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Auf der Suche nach einem nicht existierenden Paradies
Ein Krieg bricht aus. Menschen fliehen in andere Länder. Manchmal suchen sie dort vergebens nach etwas, was es nirgendwo gibt: sofortige und uneingeschränkte Toleranz.
privat
22.08.2023

Ich habe eine Freundin. Sie kommt aus Asien und ist vor Bombenangriffen und einem Krieg geflohen. Neulich sagte sie, dass sie jetzt  Deutschland verlassen werde. Zehn Jahre lang lebte sie hier und bekam sogar einen deutschen Pass. Sie hatte sofort angefangen zu arbeiten, sie zahlte Steuern und sie spricht fließend Deutsch.

Sie war immer viel gereist, doch Deutschland war ihre erste wirkliche Lebenserfahrung im Ausland. Und obwohl sie sich so angestrengt hatte, ist sie nie wirklich heimisch geworden. Warum? 

Sie erzählte mir, dass sie es so müde sei, wieder und immer wieder die gleichen Fragen nach ihrer Herkunft und zu ihrer Heimat beantworten zu müssen. Und viele dieser Fragen seien sehr stereotyp, oft entsprächen sie Klischees aus Filmen. Wer sie wirklich sei, was ihre Persönlichkeit ausmache, das interessiere die Fragenden nicht tiefer. Ihr wurde klar, dass sie nie ein echterTeil der deutschen Gesellschaft werden könne. Also beschloss sie, dieses Land zu verlassen.

Die Antwort auf beide Fragen lautet „Nein“

Ich dachte intensiv über diese Worte nach: Ist es überhaupt möglich, sich als ein vollwertiges Mitglied der lokalen Gesellschaft in einem fremden Land zu fühlen? Und damit meine ich nicht die gleichen Rechte und Pflichten. Es geht um ein Gefühl. 

Und gibt es überhaupt einen Ort auf der Welt, eine Ecke, wo Toleranz sofort hundertprozentig ist? Die Antwort auf beide Fragen lautet „Nein“.

Nirgendwo auf der Welt gibt es 100-prozentige Toleranz. Wer anders aussieht, wer anders spricht oder andere Gewohnheiten an den Tag legt, wird eben automatisch gefragt, woher er oder sie komme. Und da viele Menschen allgemeine Informationen über andere Länder haben, also stereotype Informationen, sind dann auch die Fragen stereotyp. Ich halte das für ganz "normal". Trotzdem stört es mich natürlich auch.

Doch ich weiß: Die Auflösung dieser Stereotypen ist ein schwieriger und langwieriger Prozess. Und so werde ich immer wieder auf Menschen treffen, die durch falsche/ungenaue Kenntnisse über meine Kultur, meine Geschichte und meine Traditionen verwirrt sind. Und das wird mich mein ganzes Leben in diesem fremden Land begleiten. Klarstellung: in jedem fremden Land.

Aber wie steht es mit der Toleranz?

Bei all dem technischen, wissenschaftlichen und psychologischen Fortschritt sind die Menschen sehr eng mit ihren natürlichen Instinkten verbunden. Darunter: Wachsamkeit gegenüber allem Ungewöhnlichen - Dingen, Prozesse, Menschen (sogar der eigenen Nationalität und noch mehr der anderen). Je nachdem, wie unbekannt diese oder jene Kultur für einen Menschen ist und welches Wissen darüber vorhanden ist, ist die Vorsicht so hoch.

Mein Vater ist zum Beispiel war Georgier: mit schwarzen Haaren und dunkler Haut. Er war immer von Kaukasiern umgeben, darunter Tschetschenen und Aserbaidschaner, die dunkle Bärte getragen haben. Ich habe sie in meiner Kindheit ständig gesehen, und das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich als Erwachsener allen kaukasischen und östlichen Kulturen gegenüber weniger vorsichtig bin. Gleichzeitig jedoch hatten meine ukrainischen Klassenkameraden, die die Kaukasier nie näher kennengelernt haben, immer ein bisschen Angst vor kaukasichen Menschen, auch vor meinem Vater. Ich konnte, und ich kann sie auch heute noch, verstehen.

Denn diese "Wachsamkeit" entsteht automatisch, instinktiv. Manchmal bemerken wir es nicht einmal, aber wir können ein gewisses Unbehagen verspüren, wenn wir mit einer Person kommunizieren, die uns fremd erscheint. Vielleicht sind wir neugierig, vielleicht auch sensibel in unserer "Wachsamkeit", doch wir registrieren das "andere". Und erst mit der Zeit (manchmal dauert es eine Stunde, manchmal ein Jahr) kann die innere Spannung durch die Annäherung an eine Person mit einer vollkommen unbekannten Kultur oder Lebensweise weichen.

Ich glaube also nicht, dass es irgendwo auf der Welt wirklich das Paradies einer sofortigen und totalen Toleranz gibt. Eine Gesellschaft ohne jedes Vorurteil. 

Wer also, wie ich oder wie meine Freundin, umzieht, wird sich immer ein wenig anders fühlen als Einheimische. Und das ist normal, denn so sind wir Menschen eingerichtet. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, sonst verbringt man sein ganzes Leben damit, vergeblich nach etwas zu suchen, das es nicht gibt. Und es wird nicht besser, je öfter wir umziehen, denn immer wieder neu erzählen wir unsere Geschichte. Immer wieder müssen wir uns Missverständnissen stellen und geduldig sein, bevor Vertrautheit mit neuen Menschen entsteht.

