Naeem Mohaiemen - Two meetings and a funeral 2017, Dreikanal-Digitalvideoinstallation, Hessisches Landesmuseum, Kassel, documenta 14
Naeem Mohaiemen - Two meetings and a funeral 2017, Dreikanal-Digitalvideoinstallation, Hessisches Landesmuseum, Kassel, documenta 14
Michael Nast
Eine gefährdete Welt
Ausstellungsjahr 2017: Sind die Künstler von heute zu stark auf Katastrophen konzentriert?
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
17.07.2017

chrismon: Herr Professor Smerling, viele der Themen zeitgenössischer Kunstausstellungen sind ausgesprochen politisch. Nehmen wir einmal die documenta in Kassel. Das Leben sei vielfach bedroht, sagt ihr Leiter, Adam Szymczyk. Die Menschheit stehe kurz davor, den Planeten Erde zu zerstören. Übertreibt die documenta politisch?

Walter Smerling: Das Wichtigste an der documenta sind natürlich nicht die Macher, nicht die Organisatoren, sondern die Künstler. Künstler haben das Recht zu übertreiben. Künstler halten uns den Spiegel vor. Manche sehen die Welt pessimistisch, andere optimistisch. Auch bei den Kuratoren gibt es solche und solche. Bei der documenta gibt es ja nicht nur das Thema Zerstörung, sondern auch viele konstruktive Gedanken. Besucher gehen dorthin, um sich neue Aspekte vermitteln zu lassen. Sie entscheiden selbst, ob sie sich darauf einlassen wollen.

Bei etlichen Ausstellungen begegnen uns in diesem Jahr Boote von Flüchtlingen im Mittelmeer. Gibt es zu viele Flüchtlingsboote in aktuellen Ausstellungen?

Nein, es gibt leider zu viele Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden. Und die meisten bringen sich auch noch in Lebensgefahr. Man muss sich immer vor Augen halten: Nur zwei, drei Flugstunden von Deutschland entfernt kommen täglich Menschen um, weil sie in ihren Heimatländern nicht leben und arbeiten können oder wollen. Thomas Kilpper greift diese Thematik sehr intensiv auf. Er hat sehr senibel Gebrauchsgegenstände aus dem Alltag der Flüchtlinge und Relikte ihrer Flucht ausgewählt. Sie erzählen vom Leben der oft anonym gebliebenen Menschen, sie sensibilisieren die Betrachter und geben uns Einblicke in die Umstände und in ihre Not.

Zur Wittenberger Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ gehören auch regionale in Kassel und Berlin. Die indische Künstlerin Shilpa Gupta und der in Berlin lebende Künstler Thomas Kilpper zeigen während der documenta ihre Arbeiten in der Karlskirche. Warum diese beiden? Und warum in einer Kirche?

Nun, die Kirche hat eingeladen, und wir haben genau überlegt, wen wir da anlässlich des Reformationsjubiläums präsentieren. Die Themen Flucht, Freiheit und Integration liegen sehr nahe. Die Künstler präsentieren diese Themen auf ganz unterschiedliche Weise. In der Kirche sehen Sie eine Traube von 3000 Mikrofonen, das Kunstwerk "I Keep Falling At You" von Shilpa Gupta. Diese Mikrofone, in die man üblicherweise hineinspricht, wurden umgewandelt in Lautsprecher, die etwas von der Seele des Fremden erzählen. Thomas Kilpper gestaltet in seinem Kunstprojekt "Ein Leuchtturm für Lampedusa" den Glockenturm der Karlskirche als Leuchtturm um. Und er zeigt in der Kirche Material von gestrandeten Flüchtlingsbooten, ein Kunstprojekt, das er gemeinsam mit Massimo Ricciardo realisiert. Die Relikte der Flüchtlinge in Vitrinen ("Inventuren der Flucht") sind erzählende Bilder, die veranlassen, über das Fremde und das Eigene nachzudenken. Diese Bilder gehen den Betrachter sehr intensiv an. Durch die Künstler wird dieser Ort der Religion und des Betens ein Ort, der uns aktuelle Einblicke in einen Teil der Welt ermöglicht. Er wird auch zum Pantheon unserer Probleme, also nicht nur ein Ort der Spiritualität, sondern auch ein Treffpunkt der Zivilgesellschaft mit ihren Sorgen und Nöten.

Kunst befasst sich mit Verletzungen des menschlichen Lebens, mit Gewalt, mit Schmerzen, mit Entbehrungen, mit Gefangenschaft. Warum tut sich die zeitgenössische Kunst so schwer, das Glück, den Erfolg, das heile Leben zu thematisieren?

Ja, die berühmte Frage nach dem heilen, schönen Leben. Schönheit im Sinne des Verstehens, der Aufklärung ist auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Phänomenen. Wenn Ayse Erkmen das rostige Gitter am Gefängnisausgang vergoldet, dann ist das einerseits schön, aber es verweist auch auf Paul Celan und sein Gedicht "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland". Künstler sind ja nicht die Dekorateure unserer Gesellschaft, sondern sie weisen uns auf die unterschiedlichsten Phänomene hin, die uns umgeben. Und dazu gehören sowohl Zerrissenheit und Tod als auch heiles Leben und Schönheit.

