Armut - Der Hoffnungsträger
Armut - Der Hoffnungsträger
Marlene Pfau
Der Hoffnungsträger
Feierabend? Kennt er nicht. Thomas de Vachroi ist für die da, die meist übersehen werden. Jetzt will er ein Haus für Arme bauen, mitten in Berlin. Ohne Unterstützung geht das nicht.
Robert Lehmann
10.08.2023

Ein Abend im März, kurz vor 23 Uhr, das ­Handy brummt. "Thomas, bist du noch wach? Ich stehe vor deiner Tür und hab ­mehrere ­Tausend Vitamindrinks im Kofferraum. Kannst du die gebrauchen?" Natürlich ist Thomas de Vachroi, der Armutsbeauftragte für den Evangelischen Kirchenkreis Neukölln, noch wach, wie er berichtet. Und natürlich kann er die Drinks für die Gäste der Tee- und ­Wärmestube gebrauchen. Jacke an, Schuhe an, Tür auf, Treppe runter, Hand schütteln, Kis­ten schleppen, sich beim Spender bedanken. Feier­abend? Arbeitszeiten? Wenn Thomas de Vachroi nicht schläft, ist er im Dienst. "Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich in der Woche arbeite, das interessiert mich auch nicht", sagt er.

Wenn man ihn fragt, was er genau macht, lacht er und sagt: "Alles." Keine Assistentin, kein Sekretär, keine Mitarbeiter. Der 62-­Jährige spricht bei Politikern vor und bittet Unternehmen um Hilfe. Er kocht ­Suppe, schüttelt in Fußgängerzonen die Spenden­dose, empfängt Delegationen aus Amsterdam und Finnland, spricht vor Schülern über Armut, begleitet ängstliche Menschen zum Amt, sortiert die Probleme alleinerziehender ­Mütter. Kauft ein, wenn jemand zu Hause kein Essen mehr hat.

Armut lindern, Menschen Hoffnung geben, das ist seine Aufgabe. "Ich bin wie der Tropfen, der den Stein höhlt." De Vachroi arbeitet sowohl für den Evangelischen Kirchenkreis Neukölln als auch für das Diakoniewerk Simeon. Er ist der erste und einzige Armutsbeauftragte in der Bundesrepublik, seit 2017 schon. Jetzt will de Vachroi auch noch ein Haus für Arme bauen, mitten in Berlin, wo die Grundstückspreise inzwischen in die Millionen gehen. Doch kann er wirklich etwas verändern?

Robert Lehmann

Karl Grünberg

Karl Grünberg ist Journalist in Berlin. Er schreibt Reportagen über soziale und gesellschaftliche Themen.

Schattenkinder, so nennt der schlanke Mann mit den kurzen Haaren die Menschen, für die er macht und tut und organisiert. ­Schatten, weil diese Menschen auf der Schatten­seite des Lebens stehen. Und ­Kinder, "weil wir alle die Kinder Gottes sind". De Vachroi ist ständig in Bewegung. Entweder wippt er auf den Füßen vor und zurück. Oder seine Finger drehen an einem seiner beiden silbernen Ringe. Dann wieder legt er seinen Zeigefinger ans Kinn und mustert konzentriert sein Gegenüber.

Armut in Neukölln, das ist die junge Frau, die sich auf den Treppen zur U-Bahn eine Spritze setzt. Das ist der Mann, der durch die U-Bahn wankt und wegen seiner offenen Beine so sehr nach Verwesung riecht, dass alle anderen das Abteil verlassen. Das ist die weißhaarige alte Frau, die die Hand aufhält, um Geld für Medikamente bittet und in Tränen ausbricht, wenn man sie fragt, wie es ihr geht. Das ist die Familie, die bei Karstadt am Hermannplatz unter dem Vordach schläft. Das sind die zehn Männer und Frauen, die von morgens bis abends in der Bushaltestelle sitzen, sich an ihren Wodka­flaschen fest­halten, rauchen, trinken, um irgendwann ermattet zu Boden zu sinken. Das ist der Mann, der sich auf dem Friedhof am Wasserhahn unter den Armen wäscht und mit seinem Zelt hinter einem Baum versteckt im Park campiert. "Neukölln ist einfach hart, und es wird härter", sagt de Vachroi.

