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Leidensbilder sind indiskret und respektlos
Einen Schleier davor ziehen
Auch Bilder können Waffen sein. Deshalb wundert es nicht, wenn der Krieg im Nahen Osten auch über Bilder geführt wird: Bilder, die krasses Leiden ausstellen und über soziale Netzwerke global verbreiten. Auch Johann Wolfgang von Goethe hat genau darüber schon nachgedacht. Wichtige Gedanken!
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
08.12.2023

In Israel und den palästinensischen Gebieten spielt sich zurzeit Schreckliches ab. Empathie ist gefordert für die Opfer auf beiden Seiten und eine politische Strategie, die dem Grauen eine Grenze oder vielleicht sogar ein Ende setzt. Aber hilft es, Bilder des Leidens so drastisch auszustellen, wie es gegenwärtig massenhaft geschieht?

In seinem Alterswerk „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ stellt Goethe vier Formen der Ehrfurcht dar: die Ehrfurcht vor dem, was über uns ist: Gott und seine irdischen Statthalter, die Eltern und Lehrer; die Ehrfurcht vor dem, was uns gleich ist: die Mitmenschen und die Solidarität, die diese mit uns verbindet; die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist: die Erde und alles, was sie bereithält, alle Freude und allen Schmerz.

Zu dieser dritten Ehrfurcht gehört auch, „Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und liebzugewinnen“. Das Bild dafür ist das Kreuz. Doch empfiehlt Goethe dringend, dieses „Heiligtum des Schmerzes“ nicht einfach so öffentlich auszustellen. Nicht, weil er das Leiden verdrängen will. 

Goethe möchte „einen Schleier über diese Leiden ziehen, eben weil wir sie so hoch verehren. Wir halten es für eine verdammungswürdige Frechheit, jenes Martergerüst und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose Welt ihr dies Schauspiel aufdrang, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die göttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu tändeln, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, bis das Würdigste gemein und abgeschmackt erscheint.“

Hier zeigt sich eine besondere Sensibilität für das Leiden – die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist – und zugleich ein waches Bewusstsein dafür, dass Leidensbilder indiskret und respektlos sein können. Sie können benutzt werden, um Mitleid zu erpressen, problematische Gefühle (wie ein Rachebedürfnis) zu stimulieren und eine besonnene Urteilsbildung zu erschweren. Deshalb wäre es sinnvoll, vor all die medial und digital verbreiten Schreckensbilder aus dem Nahen Osten einen Schleier zu ziehen. Aber ich weiß natürlich, dass das nicht möglich ist. Man kann nur für sich selbst die Rezeption mäßigen.

P.S.: Nun war ich mal bei einem Podcast zu Besuch: Über Einsamkeit kann man gut reden, wenn man zu zweit ist. Genau das mache ich zusammen mit Frank Muchlinsky in dieser Folge von Bibliotalk  (www.bibliotalk.de). Wir tauchen ein in die Einsamkeit Jakobs und entdecken, dass man manchmal mit Gott kämpfen muss, und wie Nacht und Einsamkeit zusammenhängen. 

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