Es ist besser ein paar Minuten innezuhalten und genauer hinzuschauen: Vielleicht ist der jetzige Wohnort bereits die ideale Option für mich? Für meine Freundin?

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Das dieses Paradies "wie im Himmel all so auf Erden" nicht existiert, liegt daran, dass die "individualbewussten" Menschen aufgrund des Glaubens an "gesundes" Konkurrenzdenken des nun "freiheitlichen" Wettbewerbs eben nicht daran glauben.

Das ganzheitlich-ebenbildliche Wesen Mensch, also geistig-heilendes Selbst- und Massenbewusstsein, nur wenn Mensch die Bedingungen für wirklich-wahrhaftiges Zusammenleben toleriert, schon Matthäus 21,18-22 hat den Frust Jesus beschrieben.

Die Toleranz, erst recht die Toleranz der Intoleranz, ist als passiver Suizid unchristlich. Denn ich toleriere (nehme hin, wehre mich nicht, erlaube, provoziere) das Böse zur Gewalt über mich, bis zur Vernichtung. Im Namen von Frau Dr. Käßmann . So wird letztlich, auch mit dem totalen Pazifismus, der eigene (nicht der des Bösen) Untergang herbeigesehnt.

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Was ist denn Toleranz? Sie ist eine wohlwollende Akzeptanz des Anderen ohne Kenntnis seiner Eigenschsften, Ansichten und Taten. Was ist denn dann die Toleranz der Intoleranz (des Anderen), bzw. wenn ich von ihm Taten kenne, die mir nicht gefallen und vor denen als Gefahr zu warnen ist? Das ist die Akzeptanz, des Unrechts. Oder Gleichgültigkeit.

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"Wir" funktionieren nicht anders als Künstliche Intelligenz. Ständig checkt unser Unterbewusstsein die Umwelt ab: Temperatur, Licht, Geräusche, "tat mir gut", "war schlecht", "kenne ich", "hat mir geholfen", "hat mir geschadet". Bei besonders traumatischen Erinnerungen kappt unser Organismus sogar den Zugang zum Bewusstsein und versucht im vegetativen Bereich sozusagen autonom noch irgendwie zu überleben: Fliehen, totstellen oder angreifen.
Wenn etwas neu oder ungewohnt ist und unsere Sensorik das merkt, kann sie gar nicht anders, als intolerant zu reagieren.
Wir hätten als Menschen nicht überlebt, wenn es anders wäre.

Das heißt: Toleranz wird auf dieser Erde immer eine unvollendete Aufgabe bleiben. Wenn wir perfekt tolerant sind, sind wir tot. Dann gibt es keine Veränderung mehr. Dann erleben wir nichts Neues mehr. Dann muss unsere Körper, unser Unterbewusstsein und unser Bewusstsein nicht mehr drauf reagieren. Wir müssen nicht mehr abschätzen: "gefährlich oder ungefährlich". Und weil wir auch nie immer über alle nötigen Informationen verfügen und dennoch sofort entscheiden müssen, werden wir Fehlurteile fällen. Wir werden Menschen dadurch verletzen. Und Minderheiten unter Mehrheiten werden darunter zu leiden haben. Es geht nicht anders. Nicht in dieser Welt.
Das ist kein Freibrief für Intoleranz.
Aber es ist die nüchterne Erkenntnis: In dieser Welt gibt es keinen Ort völliger Toleranz. Toleranz und Menschlichkeit werden hier eine unverzichtbare dauerhafte Aufgabe bleiben.

Viele in der Öffentlichkeit sind nicht bereit, das Grundsätzliche zu akzeptieren. Zeige mir jemand den, der in der Lage und bereit ist, das zu akzeptieren, was nach seiner Meinung falsch, unangenehm und kriminell ist. Ein möglicher Sieg der Toleranz über die Intoleranz ist Unsinn.

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Toleranz wäre ja ein Widergänger. Dann wäre ja jede Religion ihres geglaubten Alleinstellungsmerkmales beraubt. Dann könnte das Christentum ja nicht mehr behaupten, dass sie allein der einzig wahre Glaube ist. Die Toleranz als Geburtshelfer für eine Ivasion der Götter.

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Eigentlich ist der Begriff Toleranz in sich problematisch. Ist dann etwas egal zu sein auch tolerant? Wenn mir das Unglück eines Anderen (etwas nehmen wie es ist) egal ist, was ist dann?. Betrifft Toleranz nur die Eigenschaften von Personen, aber nicht deren Meinungen? Was bin ich, wenn ich die Meinungen eines Anderen nicht teile? Bin ich dann aus dessen Sicht intolerant? Ein Vorurteil ist intolerant. Was ist, wenn sich das Vorurteil bestätigt? Die Differenzierungen sind unerschöpflich.

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Was ist denn nun Toleranz? Den Anderen, ohne eine Vorverurteilung, nehmen wie er ist? Wobei die positive Annahme erwünscht ist. Nicht die eigenen individuellen  Verhaltensmuster und kulturellen Vorprägungen für die Beurteilung einer Person verwenden? Ist unmöglich, zumal noch eine, hoffentlich objektive, Lebenserfahrung wesentlich ist. Der Ruf nach einer unvoreingenommenen Toleranz ist weltfremd. Ähnlich wie der nach der Toleranz der Intoleranz. Beide Forderungen tolerieren letztlich die Macht von Gewalt und Unrecht.

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