Unerklärlicher Rückenwind, Psalm 42,3 - ein Papierflieger zerteilt Wolken, Blitze und Regen
Unerklärlicher Rückenwind, Psalm 42,3 - ein Papierflieger zerteilt Wolken, Blitze und Regen
AHAOK
Unerklärlicher Rückenwind
Je näher er seinem schwerstbehinderten Sohn war, umso einfacher war alles, schreibt der Journalist und Manager Jörg Eigendorf. Dann war da plötzlich eine große Kraft - und Psalm 42.
Portraitfoto Jörg EigendorfMario Andreya
08.11.2023
"Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?" (Psalm 42, Vers 3)

Mit dem Vers in roten Buchstaben hatte es nichts zu tun, dass ich das Poster an meine Zimmertür klebte. Ich fand die Nahaufnahme des Gebirgsbachs schön, die kristallklaren Wassertropfen auf schwarzem Stein. Da war ich 13 Jahre alt. Allmählich las ich die Buchstaben bewusster, die links unten standen: "Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?" (Psalm 42, Vers 3).

Es sollte der Bibelvers werden, der mich durch mein ­Leben begleitet. Ich setzte mich damals intensiv mit ­Religion auseinander, wollte sogar mal Pfarrer werden. Ich haderte mit mir, mit dem Sinn des Lebens, empfand aber auch einen tiefen Glauben an eine Kraft, die wir nicht erfassen, aber spüren können. Da lag es für mich nah, Psalm 42,3 zu meinem Konfirmationsspruch zu machen.

Portraitfoto Jörg EigendorfMario Andreya

Jörg Eigendorf

Jörg Eigendorf, Journalist und ­Ökonom, ist Chief Sustainability ­Officer der ­Deutschen Bank und bestimmt die Nachhaltigkeitsstrategie mit. ­Zuvor arbeitete er für die Welt-­Mediengruppe.

Aber erst mein Sohn machte meinen Konfirmationsspruch für mich wirklich lebendig. Philip Julius kam 1994 krank zur Welt – mit einem Krampfleiden, dem Ohtahara-­Syndrom. Typisch für dieses Syndrom ist: Man kann die Ursache nicht feststellen, es ist nicht heilbar und die ­ständigen Krämpfe lassen sich medikamentös kaum einstellen. Kinder mit diesem Syndrom durchlaufen nicht einmal die einfachsten Entwicklungsschritte wie die Kopfkontrolle, sie können mit den Augen nichts fixieren. Nach acht Wochen bekamen wir von einem Kinderneurologen genau diese Diagnose.

Meine Frau Katrin und ich waren allein mit unserem Kind, hatten keine Jobs, ich studierte noch. Mein Vater gab uns einen Kredit. In dieser Phase begann ich, eine Kraft zu spüren, der ich mir zuvor nicht bewusst war. Ich stellte Philips Krankheit nicht infrage, ich haderte nicht mit ­unserem Schicksal. Im Gegenteil: Ich nahm diese Aufgabe an und spürte eine tiefe Liebe zu Philip und versprach ihm, für ihn da sein und ihn durchs Leben führen zu wollen.

Philip brauchte rund um die Uhr Betreuung, er war wie ein Säugling, der Tag für Tag größer wurde und ständig krampfte und schrie. So sah es von außen aus.
Für mich war es anders: Die ersten Monate seines ­Lebens schafften zwischen uns einen Bund, der Tag für Tag enger wurde. Während Katrin arbeiten ging und unsere junge Familie ernährte, verbrachte ich viel Zeit mit Philip, fuhr in Kliniken, ging zu Ärzten und Therapeuten.

Vor allem aber lernte ich in dieser Zeit unseren Sohn zu spüren: Ich wusste fast immer, was in ihm vorging. Ich konnte aus der Ferne diagnostizieren, warum er schrie. Es war eine Ebene, die man nur erfährt, wenn alle ­Formen der üblichen Kommunikation versperrt sind. Philip ­konnte ja nicht reden, keine Zeichen geben, sich nicht wehren. Er konnte nur ein klein wenig lächeln. Er genoss die Nähe, das Ruckeln, die Bewegung – als Katrin und ich mit ihm im Bollerwagen am Fahrrad durch die Dünen in Holland fuhren. Oder als ich mit ihm im Tuch vor der Brust Ski fuhr. Oder wenn unsere Tochter unermüdlich und laut im Wohnzimmer sang.

Die Herausforderung erschien umso größer, je weniger ich mit ihm machte. Und umso kleiner, je näher ich ihm war. Wir hatten wunderschöne Momente des Glücks, und wir lernten mit Philip wunderbare Menschen kennen, die sich voller Liebe um ihn kümmerten und es uns ermöglichten, unseren Berufen nachzugehen und viel Zeit mit unserer Tochter Alexandra zu verbringen.

Es gab aber eben auch sehr schwere Momente: die ­vielen Stunden in Krankenhäusern; das Gefühl, nie ein ­"normales" Leben führen zu können; viele Nächte, in ­denen er ständig krampfte und wir am Morgen wieder arbeiten gehen mussten. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass es da einen unerklärbaren Rückenwind gibt. Eine Kraft, auf die man nicht stolz sein sollte – denn sie wird einem gegeben, man sollte sie mit Demut und Dankbarkeit empfangen. Philip hat mich das Ich vergessen lassen, an diese Stelle traten das Du und das Wir. Und das ist das Schönste, was ein Mensch im Leben spüren kann. Es ist eine göttliche Kraft. Gottes Angesicht.

Philip starb 2011 mit 17 Jahren. Seine Eltern haben 2013 den Philip-Julius-Verein für sehr schwerbehinderte Kinder und ihre Familien gegründet.

Bibelzitat

"Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?" (Psalm 42, Vers 3)

Permalink

Hallo,
Mich hat der Artikel "Unerklärlicher Rückenwind" in der Oktober-Ausgabe von Chrismon plus gerührt. Ich finde es toll, dass Jörg Eigendorf sich auf diese Weise um seinen schwer behinderten Sohn gekümmert und sich so ihm stark angenähert hat. Mir kamen die Worte von Paulus in das Gedächtnis : Wenn ich schwach bin, so bin ich stark. In meiner Schwäche zeigt sich nämlich Gottes Stärke. Vielen Dank für dieses erbauliche Liebes- und Lebenszeugnis !
Herr Théophile MALLO

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.