Grüne Wiese mit Gebäuden
Sarah Zapf Dresden Panorama
Sarah Zapf
Die kulturelle Seele von uns Sachsen wurde beschädigt
Dresden war "die" Großstadt meiner Kindheit. Begeistert zog ich mit meinem Großvater durch das Grüne Gewölbe und war fasziniert von den Geschichten über August den Starken. Der brutale Einbruch war ein Schock.
Julian Leitenstorfer
19.01.2023

Wenn man in einer Kleinstadt mit gerade einmal 20 000 Einwohnern aufwächst, erscheint jeder Ausflug außerhalb der Stadt wie eine kleine Weltreise in unbekannte Länder. „Heute fahren wir mal nach Chemnitz.“, sagte meine Mutter an vereinzelten Samstagen an Wochenenden.

Bei Chemnitz wusste ich meist sofort, wohin es gehen würde: IKEA. Das verzweigte, riesig erscheinende Möbelhaus, das für meinen Bruder und mich zum Abschluss des schnurstracks erledigten Rundgangs und Einkaufs immer einen der sehnsüchtig erwarteten Hotdogs bereithielt.

Das gerade einmal eine halbe Stunde von meiner Heimatstadt entfernte Chemnitz, am Rand des auslaufenden Erzgebirges in Landkreis Mittelsachsen gelegen, belegte in meiner kindlichen Statistik aber nur den zweiten Platz auf dem Siegerpodest der Ausflugsziele. Es konnte bei weitem nicht mithalten mit der großen Stadt, die noch weiter im Osten lag und zu der man eineinhalb Stunden mit dem Auto fuhr: Dresden.

Mit der sächsischen Landeshauptstadt verband ich als Kind so viel, das mich reizte. Jahrhunderte alte, ehrwürdige Gebäude aus beigefarbenem Sandstein. Damals wunderte ich mich noch über die vereinzelten dunkelgrauen und schwarzen Steine, die Mauern und Wände ergraut erscheinen ließen. In Dresden konnte ich als Kind auch die zahlreichen mit knalliger Werbung bedruckten, von dünnen Oberleitungen geführten Straßenbahnen bestaunen, die ich sonst nur allzu selten zu Gesicht bekam. Und weit auslaufende Plätze mit gleichmäßig angeordneten Pflastersteinen, über die ich trotzdem ab und zu leicht stolperte, wenn ich einen Moment unachtsam war.

Weltreise als Kind in das sächsische "Elbflorenz"

Doch noch etwas faszinierte mich, weitaus mehr als die meisten Sehenswürdigkeiten und Plätze in der Stadt: Das Grüne Gewölbe. Das Museum, das unweit des Dresdner Zwingers und des Fürstenzugs mitten in der inneren Altstadt im Westflügel des Residenzschlosses liegt, strahlte etwas Magisches, Mysteriöses, Prunkvolles aus. Die anderen im Schloss gelegenen Museen, wie das Kupferstich- und Münzkabinett sowie die Rüstkammer, waren für mich nur schmückendes Beiwerk, das schnell in den Hintergrund rückte.

Über das Grüne Gewölbe erzählte mein Opa oft. Ihm hörte ich mit kindlichem Staunen zu, wenn er von den einzelnen Zimmern berichtete – und von August dem Starken, dem Initiator der acht Räume, seiner persönlichen Schatzkammer, die eine Sammlung von 3000 Schmuckstücken und anderen Meisterwerken von unschätzbarem Wert beinhaltet. Gold, Bergkristalle und Diamanten an einem Ort – August der Starke, einst Sachsen-Kurfürst und später zudem König von Polen, ließ diese einzigartige Schatzkammer in den Jahren 1723 bis 1730 errichten. Es ist auch heute in ihrer Aufteilung in das Historische Grüne Gewölbe und das Neue Grüne Gewölbe eine der reichsten Schatzkammern und eines der ältesten Museen in ganz Europa.

