ihre Zettel geschrieben haben. "Gegen das Fernsehen sprechen die grellen Bilder", sagt Grace. "Und die dummen Filme", sagt Joel, "die Kinder denken, es ist Wirklichkeit." ­ "Kinder spielen keine kreativen Spiele mehr und haben keine Ideen." ­ "Die Kinder gucken Kriegsfilme und werden brutal." ­ "Ständig kommt Werbung dazwischen."

Viele Eltern sind es nicht, die der Schule in Deutschland so wenig zutrauen, dass sie ihre Kinder selbst unterrichten möchten. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. Das Magazin "Focus-Schule" spekuliert, es könnte bis zu 3000 Hausschulkinder geben. Von 320 weiß Helmut Stücher, Gründer der evangelikalen Heimschulbewegung Philadelphia und Herausgeber von Unterrichtsmaterial für Hausschuleltern. Stücher konstatiert aber ein reges Interesse von weiteren Eltern, und er vermutet, dass die Zahl der Hausschulen sprunghaft steigen werde, sollten sie eines Tages in begründeten Ausnahmefällen erlaubt sein. Die Entwicklung in Frankreich spreche dafür. Dort sind 20 000 Hausschüler amtlich registriert, Tendenz steigend. Meist trauen die französischen Hausschuleltern den staatlichen Grundschulen nicht zu, dass sie ihren Kindern die Basiskenntnisse Lesen, Rechnen und Schreiben wirklich beibringen.

Langfristig müssen die Bundesländer möglicherweise Ausnahmeregelungen für den Hausuntericht zulassen. Ein Osnabrücker Elternpaar klagt vor dem Europäischen Gerichtshof um das Recht, seinem Sohn daheim Einzelförderung zukommen zu lassen. Es ist nur eines von fünf Verfahren. Sollte der Gerichtshof den Eltern in diesem Fall Recht geben, könnte sich das auf andere Verfahren auswirken. Das Verwaltungsgericht Hannover hat im November 2005 einen ähnlich gelagerten Rechtsstreit zwischen der Landesschulbehörde und einem Hausschulelternpaar ausgesetzt. Begründung: das laufende Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof.

Die meisten bekannten Hausschuleltern sind in der Tat evangelikal bis fundamentalistisch eingestellt. Offenbar wächst aber die Zahl derer, die ihre Unzufriedenheit mit der Regelschule zum Anlass nehmen, über Hausunterricht nachzudenken. So nahm eine Mutter im mittelfränkischen Pleinfeld ihren Sohn von der Schule, weil er von Mitschülern regelmäßig verprügelt worden sei und eine Schulphobie entwickelt habe. Zu Hause, so die Mutter, blühe der Junge auf und habe seine einst bescheinigte Lese-Rechtschreib-Schwäche überwunden. Andere Eltern meinen, sie könnten ihre begabten Kinder zu Hause besser fördern. Wieder andere sagen, die Schule schade der Charakterbildung.

Schulrätin Bunselmeier-Lohr mag diese Begründungen nicht akzeptieren. Die allgemeine Schulpflicht sei eine soziale Errungenschaft, erklärt sie. Und: "Es gibt tausend Gründe, das Schulsystem zu verbessern. Kein System der Welt ist perfekt. Ich bin offen für alle Anregungen. Aber den gleichen Maßstab muss man auch an den Heimunterricht legen. Welche Qualifikation haben denn dort die Unterrichtenden? Diese Frage hat mir noch keiner beantwortet."

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