Eine neue Liebe
Klaus Petrus
Eine neue Liebe
Über eine Million Flüchtlinge aus dem Südsudan beginnen im Norden Ugandas ein neues Leben. Wer dafür nicht stark genug ist, braucht den Schutz der Gemeinschaft. So wie Joel Roba, 71, und Jemima Poni, 70 Jahre. 
Im Lager wurden sie ein Paar, aus Not, aber nicht nur.
05.02.2018

Sie war barfuß und ohne Gepäck. Nichts von dem, was sie einmal besaß, hat sie mitgenommen. Keine Pfannen, Decken, Matten, keine Kleidung. Sie trug nur einen Rock aus einem dünngewaschenen Stück Stoff, ein T-Shirt und darüber ein Männerjackett. Sie sagte, sie sei aus Yonduru. Eine Marktbeschickerin für Cassava, für Tomaten und Bohnen aus ihrem eigenen Garten, der nur noch ein Stück verbrannte Erde sei, nachdem Soldaten das Dorf angezündet hatten. Ihr Mann ist lange tot, und wo ihre Kinder sind, weiß sie nicht. Vielleicht geflohen. Vielleicht tot.

Er war mit seinem Sohn unterwegs. Rebellen griffen ihre Hütten nahe Yei an, weil gleich daneben eine Kaserne des südsudanesischen Militärs war. Die Rebellen schossen von Westen, die Soldaten erwiderten das Feuer von Osten, dazwischen ihr Dorf. Wände aus Lehm und Stroh und Grasdächer, nichts, was Kugeln und Geschütze abhalten könnte. Panisch waren alle 180 Menschen geflohen. 50 ­waren im Kugelhagel umgekommen, auch seine Frau, fünf seiner Söhne und seine Enkel. Als die Rebellen gesiegt hatten, waren die Hütten verbrannt.

13 Tage auf der Flucht

Die Überlebenden kehrten zurück, um die Toten zu begraben. Dann gingen sie nach Südwesten in Richtung ugandische Grenze. Von Waldstück zu Waldstück, immer auf der Hut vor den Bewaffneten. Von den Feldern derer, die noch nicht geflohen waren, stahlen sie Mais und aßen ihn roh, damit kein Feuer sie verriet.

Joel Robas Sohn: Emmamos Lomoro, 29, ein kräftiger junger Mann, überlebenswichtig für die Alten

13 Tage dauerte die Flucht. Sie, allein, ohne Schuhe. Voller Angst zu verhungern, eine alte Frau, mittellos, schutzlos. Er mit dem letzten Sohn, der ihm geblieben ­war, und der ihn auf dem Rücken tragen musste. Was sie ­retten konnten, ließen sie Stück für Stück zurück, weil es zu schwer war. Immer wieder machten sie lange Pausen, das Asthma nahm dem alten Mann den Atem, sein Augenlicht reichte kaum, um den Weg zu sehen. Irgendwo kurz vor der Grenze zu Uganda trafen sie sich: die Frau, Jemima Poni, 70 Jahre alt, der Mann, Joel Roba, 71 Jahre alt, und sein Sohn, Emmamos Lomoro, 29 Jahre alt.

Essen, Medizin und ein Stück Land

Ohne viele sonstige Worte gingen sie zusammen ­weiter. Hinter der Grenze nahm eine Hilfsorganisation sie in ­Empfang und brachte sie in eine Auffangstation für südsudanesische Flüchtlinge. Dort gab es warme Mahlzeiten, Medizin gegen sein Asthma, Salbe für ihre Füße.

Am dritten Tag wies man ihnen ein Stück Land zu, gab ihnen eine Plane und angespitzte Pfähle, um ein provisorisches Haus zu bauen, dann einen Topf und Reis, Bohnen, Öl. Da war es schon selbstverständlich, dass sie mit ihnen ging. Dass sie die Steine zusammentrug und ein Feuer machte, aus Reis und den Bohnen die erste Mahlzeit kochte.

Die ugandische Regierung stellt Pfähle und eine Plane. Allein könnte Joel Roba die Hütte nicht bauen

Wenn es eine Skala der Verwundbarkeit gibt in solchen Krisen, dann stehen oben die ganz Jungen und die ganz Alten. Seit vier Jahren fliehen die Menschen vor dem Bürgerkrieg im Südsudan. Inzwischen suchen über eine Million im Norden Ugandas Schutz. In den vergangenen Monaten kamen täglich 200 Menschen, die meisten zu Fuß. Durchschnittlich zwei Wochen sind sie unterwegs aus ihren Dörfern südlich der südsudanesischen Hauptstadt Juba bis an die ugandische Grenze. Es ist für viele ein Weg des Schreckens. Junge Frauen werden unterwegs vergewaltigt, Alte und Kinder sterben an Durst oder Erschöpfung. In den Wirren der Kämpfe, dem Chaos der Flucht verlieren viele ihre Angehörigen und retten gerade so das eigene Leben. 9000 unbegleitete Kinder sind unter den Flüchtlingen, über alte Menschen ohne Familie gibt es keine Statistik.

