Ukraine
Der Wald des Lebens und des Todes
Eine Geschichte, die kaum gut ausgeht: Hektarweise halbtote Kiefern, dazwischen Blindgänger und Minen. Ukrainische Soldaten im Schützengraben. Und ein Förster, der um seinen Wald kämpft
Ein Blindgänger steckt zwischen den Kiefern im Wald von Kreminna
Ein Blindgänger steckt zwischen den Kiefern im Wald von Kreminna
Johanna-Maria Fritz / Ostkreuz
24.02.2024
9Min

Es ist Nacht. Auf der Ladefläche des Transporters zündet sich ein Soldat eine Zigarette an. Ihre Glut erhellt die makellos weiße Sturmhaube, die sein Gesicht verdeckt. Kisten mit Munition, ein Generator und Benzin­kanister rutschen hin und her, während der Wagen über den Waldweg schaukelt. Das Geklapper der Ladung vermischt sich mit dem Donnern der Explosionen. Eineinhalb Stunden lang fährt der Lastwagen im Slalom durch den dunklen Wald von Kreminna. Unter diesen Kiefern­wipfeln im ostukrainischen Hinterland tobt seit über einem Jahr ein erbitterter Kampf. Im April 2022 haben die Russen den Wald eingenommen; im September 2022 konnten die Ukraine ungefähr die Hälfte des Gebiets befreien.

Im Herzen des Waldes, anderthalb Kilometer vor den russischen Stellungen, hält das Fahrzeug an. ­Eine Detonation nach der anderen, Maschinengewehre rattern. Die Soldaten schnappen sich ihr Gepäck und springen vom Lastwagen. Die Bäume links und rechts sind nur noch kahle Stümpfe unter dem finsteren Himmel. Nur das Aufblitzen von Munition, die im Off einschlägt, beleuchtet den Weg zum Unterstand. In den sandigen Waldboden eingegraben, durchsuchen Mishanya und Ghor ihre Fotos – von den Drohnen aufgenommene Live-Wärmebilder der feindlichen Schützen­gräben. "Die roten Punkte sind Einschläge des ukrainischen Feuers, die noch heiß sind", erklärt Mishanya. Solche Hinweise ermöglichen es den Artilleristen, die Einstellung der Geschütze und Mörser zu korrigieren. ­Mishanya, stellvertretender Kommandeur, und seine Männer kämpfen hier seit vier Monaten.

Die letzten Monate vergingen wie im Flug: zuerst der heiße, trockene Sommer, der Brände begünstigte, dann der schlammige Herbst, der Truppenbewegungen und Nachschub erschwerte. Schließlich der eisige Winter. "Es ist nicht leicht, hier die Zeit im Auge zu behalten. Tag und Nacht verschwimmen", sagt Mishanya. Es ist Mitternacht, und sein 29. Geburtstag geht zu Ende.

Als Jugendlicher kam er oft mit seinem Onkel hierher. "Es war friedlich und schön. Wir haben Fasane, Kaninchen, Füchse und Rehe gejagt, natürlich mit Jagdschein", erinnert er sich mit einem Lächeln auf den Lippen, bevor sich seine Augen verdunkeln. "Einer der Namen, die wir diesem Ort gaben, ist ‚der Wald des Lebens und des Todes‘, aber jetzt sehen wir hier nur noch Tod." Mishanya hat ­seine jüngste Tochter seit ihrer Geburt im Januar 2022 nur viermal gesehen. Obwohl er davon träumt, die Ukraine und den Wald seiner Jugend von der russischen Besatzung befreit zu sehen, weiß er, dass der Krieg nun tief in seinem Inneren verankert ist. Seit 2017 ist er Mitglied der berüchtigten, aber auch bewunderten Asow-Brigade, die seit dem russisch-ukrainischen Krieg 2014 gegen russische Invasoren und Kollaborateure kämpft. Eine Rückkehr in das zivile Leben kann sich Mishanya nicht vorstellen. Sobald der Kampf in der Ukraine beendet ist, will er auf anderen Kontinenten kämpfen.