Fast jeder Dritte in Neukölln gilt als armutsgefährdet

Dann sind da jene, die zwar noch eine Wohnung haben, aber den Strom nicht mehr anschalten, sich von Brot mit Marmelade ernähren, die zum Essen und Waschen in die Tee- und Wärmestube kommen, wie de ­Vachroi berichtet. Fast 30 Prozent der Menschen in Neukölln gelten als armutsgefährdet. Jeder Vierte ist auf Leistungen der sozialen Mindestsicherung angewiesen. Gleichzeitig – und das betrifft natürlich auch Neukölln – steigen die Mieten in Berlin immens, über 146 Prozent zwischen 2009 und 2019.

Montag, 17 Uhr, de Vachroi steht in ­seinem Büro im Diakoniewerk. Er ist noch geschwächt, hustet, hatte eine Bronchitis. Doch diese Woche muss er wieder ran, es ist viel zu tun. Wenn er mal abschalten will, geht er ­spazieren, stundenlang, auch allein, durch Parks, aber auch gern einfach durch die Stadt. Und er schreibt Gedichte, die er auf seiner Website und in kleinen Büchern veröffentlicht.

Andreas Krüger ist Stammgast in der Tee- und Wärmestube. Da gibts immer einen Kaffee und morgens ein gutes Frühstück. Leute von der Straße wie Fernando kommen aber auch, um sich mal wieder wie ein Mensch fühlen zu können


Ein großer, dunkler Raum, über und über mit Kisten vollgestopft, alles Spenden. Bald wird der evangelische Bischof von Berlin zu Besuch kommen, Christian Stäblein, dazu die politische Hauptstadt-Prominenz. Wie selbstverständlich zählt de Vachroi die Namen ­herunter. An einer Pinnwand hängen viele Dutzend Visitenkarten, sortiert nach Themen: Politik, Journalismus, Sicherheit, Organisa­tion, Unternehmen, Medizin. "Das sind meine Kontakte, mit all denen habe ich mich schon getroffen", sagt de Vachroi. ­Ricarda Lang von den Grünen, Elke Büdenbender, Ehefrau von Frank-Walter Steinmeier, Kai Wegner von der CDU und inzwischen Regierender Bürgermeister von Berlin. Demnächst trifft der Armutsbeauftragte Bärbel Bas, Bundestagspräsidentin und von der SPD. Vielleicht ist er ein bisschen stolz auf seine Visiten­kartenwand, vor allem aber braucht er sie. Denn: Leute kennen, mit ihnen reden, das tut der Armutsbeauftragte am meisten.

"Ich lade die wichtigen Leute ein, ich berichte ihnen von meiner Arbeit, führe sie durch die Tee- und Wärmestube, stelle ihnen die Gäste vor, so entstehen Gemeinsamkeiten zwischen den armen Menschen und den Politikern", sagt er. Diese Gemeinsamkeiten sollen dann im entscheidenden Moment die Herzen öffnen. Wenn es darauf ankommt, wenn es um Geld geht, um Gesetze, um eine gute Politik für soziale Träger oder um Spenden.

In das gleiche Büro, an den gleichen Schreibtisch kommen auch die vielen verzweifelten Menschen, die seine Hilfe brauchen. "Ich bin kein Beamter, bei mir ist nicht nach 20 Minuten Schluss." De Vachroi hört zu, auch wenn es unter Umständen Stunden dauert. Dann ordnet er die Probleme nach Lösbarkeit. Wenn ältere Menschen sich zum Beispiel nicht zum Amt trauen, geht er mit. "Wenn wir dann da sind, sind sie erleichtert und reden wie von selbst", sagt er. Manchmal braucht sein Gegenüber nur jemanden zum Reden. Wenn dabei Tränen fließen, ist auch das in Ordnung.