Stück für Stück wächst die Flüchtlingsstadt

Die ugandische Regierung gibt jedem Flüchtling 50 mal 50 Meter Land für ein autarkes Leben. Damit will man der Krise und vor allem deren langfristigen Folgen Herr werden. Es sollen keine Zeltstädte entstehen, in denen ­sich Krankheiten und Verzweiflung ausbreiten und die Menschen über viele Jahre von der Unterstützung durch Hilfsorganisationen abhängig sind.

Die ersten Flüchtlinge kamen vor drei Jahren. Damals entstand die erste Flüchtlingsstadt Bidi Bidi, im Camp und dessen Satellitenlagern leben inzwischen 600 000 ­Menschen. Längst haben die meisten Menschen sich ­Hütten gebaut, Gärten angelegt. Es gibt einen Markt, auf dem Flüchtlinge Gemüse, frittierte Teigtaschen, ge­brauchte Kleidung und Schuhe verkaufen. Bars und ­Restaurants sind entstanden, selbst die Allerärmsten verdienen sich Geld als Köhler oder als Schneider.

privat

Andrea Jeska

Andrea Jeska, Jahrgang 1964, findet, dass die Not alter Menschen zu wenig mediale Aufmerksamkeit erfährt. Oft sind sie den Härten der Flucht nicht gewachsen und fürchten, zurück­gelassen zu werden.
Matthias Luggen

Klaus Petrus

Klaus Petrus, Jahrgang 1967, musste sich manches Mal verrenken, um die drei Protagonisten richtig ins Bild zu setzen. Jemima Poni amüsierte sich sehr darüber.

Am Tag, nachdem sie das Stück Land, die Pfähle und die Plane bekommen hatten, kamen Männer von Hilfs­organisationen, um dem Sohn beim Einschlagen der Pfähle zu helfen: 18 senkrecht, dagegen sechs Quer­balken genagelt. Dann war es zu dunkel, um die Plane zu befes­tigen, und so haben sie die erste Nacht auf dem Boden unter Decken geschlafen. Es war kalt. Der Alte und sein Sohn gaben ihr in der Nacht eine Decke. Die alte Frau ging im ersten Tageslicht Holz sammeln, machte Feuer, setzte ­wieder Reis mit Bohnen auf. Und am Morgen aßen die beiden mit ihr. Nach dem Frühstück setzt sie sich neben ihn auf einen umgefallenen Baumstamm. Er lacht sie an, hat kaum noch Zähne im Mund, sie senkt den Kopf, lächelt verschämt zurück und zieht das Männerjackett über ihr schmutziges Kleid. 

Er braucht sie, und sie braucht ihn

Der Sohn kann nicht allein für den halbblinden Alten sorgen, ihn waschen und ihn herumführen. Er hat andere Sorgen. Sie brauchen Essen, der Alte seine Medikamente, auch neue Schuhe, eine Hose, sie müssen roden, Ge­müse anpflanzen, erst den Boden umpflügen, sie brauchen ­Samen und Wasser. Ohne die alte Frau, die ihm den Vater abnimmt, Feuer macht, Wasser holt, Mahlzeiten bereitet, sät und erntet, wird es nicht gehen.

Und sie? Sie hatte einen Ehemann. Von Liebe, 
sagt sie, war da nie die Rede. Sie haben gemeinsam gearbeitet, sechs Kinder be­kommen, dann war er tot; dann der Krieg, die Flucht. Als sie hier ankam, hat sie von anderen gehört, dass man kräftig sein müsse, 
wolle man überleben. Man müsse mit eigenen Händen ein Haus bauen und viele Stunden anstehen für Reis, Mehl, Bohnen, die in großen Säcken verteilt würden, die man allein zu seiner Hütte tragen müsse. Manchmal würden die Lebensmittel gekürzt. Dann reiche die Zuteilung nicht für den Monat, sondern gerade mal für drei Wochen. Dann brauche man Geld, man müsse Arbeit finden, egal welche.