Mishanya und Ghor im befestigten Unterstand. Beide kämpften in Mariupol, auch im Asow-Stahlwerk. Ghors Tattoo erinnert daran

Es ist nicht das erste Mal, dass dieser Wald zerstört wird. Im 19. Jahrhundert wurden die Bäume gerodet, um das Salz unter der Erde zu gewinnen. Die Wiederauffors­tung wurde zwischen 1850 und 1870 von Viktor von Graf geleitet, einem Förster im Dienste des Russischen Reichs. Ein Vorbild für Oleksii Pryhodko. Der 30-Jährige ist hier aufgewachsen. Er liebt diesen Wald. So sehr, dass er Chef des Forstamts von Lyman geworden ist. In seinem neuen Büro hängt ein Porträt seines Vorbilds in Militärkleidung. Sein altes Büro, nur wenige Autominuten entfernt, wurde von der russischen Armee vollkommen zerstört. "Bereits mein Vorgänger hatte dieses Bild in seinem Büro hängen", erzählt Oleksii Pryhodko, "ich werde nicht derjenige sein, der mit dieser Tradition bricht. Ja, dieser Mann war Teil der zaristischen Verwaltung und arbeitete für Russland, weil das die Zeit war, aber er hatte auch deutsche Wurzeln. Ich denke lieber an das, was er für diesen Wald und diese Region getan hat."

Privat

Morgane Bona

Autorin Morgane Bona hörte im Kreminna-Wald kein Vogelgezwitscher, nur das Pfeifen der Munition. Und dann landete überraschend eine Meise auf dem Tisch neben einem Drohnenoperator.
privat

Johanna-Maria Fritz

Johanna-Maria Fritz, Foto­grafin, weiß, dass es im Wald wenige Orte gibt, um in ­Deckung zu ­gehen. "Es bricht mir das Herz, zu wissen, dass ­Mishanya, der zweifache Vater, nun tot ist."

Im Zweiten Weltkrieg standen sich zwischen diesen Kiefern die Truppen der Sowjetunion und des Dritten Reichs gegenüber. Nahe der aktuellen Frontlinie, in dem von Russland besetzen Teil des Waldes, gibt es ein Massengrab mit 391 Soldaten der Roten Armee, die im Sommer 1943 gefallen sind. Alte Leichen, auf die heute neue fallen.

Sechs Uhr morgens. Mishanya und Ghor dösen noch, dann schlagen im Wald mehrere Raketen in der Nähe des be­festigten Unterschlupfs ein. Alles wackelt, Sand rieselt hinter der silbernen Isolierung herab. Dreißig Minuten später, Mishanya hat sich gerade Kaffee gemacht, überfliegt die russische Luftwaffe die ukrainische Stellung. 86 Tage lang hatte Mishanya mit Ghor in Mariupol gekämpft, auch im Asow-Stahlwerk. Im Mai 2022 wurde er von russischen Soldaten gefangen genommen. Er verbrachte vier Monate in Gefangenschaft und nahm dreißig Kilogramm ab. Nach seiner Freilassung Ende September 2022 schloss er sich erneut der ukrainischen Armee an, sagt Mishanya: "Hier ist die Frontlinie weniger beweglich, aber für mich ist es im Wald härter als dort, denn in Mariupol konntest du leicht in Deckung gehen, indem du in ein Gebäude oder einen Keller gingst. Wenn du draußen im Wald bist, kannst du dich nur in den Kratern früherer Luftangriffe in Sicherheit bringen. Hier setzen die Russen alles ein, was sie haben: Artillerie, Luftwaffe, Mörser, Granatwerfer."

Nach dem Kaffee besucht Mishanya zwei seiner ­Männer, die für die Kommunikation zwischen der vordersten Linie und der Kommandozentrale zuständig sind. Im einsamen Außenposten sitzt Mosen, 33, überall tätowiert: "Es ist die Hölle, die Gräben stürzen ständig ein, die Russen haben viele Mörser. Wenn unsere Artillerie eine Stunde arbeitet, arbeiten die Russen fünf Stunden. Wenn die Munition die Bäume trifft, fliegen Schrapnelle und Holztrümmer durch die Luft und verletzen die Jungs." Seine größte Angst sind lasergesteuerte Präzisions­bomben, die von der Luftwaffe abgefeuert werden. Man nennt sie "KABs". "Wenn sie eine KAB auf diesen Unterstand werfen, sind wir alle tot!", sagt er. "Der Krater jeder dieser Bomben misst einen Durchmesser von fünfzehn und eine Tiefe von vier ­Metern. Hier gibt es viel Sand, dadurch ist der Boden weniger ­widerstandsfähig als Erde oder Fels." In den schlimmsten ­Momenten betet Mosen, wenigstens schnell zu sterben. Als er am 31. Dezember 2022 von einem Granat­splitter verletzt wurde, dachte er nur an seine drei Kinder.

