Die Kinder müssen raus!
Im Widerstand: Irena Sendler, Sozialarbeiterin und Krankenschwester
Tina Berning
Holocaust
Die Kinder müssen raus!
Als sich 1942 die Lage im Warschauer Ghetto immer mehr zuspitzte, griff Irena Sendler zu drastischen Mitteln. Und riskierte das eigene Leben
chrismon
28.07.2023
3Min

Irena Sendler, 32 Jahre alt, Sozialarbeiterin und Krankenschwester, hatte viele Freunde, die im Warschauer Ghetto leben mussten. Über sie erfuhr sie, was dort passierte. Sie wusste von der Enge, dem Hunger, den Seuchen. Über sie bekam sie auch mit, wie die Nationalsozialisten 1940 das Gebiet des Ghettos abriegelten, Juden aus ganz Polen hierher brachten und weiter nach Treblinka deportierten. Sendler organisierte sich einen Dienstausweis der Sanitätskolonne, mit dem sie offiziell in das Ghetto gelangte. Eigentlich sollte sie ansteckende Krankheiten bekämpfen. Doch in Wahrheit tat sie etwas ganz anderes.

Irena Sendler wurde 1910 geboren und wuchs im Warschauer Villenvorort Otwock auf. Ein Großteil der Nachbarn und Nachbarinnen waren jüdisch. Sendlers Vater war Arzt und politisch aktiv, er behandelte viele verarmte Juden. Durch ihn lernte Irena früh jüdische Familien kennen – und was Antisemitismus bedeutet. Aber auch: solidarisch zu sein und sich gegen Ungerechtigkeiten einzusetzen. Als 1935 während ihres Studiums in Warschau "Ghettobänke" in der Uni eingerichtet wurden, Juden und Christen im Hörsaal also getrennt sitzen sollten, protestierte die junge Frau vehement und wurde für mehrere Semester suspendiert.

Nachdem die Deutschen 1939 einmarschierten und Polen besetzten, arbeitete Irena Sendler aktiv im Untergrund. Ihre Position als Sozialarbeiterin nutzte sie, um Schlupflöcher in der Verwaltung aufzuspüren, heimlich Essen oder Unterkünfte für bedrohte Jüdinnen und Juden zu suchen und mit Kollegen und Freundinnen ein geheimes Fürsorgesystem aufzubauen: Zegota.

Doch wozu sie sich angesichts der aussichtslosen Lage entschloss, hatte eine neue Dimension: Sie fing an, Kinder aus dem Ghetto zu schmuggeln. Das war hochgefährlich. Ihr und ihren Mitstreiterinnen war klar, dass sie mit dem Tod rechnen müssten, wenn sie aufflögen. Mehrmals am Tag passierte Irena Sendler die Ghettomauern und rettete Kinder vor Deportation und Tod, gezählt hat niemand, Schätzungen zufolge waren es womöglich 2500. Babys betäubte sie und versteckte sie in Körben oder Kartons, Reise- oder Werkzeugkoffern. Größere Kinder bugsierte sie durch die Kanalisation. Das Schwierigste dabei sei gewesen, so erzählte sie nach dem Krieg, die Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder wegzugeben. Sie brachte die Kinder in polnischen Familien, Waisenhäusern und Klöstern unter, die sie von ihrer Arbeit als Sozialarbeiterin kannte und über ihr Netzwerk, das sie zu Sozialbehörden, in den politischen Untergrund und zur jüdischen Gemeinde geknüpft hatte.

"Mein Uropa war Nazi und Jude": NDR-Moderatorin Annie Heger beschäftigt sich seit ihrer Kindheit mit ihrer Familiengeschichte

Das alles ging bis zum 20. Oktober 1943 gut. Dann überfiel die Gestapo Irena Sendler in ihrer Wohnung. Die Liste mit den Daten der geretteten ­Kindern blieb unentdeckt – ein ­riesiges Glück. Trotzdem wurde Send­ler verhaftet und zum Tode verurteilt. Aber der Gestapo war wohl nicht klar, dass sie mit Sendler eine der wichtigsten Organisatorinnen der ­Rettungsaktion vor sich hatte. Und Sendler verriet niemanden, auch nicht unter Folter. Anfang 1944 gelang ihr die Flucht – Zegota-Kollegen ­hatten die Wächter bestochen. Sie blieb in Warschau und arbeitete weiter im Untergrund, verteilte Medikamente, betreute Menschen in Verstecken, ­organisierte Essen.

Woher kam diese Entschiedenheit? Spät hat sie das einmal so erklärt: "Mein Vater hat mir beigebracht, dass man, wenn jemand ertrinkt, nicht ­lange fragt, ob er schwimmen kann, man springt einfach rein und hilft."
Nach Kriegsende trat Irena Sendler der kommunistischen Arbeiterpartei bei – und 1980 der Solidarnosc-Bewegung. Im Jahr 1965 ehrte Yad Vashem sie mit dem Titel "Gerechte unter den Völkern". 2008 starb Irena Sendler in Warschau im Alter von 98 Jahren.

Infobox

Der "Rat für die Unterstützung der Juden", Deckname: "Zegota", entstand 1942 als eine Geschäftsstelle des polnischen zivilen Untergrunds im von den Deutschen besetzten Polen. Ihm gehörten Vertreterinnen und Vertreter von polnischen und jüdischen Parteien an. Die Organisation unterstützte versteckt lebende Juden, fand Wohnungen und Verstecke für sie und stellte viele gefälschte Papiere aus. Irena Sendler leitete ab 1943 die Kinderabteilung von Zegota in Warschau.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Roller aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.