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Musik gegen den Tod, für das Leben
Vor kurzem erklärte mir ein Komponist, der bloße Besuch eines anspruchsvollen Konzerts sei schon ein kulturpolitisches Statement. Wie wahr das ist, erlebte ich am 9. November. Als ich zur Kirche kam, in der das Konzert stattfinden sollte, traf ich auf eine lange, lange, lange Schlange von Menschen, die geduldig auf Einlass wartete und die Sicherheitskontrolle über sich ergehen ließ. Sie alle wollten die angekündigte Musik hören und damit ein Zeichen setzen.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
17.11.2023

Das Projekt „Lebensmelodien“ begleite ich seit einiger Zeit mit Interesse. Initiator ist der aus Israel stammende Klarinettist Nur Ben Shalom. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Musik von jüdischen Menschen aus der Zeit der NS-Diktatur und der Shoah zu finden, ihre Geschichte zu erforschen, sie zur Aufführung zu bringen und in Workshops an junge Menschen zu vermitteln. Dabei wird er vom Kirchenkreis Schöneberg-Tempelhof unterstützt. Ein wichtiger Förderer ist der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus.

Zwar hatte ich schon ein Podcast-Gespräch mit Nur Ben Shalom geführt, aber noch kein Konzert der „Lebensmelodien“ erlebt. Am vergangenen Mittwoch, dem 9. November, war es endlich so weit. Wie gesagt, vor der Apostel-Paulus-Kirche hatte sich eine sehr lange Schlange gebildet. Das war ein schöner Anblick. Allerdings hätte sich niemand gewünscht, dass dieses Konzert in diesen Tagen eine solche Dringlichkeit besitzt. In der Kirche war eine vielköpfige, vielfältige Gemeinde versammelt. Auch Mitglieder des interreligiösen Forums des Stadtteils waren gekommen.

Nach klugen, gegenwartssensiblen Begrüßungen ging es los. Im Wechsel las der Schauspieler Gunter Schoß Geschichten von Kindern in der Shoah, dann spielte das Ensemble dazugehörige Musik. Das ergab eine bewegende, verstörende, erhebende Dynamik. Die Geschichten, vor allem die Selbstzeugnisse und die Erzählungen der Angehörigen, trieben einem die Tränen in die Augen. Die Musik aber löste den Schrecken und setzte dem allmächtig erscheinenden Tod etwas anderes entgegen. Die Würde, die Kreativität, die Schönheit der Ermordeten und Traumatisierten wurde sinnliche Wirklichkeit. Übrigens, es war schlicht großartige – komponierte, arrangierte und gespielte – Musik. Erstaunlich fand ich auch, welch tröstliche Wirkung besonders die Klarinette entfaltet.

Zwei Momente machten diesen Abend vollends unvergesslich.

Da waren zum einen die Nachfahren, die aus New York und Brüssel angereist, nach den Stücken ihrer Familienmitglieder nach vorn gingen, sich beim Ensemble bedankten und den Dank der Gemeinde empfingen.

Da waren zum anderen die Schülerinnen und Schüler des Landesmusikgymnasiums Rheinland-Pfalz aus Montabaur, die sich im Religions- und Musikunterricht mit den „Lebensmelodien“ beschäftigt hatten und nach Berlin gekommen waren, um mehrere Chorstücke beizutragen. Auch dies war schlicht großartige Musik.

Gegenwärtig verfassen viele Institutionen und Gruppen Verlautbarungen. Das hat seinen guten Sinn. Aber ich frage mich, ob es nicht noch andere Äußerungsformen gibt, die sich von politisch-journalistischen Texten unterscheiden. Dieses Konzert jüdischer Musik in einer evangelischen Kirche wäre ein Vorbild dafür.

Wenn Sie ein Konzert der „Lebensmelodien“ miterleben möchten, gibt es hier das Programm.

P.S.: Über Literatur und Diktatur spreche ich in der neuen Folge meines Podcasts "Draußen mit Claussen" mit der aus Russland stammenden Autorin Irina Rastorgujewa.

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