"Wenn das so weitergeht, wird die nächste Generation nur Ruinen erben"

Tamara

Nur der Ofen ist von der Küche übrig geblieben. Tamaras Haus ist halb zerstört. Sie verfeuert jetzt die Balken, die einst das Dach ihrer Küche trugen

Die Ukraine ist seit 2023 das verminteste Land der Welt. Ungefähr 30 Prozent der Gesamtfläche, schätzt man. Eine Gefahr, die für die Bewohner um Kreminna für Jahrzehnte bestehen bleibt. In Jampil, einem kleinen Dorf am Waldrand, bieten Dorfbewohner am Straßenrand Selbstgemachtes zum Kauf an. Neben Krieg und Minen ist Armut die größte Gefahr. "Dieses Jahr sind einige ­Jugendliche in den Wald gegangen, um Pilze zu sammeln. Ich selbst traue mich nicht. Die Sicht ist nicht klar genug, um die Minen zu erkennen, und der Wald wird noch ­immer bombardiert", erklärt Alexander, 67.

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Zwei Autos halten an, ein Dutzend ukrainische Soldaten steigen aus. Sie scherzen miteinander und wollen in den Supermarkt. "Jungs! Hausgemachte Tschebureki, sehr günstig!", wirbt Tamara, 66, die neben Alexander steht. Keiner der Soldaten würdigt die Krapfen eines Blickes. In der Region herrscht ein Klima des Misstrauens. Die Soldaten verdächtigen die Einheimischen, mit den Russen zusammenzuarbeiten. "Die Neuen haben Angst, vergiftet zu werden", glaubt Tamara. "Wir hier kennen den Wald von klein auf. Wir waren in der Natur, zum Fischen, Picknicken und Pilzesammeln." Die Rentnerin mit den langen weißen Haaren lebt allein in einem Haus, das bei einem Angriff teilweise zerstört wurde. Ihre Familie ist geflohen. Um nicht zu erfrieren, verfeuert sie die Reste der Balken, die einst das Dach über der Küche trugen. Es gibt seit zwei Jahren keinen Strom. Man kann die Einsamkeit, die Tamara ertragen muss, förmlich spüren. Nur die Vergangenheit bringt sie ins Schwärmen. Zu Sowjetzeiten waren unter anderem Schulkinder im Alter von zehn oder elf Jahren für die Aufforstung des Gebiets zuständig: "Wir waren stolz darauf, dass uns eine solche Aufgabe anvertraut wurde." Während sie erzählt, schlagen in der Nähe mehrere Granaten ein. Die Vergangenheit ist plötzlich weg, die Realität wieder da. Die Angst vor der Zukunft auch. Tamara schluchzt. "Wenn das so weitergeht, wird die nächste Generation nur Ruinen erben."

"Wir fanden russische Leichen, die Sprengsätze trugen. Die Leichen explodierten"

Anton Hurhach, Minenräumer

In der Umgebung von Jampil und Lyman, die im Herbst 2022 befreit wurden, konnten ukrainische Minenräumer bereits 128 000 Blindgänger entfernen. Darunter Fliegerbomben, sogenannte Schmetterlingsminen und Antipersonenminen, die auf über 40 Hektar des ­verwüsteten Waldes verstreut sind. An der schnurgeraden Straße ­zwischen Lyman und Jampil erinnern umgestürzte ­Bäume, Panzer­wracks und Schützengräben im hellen Sand an den Kampf zwischen ukrainischem und russischem Militär. Anton Hurhach, Koordinator der Minenräumer, erzählt die makabre Geschichte dieser Straße: "Während der Gegen­offensive 2022 fanden wir auf dieser Straße viele russische Leichen, die von ihren Kameraden mit Spreng­sätzen ver­sehen worden waren, bevor sie die Flucht ergriffen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele es waren, wir mussten schnell vorrücken, das Gebiet war riesig und die Polizei ­unterbesetzt. So bekamen wir die Erlaubnis, die Sprengfallen zu zünden, und die Leichen explodierten."

