Man muss nicht alle Probleme lösen, aber sich manchen Problemen stellen.
Dirk von Nayhauß
07.10.2010

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Wenn mich etwas überrascht. Für mein letztes Buch, es ging um die 68er, las ich beispielsweise die Akten des Bundeskanzleramts. Zu meinem Erstaunen zeigt sich darin der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger unerwartet verständnisvoll: Die revoltierenden Studenten benähmen sich, so sagt er seinen Beratern, nicht anders als er selber in der Endphase der Weimarer Republik, als er mit der nationalsozialistischen Studentenbewegung sympathisierte. So selbstkritisch kennt man Kiesinger nicht. Historiker sind wie Goldgräber: Sie haben es in den Archiven mit unglaublich viel Abraum zu tun, bis sie endlich auf den Kern eines historischen Vorgangs stoßen. Natürlich wollte ich mit meinem Buch provozieren. Ich wollte aufklären, und Aufklärung provoziert, weil sie liebgewonnene Legenden zerstört. Das kenne ich schon von meinen anderen Büchern. Die heftige Kritik an "Unser Kampf" verwundert mich nicht. Ich beschreibe darin neben vielem anderen auch Ähnlichkeiten zwischen der 68er-Revolte und der NS-Studentenbewegung vor 1933. Das ärgert manche meiner früheren 68er-Mitstreiter. Aber als Zeithistoriker will ich Debatten anregen. Wer ohne neue Fragen über geschichtliche Vorgänge schreibt, langweilt sich und erst recht die Leser.

An welchen Gott glauben Sie?

Die christliche Botschaft sagt, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist. Der so formulierte Gleichheitsgedanke gebietet den Respekt vor jedem Menschen. In Grenzsituationen habe ich aus dieser Haltung heraus Hilfe erfahren. Mein Vater war zehn Jahre demenzkrank. Ich habe eine schwerbehinderte Tochter. Vor allem führt der Glaube an Gott zu der humanen Einsicht, dass wir nicht alle Probleme lösen müssen, uns aber dennoch nahen Problemen nach bestem Vermögen stellen sollten.

Hat das Leben einen Sinn?

Ich habe Glück. Neben meiner behinderten Tochter, der es für ihre Möglichkeiten sehr gut geht, habe ich drei weitere Kinder: Eine Tochter ist Malerin in Dresden, bald wird sie nach Amsterdam ziehen, ein Sohn ist Arzt in Bonn, der andere Kirchenmusiker in Paris. Sie alle leben in einem friedlichen, endlich vereinigten Europa. Daran hat man als Einzelmensch wenig Verdienst, doch muss man sich das geschichtlich gesehen ungewöhnliche Glück vergegenwärtigen. Noch mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater marschierten in drei aufeinanderfolgenden Kriegen gegen Frankreich und waren überzeugt, etwas Richtiges zu tun - für sich und für Deutschland. Andere Zeiten hätten auch mich anders geprägt. Heute sind wir zumindest von der Obsession frei, immerzu gegen "Erbfeinde" kämpfen zu müssen. Jeder kann versuchen, in kleinem Maßstab zur Ausbreitung von Vernunft und Gerechtigkeit beizutragen.

Welchen Traum möchten Sie sich noch unbedingt erfüllen?

In den vergangenen 28 Jahren habe ich viele Einzelphänomene des unendlich gewalttätigen 20. Jahrhunderts erforscht. Vielleicht gelingt es mir noch, die Ergebnisse zusammenzufassen und in die europäische Geschichte einzuordnen. Das wünsche ich mir. Die Voraussetzungen dafür sind gut. Ich kann von meinen Büchern leben, brauche mich keinen institutionellen Zwängen zu unterwerfen: Dafür habe ich gut bezahlte Redakteursverträge abgelehnt oder gekündigt und noch im Januar 2007 die Übernahme einer gut dotierten deutschen Professur ausgeschlagen. Meine Freiheit ist mir viel wert. Das war manchmal nicht leicht, aber ich rate dazu. Es ist ein Privileg, wenn man ins Archiv gehen und Bücher schreiben kann und sich weder um Prüflinge oder Gutachten noch um Drittmittel oder um die Fährnisse der akademischen Selbstverwaltung kümmern muss.

Muss man den Tod fürchten?

Stellen Sie sich vor, wir müssten ewig leben - schrecklich! Ich weiß nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, aber ich betrachte den Tod nicht als Feind. Am Ende eines Requiems hören Sie das "Libera me": Befreie mich von der Last, von der Schuld und von den Ungereimtheiten des Lebens! Der Tod begrenzt das Planen und Handeln des Einzelnen. Er vollendet das Leben. Das beruhigt.

Welche Liebe macht Sie glücklich?

Mein Konfirmationsspruch lautet: Schmecke und sehe, wie freundlich der Herr ist. Liebe öffnet die Sinne: Augen, Ohren, Nase, Hirn und Haut.

 

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