Internationale Hilfsorganisationen kümmern sich um Wasser, Hygiene, Bildung. US-Aid etwa stellt Reis

Die Versorgung der Flüchtlinge ist hohe Logis­tik. Es gibt Hilfsorganisationen für jeden Bereich: Lebensmittelverteilung, Wasser, Brunnen, Hygiene, Bildung. Von den zugesagten Mitteln der internationalen Gemeinschaft sind bislang nur 29 Prozent geflossen, es fehlt viel Geld, und das erschwert alles. „Wir müssten viel mehr tun, bräuchten mehr Sozialarbeiter, mehr Therapeuten, mehr geschützte Räume für jene, die schwach sind“, sagt Ryan Duly, Projektkoordinator für Handicap International in Uganda. Die weltweit tätige Organisation kümmert sich seit September 2017 um die Schwächsten unter den Geflohenen: alleinerziehende Mütter, Kranke, Behinderte, unbegleitete 
Kinder, Traumatisierte. Sozialarbeiter und Psychologen besuchen die neuen Familien, bieten Hilfe an. Es gibt Gesprächskreise, Selbsthilfegruppen, psychologische Beratung. Dahinter steckt die Einsicht, dass das System der Massenversorgung und des Krisenmanagements unter schwierigen Voraussetzungen kaum Platz für individuelle Bedürfnisse lässt und schon gar keinen für jene, die zu schwach sind, um einen Neuanfang zu wagen.

„Wir haben uns schon immer gegenseitig geholfen“

Doch viele nehmen diese Hilfe nicht in Anspruch, obwohl sie sie bräuchten. Zu fremd sind ihnen die Ideen der Weißen, zu aufwendig die Strukturen dahinter. „Wir haben uns schon immer gegenseitig geholfen“, sagt ­Emmamos Lomoro trotzig. „In unserem Land gibt es seit Jahrzehnten Krieg, wenn da einer nicht für seine Nachbarn da wäre, wären wir wohl alle schon tot.“ Von dieser Solidarität in Zeiten der Not hört man in den Camps viele Geschichten: von Menschen, die verwaiste Kinder auf­nehmen, von ­Gläubigen, die erst eine Kirche bauen, dann ihre Hütte, und sich zu neuen Gemeinden zusammenschließen. Oder von alten Frauen wie Jemima Poni, die Schutz und Unterstützung bei Wildfremden finden.

Die Regierung vergibt Land. Die Flüchtlinge bauen selbst Städte mit Märkten auf. Nach drei Jahren müssen sie sich selbst versorgen

Auch die Ugander leisten ihren Teil. Sie nehmen Kinder auf, vermitteln Arbeit, geben Land. Denn was Krieg und Ver­treibung bedeuten, wissen sie aus eigener Erfahrung: 20 ­Jahre, ab Ende der 1980er, wütete die Lord’s Resistance Army (LRA) in Ugandas Norden und ermordete Zehntausende. Wer konnte, floh in den Süden des Sudans. Auch deswegen gibt es bislang kaum Konflikte zwischen der Bevölkerung und den Flüchtlingen. Zudem profitieren die Einheimischen. Seit Beginn der Krise bauen Hilfsorganisationen im armen und abgelegenen Norden Schulen und Krankenstationen, bohren Brunnen, verteilen Saatgut. Jedes Hilfsprojekt kommt zu 30 Prozent den Einheimischen zugute.

Nach dem Frühstück setzt sich Jemima Poni versonnen auf einen Baumstamm neben ihren neuen Lebensgefährten

Später an jenem Tag gehen die beiden Alten mühsam zum Versammlungspunkt, weil man ihnen sagte, alle Neuankömmlinge müssten sich dort einfinden. Sie hoffen auf ein Stück Fleisch, ein wenig Gemüse. In den zwei Reihen, die die Flüchtlinge bilden, stehen fast nur junge ­Männer, die Frauen mit Kindern und die Alten werden an den Rand gedrängt. Jemima und Joel sitzen dicht nebeneinander, ihr Arm berührt seinen. Doch es gibt keine Lebensmittel, nur das Versprechen, am anderen Tag Hacken und Schaufeln zu verteilen, damit man damit beginnen könne, sein Stück Land zu beackern. Der Campmanager hält eine Ansprache, mahnt, alle sollten in Frieden leben. „Wir trinken dasselbe Wasser, unsere und eure Kinder gehen in dieselben Schulen, wir essen das gleiche Essen. Tragt eure Konflikte aus der Heimat nicht in unser Land.“ Dann erklärt er noch, dass die Flüchtlinge für höchs­tens drei Jahre Hilfe und Essen erwarten könnten. „So Gott will“, sagt der alte Mann zu der alten Frau, „so Gott will, sind wir in drei Jahren beide tot.“ Sie nickt und lächelt ihm zu, als sei das ein schöner Gedanke.

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