Teamleiter Mykhailo beeindruckt das nicht weiter. Der Mittdreißiger mit den Pausbacken sagt: "Sie sind Besatzer. Wenn die Russen nicht zögern, die Leichen ihrer eigenen Leute mit Minen zu versehen, um uns zu töten, warum sollte ich mir dann den Kopf darüber zerbrechen, dass sie einmal Menschen waren?" Es ist einer dieser Sätze, die nur im Krieg fallen können. Gesprochen von einem Mann, dessen eigenes Leben täglich am seidenen Faden hängt. Und dessen Arbeit über das Leben anderer entscheidet.

Mykhailo erzählt von seiner Arbeit: "Man hat immer dieses dumme Gefühl im Bauch. Haben wir vielleicht ­etwas übersehen? Wir kontrollieren alles immer ein zweites Mal, bevor wir zum nächsten Bereich übergehen. Außerdem ist es immer noch eine aktive Kampfzone – wer weiß, was in den bereits geräumten Gebieten herunterkommt, wenn wir nicht da sind? Und der Wind kann Geschosse herunterwehen, die in den Bäumen gelandet sind." Trotzdem, ihre Arbeit unterbrechen sie nur, wenn das Wetter schlimm wird – oder das Feuer russischer Geschütze. "Ich denke lieber nicht darüber nach", flüs­tert Mykhailo, und fährt fort: "Ein Haus oder ein Auto kann man reparieren, aber keine Menschenleben. Wenn geschossen wird, verlässt man schnell das Gebiet und schaut am nächsten Tag, was heruntergekommen ist."

Abtransport der zerstörten Kiefern. Oleksii Pryhodko mit dem Porträt von Viktor von Graf

Während im Hintergrund der Krieg wütet, Russen und Ukrainer einander tagein, tagaus töten, pflanzt Oleksii Pryhodko, Leiter des Forstamts von Lyman, bereits wieder Bäume. Routiniert bewegt er sich ­zwischen abgerissenen Stämmen und Raketen, die im ­Boden stecken. Ein junger Baum steht neben einem Blindgänger, und auf Oleksiis Gesicht erscheint ein Lächeln. Weiter hinten möchte der 40-Jährige die jungen Kiefern zeigen, die vor ein paar Monaten gepflanzt wurden. 300 Hektar Wald sind für die Förster zugänglich. Vor dem Krieg waren es 27 000 Hektar, sagt Oleksii Pryhodko. Sein Lieblingssee, in dem er seiner ältesten Tochter das Schwimmen beigebracht hat, ist immer noch von den ­Russen besetzt. Er glaubt nicht, dass die Befreiung der Region mit der Wiedergeburt seines geliebten Waldes einhergehen wird. Oleksii Pryhodko schließt mit einem sehnsüchtigen Blick: "Ich werde den Wald, so wie ich ihn kannte, zu meinen Lebzeiten nicht mehr sehen. Er kann wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden, aber das wird 50 bis 60 Jahre dauern."

50 bis 60 Jahre, unter der Voraussetzung, dass der Krieg bald zu Ende geht. Davon ist bisher wenig zu spüren. Und so werden die Soldaten weiter kämpfen, Rentner wie ­Tamara Angst und Armut ertragen müssen, Mykhailo wird ­weiter nach Minen suchen. Hunderte, wenn nicht Tausende, ­werden sterben. Für Mishanya, den Asow-Kämpfer, Vater von zwei Töchtern, ist der Krieg vorbei. Wenige Wochen nach dieser Reportage ist er von einem Granatsplitter­getroffen worden. Tödlich.

Etwas anderes als Krieg war für Mishanya nicht mehr vorstellbar

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