Eine Zeitung hat ihn schon einmal als Lobbyist der Armen bezeichnet, eine andere als Anwalt der Armen. Das passt alles nicht. "Ich bin Christ und Menschenfreund", sagt er. ­Seine Großeltern hätten ihn so erzogen, dass man auf andere Menschen achtet. Als Jugendlicher hat er eine Biografie von Angela Davis gelesen, der US-amerikanischen Bürger­rechtlerin, die eingesperrt war, dann aber freigesprochen wurde, die sich für andere, auch für Arme einsetzte. Als junger Erwachsener schrieb er Gedichte über Freiheit, die der DDR nicht gefallen haben. Mit 19 landete er des­wegen im Gefängnis. "Ich war sechs Jahre drin. Die Zeit verliert sich. Man konserviert in seinen Gedanken. Man vergisst nicht, aber man schaltet ab und funktioniert."

Thomas de Vachroi sammelt Spenden und Visitenkarten. Kontakte sind wichtig für das, was er erreichen will


Als er 1987 in den Westen ausreisen ­konnte, ging de Vachroi als Erstes in die Kirche und ließ sich taufen. "Das war ein sehr schöner ­Moment. Ich habe mich endlich frei gefühlt", sagt er. Später, als die Mauer gefallen war und sich die Probleme der Welt verlagerten, war er für sechs Jahre Entwicklungshelfer im Kriegsland Kosovo. Richtiges Leid habe er da erlebt, tote Menschen, trauernde und traumatisierte Familien, Hunger und Elend.

Donnerstag, Tee- und Wärmestube: drei Räume, eine Küche, Waschmaschinen, Duschen, Bücher und Schachspiele. Drei Sozial­arbeiter sind hier angestellt, wechseln sich mit den Schichten ab, außerdem gibt es einen Koch und eine Reihe von Ehrenamtlichen. Die Gäste sind Obdachlose, Rentner, Arbeitslose. "Wir fragen aber nicht, warum jemand kommt. Keiner muss einen Nachweis zeigen", sagt de Vachroi. Manche von ihnen berichten, was ihnen passiert ist. Andere schweigen und spielen Schach. Platz haben sie eigentlich nur für 20, es kommen inzwischen 50 bis 100 am Tag. "Das heizt natürlich die Stimmung auf, da gibt es Stress."

Die letzten Gäste gehen gerade. De ­Vachroi verabschiedet sie per Handschlag und entschuldigt sich, dass sie heute leider früher schließen müssen. Gleich komme eine ­Gruppe finnischer Sozialarbeiter, die sich das Projekt anschauen wollen. Der Armutsbeauftragte verteilt Kaffeetassen und Kekse auf dem Tisch, stellt ein Roll-up auf, darauf sein ­neuestes Projekt: ein eigenes Haus. Der Tee- und Wärmestube wurde gekündigt, sie ­müssen raus, bis spätestens 2025. "Da bin ich dem Kirchenkreis so lange auf den Wecker gegangen, bis sie mir ein Grundstück ­gegeben habe. Ein ehemaliges Parkdeck, gleich um die Ecke." Ein modernes, helles Haus soll hier entstehen, mit doppelt so viel Platz für die Tee- und Wärmestube, ­außerdem mit 16 Mini­wohnungen für Obdachlose. "Damit sie die Tür zumachen ­können, einen Raum für sich haben, sich wieder wie ein Mensch ­fühlen können. Denn Menschen gehören nicht auf die Straße", sagt de Vachroi. Die Hälfte der 4,5 Millionen haben er und der Kirchenkreis schon zusammen, den Rest muss de Vachroi noch auftreiben. Wie er das schaffen will? "Mit Reden, wie denn sonst?"

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Ein schräges Heldenepos. Der Mann macht seine gewiss verdienstvolle und ordentlich bezahlte Angestelltenarbeit bei der Diakonie (deren Projekte weithin steuerfinanziert sind) wie Hunderttausende seiner Kolleginnen und Kollegen in der sozialen Arbeit auch. Manche sind Angestellte wie er, andere Beamte oder selbstständig, wieder andere arbeiten ehrenamtlich ohne Lohn. Auch sie gehen ihrer Arbeit nach, halten sich aber mit Kollegenschelte zurück, sondern lassen lieber ihre Klienten und Schutzbefohlenen selbst zu Worte kommen.

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