Ihre Passion für die Kunst verdanken Sie Joseph Beuys. Durch Zufall kamen Sie als junger Mann mit ihm ins Gespräch, er erklärte Ihnen Paul Klee und manches andere. Seit 1964 nahm Beuys auch an der documenta teil. Was bedeutet Ihnen Joseph Beuys?

Ohne Joseph Beuys wäre ich möglicherweise gar nicht auf die zeitgenössische Kunst gekommen. Er lud mich als 18-Jährigen unerwartet zu seinen Vorträgen "Kunst=Kapital" und "Direkte Demokratie" ein. Die Formel "Kunst gleich Kapital" fand ich so unverständlich und faszinierend zugleich, es machte mich sehr neugierig. Die Begegnung mit Beuys war die Initialzündung für mich, mich mit der zeitgenössischen Kunst zu befassen.

Als ich dann 1979 als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr kam, habe ich Joseph Beuys in die Kaserne eingeladen. 1000 Soldaten hörten im Casino seinen Vortrag, ein unglaubliches Erlebnis für alle, von den Soldaten über die Vorgesetzten bis zu den Kommandeuren. Der ersten Einladung von Joseph Beuys in eine Kaserne folgten weitere Veranstaltungen mit anderen Künstlern. Aber es gab auch wachsenden Widerstand gegen solche Veranstaltungen mit Soldaten. Manche sahen die Wehrtauglichkeit der Soldaten durch die Förderung kreativer Kräfte in Gefahr. Damals war ich eine Art Kunstbeauftragter der Kaserne und konnte mich während der gesamten Dienstzeit auf die Vermittlung von Kunst konzentrieren.

Bei der Ausstellung "Luther und die Avantgarde" in Wittenberg spielt thematisch die Freiheit eine große Rolle. Warum drängt dieses Thema so gewaltig nach vorn? Leben wir in Deutschland denn nicht in einer freien Gesellschaft?

Um Joseph Beuys zu zitieren: "Und wenn du in Ketten gefesselt bist, dein Geist bleibt frei." Wir in Zentraleuropa leben in einer wunderbaren Situation. In meinen 58 Jahren habe ich noch keinen Krieg erlebt. Wir haben fast 70 Jahre Frieden in Westeuropa. Wir haben ein Grundgesetz, in dem die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft garantiert wird und die unantastbare Würde des Menschen. Aber wir erleben auch täglich Ängste. Terroristen gehen auf den Marktplatz und sprengen sich in die Luft und reißen andere Menschen mit sich in den Tod. Angst lässt uns darüber nachdenken, wie wir mit der Freiheit umgehen sollten. Angst ist ein schlechter Begleiter der Freiheit. Angst gefährdet die Freiheit. Künstler reflektieren über die Angst. Vielleicht nehmen sie uns damit die Angst vor der Angst.

Können Sie das konkretisieren anhand der Ausstellung "Luther und die Avantgarde"?

Schauen Sie sich die Räume im ehemaligen Gefängnis an. Es ist für Inhaftierte ein unangenehmer Ort, wo niemand gern hingeht. Die Kunst schafft es, ihn umzuwandeln in einen Ort, vor dem man jetzt Schlange steht. Ein wunderbares Zeichen für die Bereitschaft, sich auch mit belastenden Themen auseinanderzusetzen.

Ich denke an die karge Zelle mit der Lichtinstallation von Olafur Eliasson ("Inner touch sphere"). Er wandelt diese Zelle durch Lichtreflexe in einen poetischen Raum um. Und er schafft es, den Betrachter in eine meditative, kontemplative Rolle zu bringen.

Oder nehmen Sie den wunderbaren Raum von Tal R, der mit einer dichten Ansammlung von Bildern arbeitet, die geschlossene schwarze Jalousien zeigen und wie eine plakative Aussageverweigerung wirken, aber auch anziehend wirken. Oder Jan Svenungsson ("Credo"), mit seinen Wandinschriften, in denen er sich in einer rätselhaften Sprache und Orthografie mit Luthers Übersetzungsarbeit auseinandersetzt. Viele Räume verleiten, verführen die Besucher, über ihre eigene Situation nachzudenken.

Aber Angst kann man doch durchaus in der Zelle von Günther Uecker empfinden . . .

Wohl eher Trauer und Scham als Angst. Uecker zeigt ein Video von einer Kunstaktion am Meer. Es geht um das Schicksal von Flüchtlingen vor 72 Jahren und heute. Im Mai 1945 wurden Leichen in Güstrow angeschwemmt. Britische Bomber hatten das Schiff Cap Arcona bombardiert und versenkt, nicht wissend, dass 4600 KZ-Häftlinge und britische Gefangene an Bord waren. Das Schiff wurde am 3. Mai 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs durch britische Flugzeuge versenkt, die meisten Menschen kamen ums Leben. Uecker hat das Motiv des Todes aufgegriffen und uns in seinem Video gezeigt, wie er als Kind damit umging und wie er es heute tut, angesichts der Sterbenden im Mittelmeer. Es ist nicht nur bedrückend, sondern zieht die Betrachter auf eine nachdenkliche Weise in seine Beobachtungen und Überlegungen hinein.

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