Jeder Raum ein kleines Schmuckstück voller Besonderheiten

Der außergewöhnlichen Leidenschaft August des Starken, nicht zuletzt als Kunstmäzen, ist es zu verdanken, dass seit Jahrhunderten die funkelnde und glitzernde Welt der Schatzkammer allen offensteht. Ein beachtliches Vermächtnis, im starken Widerspruch zum übrigen Erbe, denn August der Starke hatte Sachsen durch seinen ausgabefreudigen Herrscherstil in einem wirtschaftlich desaströsen Zustand hinterlassen. Zudem ranken sich etliche Legenden um ihn. So soll er etwa mindestens fünf illegitime Nachkommen gezeugt haben, einige benennen dann schon mal weit ausgeholt 365 an der Zahl. Ein in Saus und Braus lebender König – nicht ungewöhnlich in der damaligen Zeit des Barocks, kurz nach den Schrecken und Entbehrungen des 30-jährigen Krieges.

In den ausschweifenden, lustvollen Lebensstil von August des Starken und seiner unleugbaren Vorliebe für Hofdamen wurde ich als Kind natürlich nicht eingeweiht, wohl aber in die beachtliche Kraft, die ihm zu seinem Namen verhalf. Und das Grüne Gewölbe. Über die schachbrettartig angeordneten, spiegelglatt erscheinenden weißen und schwarzen Bodenfließen lief ich andächtig von Raum zu Raum, von Vitrine zu Vitrine. Hinter jedem neuen Durchgang verbarg sich ein weiterer Schatz – wie das Bernsteinkabinett, das mich mit seinen teils hell blendenden Gelbtönen und dann wieder satten bräunlichen Tönen inmitten der feinen Verarbeitung der Exponate in den Bann zog. Die meisterhafte Juwelier- und Goldschmiedekunst hätte ich wohl stundenlang anschauen können, akribisch und fasziniert zugleich. Bei meinem ersten Besuch lernte ich beim Blick auf die grünen Säulen in den Räumen, woher der geheimnisvoll klingende Name stammt. Und fühlte mich nach dem Besuch auf wundersame Weise mit dem kulturellen Schatz und der Geschichte Sachsens verbunden.

Juwelenraub hinterlässt tiefe Spur in der kulturellen Seele Sachsens

Viele Jahre später wurde dann die berühmte Goldmünze „Big Maple Leaf“ aus dem Bode-Museum in Berlin gestohlen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt meinen Bachelor abgeschlossen und stürzte mich in das Arbeitsleben. Als ich von dem berüchtigten Raub erfuhr, war ich nur mäßig erstaunt. In einer unübersichtlichen, irgendwie verrückten Großstadt wie Berlin kommt ein Diebstahl schon mal vor, stellte ich achselzuckend fest. Damals schmunzelte ich angesichts der skurrilen Tatsache, dass die Einbrecher das Diebesgut mit einer Schubkarre und einem Rollbrett einfach abtransportiert hatten. In meinen kühnsten Träumen hätte ich nicht gedacht, dass nur zwei Jahre später auch das Grüne Gewölbe Zielscheibe für einen ähnlich spektakulären Raub werden wird. Mich stimmte das damals fassungslos – wie viele andere Menschen weltweit.

Und irgendwo machte es mich traurig, aber umso mehr wütend auf die Rücksichtslosigkeit, den fehlenden Respekt und die Brutalität. Denn nicht nur wurden die aus den mit einer Axt zerstörten Vitrinen herausgerissenen Schmuckstücke mit einem Wert von 113 Millionen Euro entwendet, sondern ebenso schwere Brandstiftung verübt. Die Magie, das Prunkvolle, ja das Heilige des Grünen Gewölbes, wie ich es aus meiner Kindheit kannte, wurde urplötzlich angegriffen und beschädigt. Für mich fühlte es sich wie eine kollektive Enteignung der kulturellen Identität an. Eine sehr schmerzhafte Erfahrung, die keinen Raum für Hoffnung ließ. Für mich waren die Stücke damit ein für alle Mal verloren.

Umso größer war mein Jubeln, als ich am vierten Adventswochenende das Radio einschaltete und die kaum glaubbare Nachricht hörte: Ein Großteil des Diebesguts wurde sichergestellt. Auch wenn noch etliche Stücke verschollen sind und der Prozess immer noch andauert, nahm ich den Fund als wundervollen Weihnachtszauber wahr – und es hat ein Stück des Funkelns in die sächsische Landeshauptstadt zurückgebracht.

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