Warum Europäer den frommen Kontinent missverstehen
30.11.2010

"Ich war eine verlorene Seele", bekomme ich oft zu hören, wenn ich konservative amerikanische Christen interviewe. "Ich habe ein verkehrtes Leben geführt. Dann habe ich Jesus entdeckt und erfahren, wer ich wirklich bin und woran ich wirklich glaube." Im Laufe meiner Studien zu den moralischen Werten Amerikas habe ich auch homosexuelle Amerikaner interviewt. "Ich war eine verlorene Seele", sagten sie dann. "Ich habe ein verkehrtes Leben geführt bis zu meinem Coming-out als Schwuler, bis ich entdeckte, wer ich wirklich war und wie ich leben sollte."

"Ich war eine verlorene Seele"

In Amerika kann man kulturell kaum weiter voneinander entfernt sein, als es Schwule und konservative Christen sind. Sagen die einen, die Religiösen seien intolerant und hasserfüllt, betonen die anderen, Homosexualität sei eine Sünde. Würde beiden bewusst, dass sie exakt die gleiche Sprache des amerikanischen Individualismus und der Selbstfindung sprechen und dass sie beide erheblich durch die gemeinsame amerikanische Kultur geprägt sind ­ vielleicht würden sie dann besser verstehen, wie und auf welch vielfältige und faszinierende Weise amerikanische Kultur und Religion einander beeinflussen.

Zwei Vorstellungen von den Vereinigten Staaten bestimmen oft die Art, wie Amerikaner im Ausland wahrgenommen werden. Einerseits gelten Amerikaner als Vorhut der Moderne. Alles Neue, vom Einkaufszentrum bis zum Sprit schluckenden Familienvan, stammt aus Amerika, bevor es sich in der übrigen Welt ausbreitet. Amerikaner gelten als Menschen, die nichts auf sich beruhen lassen. Sie müssen immer Neues erfinden und ausprobieren und dabei Traditionelles und Bewährtes vernichten.

Andererseits gelten die Vereinigten Staaten, vor allem in der Zeit des Präsidenten George W. Bush, als die religiöseste aller westlichen freiheitlichen Demokratien. Dabei unterstellt man den religiösen Gruppen, dass sie sich der Moderne und dem Fortschritt entgegenstellen. Denn offensichtlich verwerfen doch viele religiöse Gruppen Darwins Evolutionslehre, sie wettern gegen Sünde und Verdammnis und wollen, dass ihre Frauen zu Hause bleiben und ihre Kinder ihnen aufs Wort gehorchen. Solche Weltverbesserer wollen sich eher rückwärts als vorwärts bewegen ­ so das gängige Vorurteil.

Ausgesprochen religiös, aber auch modern und offen

Theoretisch können beide Bilder nicht gleichzeitig wahr sein. Seit den Anfängen der Soziologie mit dem deutschen Gelehrten Ferdinand Tönnies (1855-­1936) unterscheiden Soziologen zwischen "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" als zwei konkurrierenden Weisen des Zusammenlebens. Die eher traditionelle Gemeinschaft, so Tönnies, habe einen übergeordneten Zweck, mit dem sich der Einzelne identifiziere ­ also etwa eine religiöse Gemeinschaft. In der eher modernen Gesellschaft hingegen müsse der Einzelne als Individuum seinen Platz erkämpfen. Doch vielleicht liegt die Theorie hier falsch. Moderne und Tradition, feste religiöse Einbindung und extremer Individualismus bestehen nebeneinander. Die Gesellschaft der Vereinigten Staaten ist sehr wohl ausgesprochen religiös, vor allem im Vergleich zu Deutschland. Aber sie ist gleichzeitig auch modern und offen.

Nehmen wir die Megakirchen, jene riesigen und trotzdem gastfreundlichen Gebetshäuser in den Exurbs, den neuen Ortschaften außerhalb der Stadtgrenzen von Memphis oder Denver. In diesen Megakirchen gibt es keine Orgel. Die Musik stammt von der Rockband und die Texte zu den zahlreichen Lobliedern erstrahlen durch Powerpoint-Präsentationen auf riesigen Leinwänden. Der Prediger, der mehr von Psychologie als von Theologie versteht, hält eine erhebende Predigt, in der er Jesu Liebe betont. Er wird keine donnernde Mahnpredigt im Stile des puritanischen Erweckungspredigers Jonathan Edwards (1703­-1758) halten. Man wird so von der Wärme und Freundlichkeit des Ortes eingenommen, dass man beim Betreten der Kirche wahrscheinlich nicht einmal das Fehlen eines Kreuzes bemerkt. Megakirchen wollen alles Abstoßende vermeiden.

Amerikaner wechseln ihre Konfession sehr oft. Da kann man es einem Presbyterianer schon mal nachsehen, wenn er nicht weiß, dass der Calvinismus, der auch seine Konfession prägt, der amerikanischen Ideologie des Selbstvertrauens geradezu ins Gesicht springt. Der Pastor einer Kirche außerhalb von Cincinnati fasste einmal seine Botschaft so zusammen: "Liebe, Liebe, Liebe, Liebe, Wahrheit." Kirchliche Dogmen spielen eine relativ geringe Rolle bei der Rückkehr des Religiösen.

