Muss man Gott fürchten?
Gottesangst ist keine Erfindung der Neuzeit
05.08.2013

Der Mann wollte reinen Tisch machen und sprach vielen aus der Seele: „Neulich war ich bei einem gruppentherapeutischen Training. Da fragte der Trainer, welche Sätze uns in unserem Leben am meisten eingeschüchtert hätten. Weißt du, was bei mir zum Vorschein kam als die mich einengende, schachmatt setzende Phrase? — Was wird der liebe Gott dazu sagen?“

Diese Sätze veröffentlichte der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser 1976 in seinem Buch „Gottesvergiftung“. Es löste eine breite Diskussion aus, Moser traf anscheinend das Gefühl vieler Menschen: „Dein Hauptkennzeichen für mich ist Erbarmungslosigkeit“, hieß eines seiner Urteile über Gott. Viele pflichteten ihm bei.

Gottesangst, wie sie Tilmann Moser beschreibt, ist keine Erfindung der Neuzeit. Seit Jahrtausenden gibt es Zeugnisse von Menschen, die sich vor Gott und dem Heiligen fürchten, über denen das unberechenbare Verhalten eines übermächtigen Gottes wie ein Damoklesschwert schwebt. Deshalb sind die Worte „Fürchtet euch nicht“ in der Bibel eine Standardformel der Engel Gottes, wenn sie mit Menschen Kontakt aufnehmen, am bekanntesten in der Weihnachtsgeschichte, als ein Engel den furchtsamen Hirten die Geburt des Heilands verkündete (Lukas 2, 10—11).

Im Mittelalter hielten eine ausgeklügelte kirchliche Höllenlehre und ein farbenprächtig entfaltetes Jüngstes Gericht die Massen in Angst und Schrecken. Auch Martin Luther fürchtete die strafende Gerechtigkeit Gottes über alle Maßen. Auch er litt, wie Moser sagen würde, an „Gottesvergiftung“. Erst nach langen inneren Kämpfen kam er zu dem Schluss: Gottes Gerechtigkeit will den Menschen befreien und nicht bedrängen. Da erst war ihm, als sei die „Pforte des Paradieses“ aufgetan worden. Luthers „Kleiner Katechismus“, sein berühmter Leitfaden der christlichen Unterweisung, beginnt die Erklärung der Zehn Gebote in jedem Abschnitt mit den Worten: „Du sollst Gott fürchten und lieben.“ Dann folgt die konkrete Erläuterung.

Heute fehlt es nicht an Versuchen, den „lieben Gott“ möglichst klein zu machen

Erst die Furcht und dann die Liebe? Diese Furcht hat nichts mit Seelenpein und Herzensangst zu tun, sondern bedeutet größtmögliche Ehrfurcht, nämlich Ehrfurcht vor dem Anderssein. Ehrfurcht, die anerkennt, dass Gott kein Abziehbild des Menschen ist, sondern etwas ganz und gar Anderes. Diese Einsicht ist auch heute Grundvoraussetzung jedes ehrlichen religiösen Bemühens auf den Spuren der Bibel: Gott ist Schöpfer und damit ein klares Gegenüber des Menschen. Dies ist ein, wenn nicht der Kerngedanke des christlichen Glaubens, ohne den sich jeder Glaube selbst aufgibt und zu einer Selbsttherapie des Menschen wird. Mag diese auch noch so inbrünstig mit religiöser Sprache oder Liturgie unterfüttert sein.

Heute fehlt es nicht an Versuchen, den „lieben Gott“ möglichst klein zu machen, ja geradezu weich zu spülen und ihn als einen Erfüllungsgehilfen menschlicher Wünsche und Projekte zu verstehen. Aber wenn Gott nur lieb ist, ist er bedeutungslos. Die Autoren der Bibel haben das immer betont. So liest man beim Propheten Jesja (Kapitel 55, 8—9): „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht Gott, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“

Ehrfurcht vor Gott zu haben, das heißt für Christen: einsichtig zu sein, dass der Mensch nicht Herr und Meister seines Lebens ist. Zu wissen, dass es keinesfalls nur bedrückend ist, wenn man an persönliche Grenzen geführt wird. Es heißt aber auch: keine Selbstüberforderung durch überzogene Normen und übertriebene Ziele. Christen setzen Zuversicht und Vertrauen auf Gott, so, wie es im Hebräerbrief des Neuen Testaments steht: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (Kapitel 11, 1).

Tilmann Moser, der Psychotherapeut, hat sich weiter mit dem Thema „Gottesvergiftung“ beschäftigt. Kürzlich veröffentlichte der Autor des Aufsehen erregenden Buches von 1976 einen neuen Band unter dem vielsagenden Titel: „Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott“ (Kreuz-Verlag). Darin schreibt er: „Ich kann nur sagen, dass ich offen bin für das Transzendente.“ Und schon einige Zeit zuvor hatte er festgestellt: „Der Bezug auf Gott wirkt wie ein Gegengift gegen Hochmut. In der ,Gottesvergiftung’ komme ich mir heute ein Stückchen hochmütig vor.“

Muss man Gott fürchten? Nicht im Sinne von „Angst haben“. Aber recht verstandene Gottesfurcht sollte nach christlichem Verständnis zum Selbstbild gerade des modernen Menschen gehören, weil er sich sonst in den Weiten seiner selbst erschaffenen Welten zu verlaufen droht.

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