Evangelikalen Protestanten wird oft eine traditionelle Lebensführung zugeschrieben, dennoch ist fast nichts traditionell an ihnen. Evangelikale bezeichnen sich selbst als wiedergeboren. Wer traditionell lebt, akzeptiert die Lebensart seiner Eltern und fühlt sich verpflichtet, diese unverändert an seine Kinder weiterzureichen. Genau dies tun Evangelikale nicht. Sie schätzen die Authentizität im Glauben mehr als die Tradition. Sie meinen: Wenn die Eltern oder sie selbst im früheren Leben an das Falsche glaubten, dann müssten sie nur wieder ganz von vorne anfangen, indem sie eine Wiedergeburt in Christus erfahren. Kein Wunder also, dass immer neue evangelikale Bewegungen entstehen und dass es so viele evangelikale Kirchen ohne jegliche konfessionelle Bindung gibt. Wie Präsident Bush, der den etablierten episkopalen Glauben seines Vaters zugunsten seines evangelikalen Glaubens hinter sich ließ, so sind konservative Protestanten Suchende nach spiritueller Erneuerung, nicht Erben der Vergangenheit.

Amerikaner werden so oft als fleißige Kirchgänger beschrieben, dass man erstaunt ist festzustellen, wie viele von ihnen auf den sonntäglichen Kirchgang verzichten ­ nicht weil sie Atheisten sind, sondern weil sie zu Hause beten. Wie Eltern, die ihre Kinder an öffentlichen Schulen abmelden, um sie daheim zu unterrichten, so organisieren sich Heimkirchler in kleinen Gruppen, um die Bibel zu lesen und deren Lehren im Alltag umzusetzen. Ihr Argument: Jesus hatte auch keine Kirche. Wer ihnen daraufhin vorhält, Jesus habe auch keinen Computer gehabt, wird jedoch auf Unverständnis stoßen: Internetverbindungen und Webseiten treten bei den Heimkirchlern an die Stelle von Kirchbank und Kanzel. Heimkirchen sind ein kleiner Farbfleck in der politischen Landschaft Amerikas. Die Weise, wie sie alt und neu verbinden, ist charakteristisch für nahezu alle amerikanischen Gläubigen.

"Slim for Him" - schlank für Ihn

Diese Menschen beten zwar ein allmächtiges Wesen an, erbitten von ihm aber sehr weltliche Dinge: Hilfe bei einem Immobiliengeschäft, eine Beförderung, Genesung nach einer Krebsoperation. Sie konzentrieren sich allzu oft auf ihre eigenen Nöte und überlassen sich allzu selten schicksalsergeben der größeren Ehre Gottes. Vielleicht erklärt diese Kultur des Narzissmus, warum die am häufigsten verkauften Bücher in konservativen, christlichen Buchhandlungen nicht Martin Luthers Predigten oder Augustins Konfessionen sind, sondern Diätbücher und Ratgeber wie "Schlank für Ihn" (slim for Him) oder "Mehr von Ihm, weniger von mir" (more of Him, less of me). "Wenn du Gott dein Herz übergibst, wird dein Körper folgen", so formuliert es der Autor des beliebtesten christlichen Diät-Programms. In den Vereinigten Staaten kann man sich in christlichen Fitnessstudios anmelden, in denen sich die Kunden auf den Laufbändern über Gott unterhalten.

Die Evangelikalen haben entscheidend zur Wiederwahl von George W. Bush beigetragen. Im Gegenzug werden sie von ihrem Präsidenten erwarten, dass er ihre Sorgen und Wünsche ernst nimmt. Auf dem Feld der Politik fallen diese Sorgen recht konservativ aus. Evangelikale mögen weder Homosexualität noch Abtreibung. Da die Ernennung von Verfassungsrichtern in der Hand des Präsidenten liegt, werden sie bei Nachnominierungen für das Oberste Gericht, den Supreme Court, darauf drängen, nur solche Verfassungsrichter zu ernennen, welche die von den Evangelikalen verachtete "Kultur der Permissivität" eindämmen werden.

Aber der neue politische Einfluss der Evangelikalen wird nicht zu einer Wiedergeburt alter Werte, überholter Unterhaltungsformen und traditioneller Geschlechterrollen führen. Evangelikale sind zu sehr Teil der Moderne. Sie würden niemals ihrem Präsidenten oder sonst jemandem erlauben, eine Richtung einzuschlagen, die ihre Fähigkeit, Religion zur Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins zu nutzen, untergraben könnte. Ist das nun gut oder schlecht? Amerikas religiöse Menschen sind ­ wenn man von ihrer Neigung absieht, ihren Glauben an Gott hinauszuposaunen ­ wie alle anderen im Lande. Ich für meinen Teil halte das für gut. 

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