Andrea Sawatzki und Katja Lange-Müller
Patrick Desbrosses
Tote Mäuse retten
Helfen klappt nicht immer – wissen Andrea Sawatzki und Katja Lange-Müller. Aber wenigstens bei sich selbst sollte man es versuchen
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
Tim Wegner
20.09.2016

chrismon: Wann haben Sie gewusst, was Ihr Beruf wird?

Andrea Sawatzki: Eigentlich wollte ich Tierärztin werden.

Katja Lange-Müller: Ich auch!

Sawatzki: Aber es hat mit der Schule nicht so geklappt. Ein Lehrer legte mir nahe, auf eine Schauspielschule zu gehen. Ich bin viermal durch diese Prüfungen gefallen, zwischendurch wollte ich Kellnerin werden. Ich dachte, das reicht doch fürs Leben. Ich habe 62 Theater angeschrieben, fünf Vorsprechangebote bekommen. Übrig blieben Linz und Wilhelmshaven. Nach zweieinhalb Jahren Landesbühne Wilhelmshaven war die Leidenschaft erwacht.

Warum Tierärztin, Frau Lange-Müller?

Lange-Müller: Am liebsten hätte ich mich mit Kerbtieren be­schäftigt, das ist eine große Familie, die sind vergleichsweise still. Man muss sie nicht melken, keine Geburtshilfe leisten...

Sawatzki: Was sind Kerbtiere? Kellerasseln?

Lange-Müller: Ja, Asseln auch, aber vor allem Käfer. Ich fand Tiere allgemein interessant, ich habe sie nicht geliebt, aber bestaunt. Später habe ich sterbende Spatzen in die Hand genommen, weil ich sehen wollte, wann genau sie tot sind. Aber das Sterben ist ein Übergang – den einen Moment gibt es nicht.

Sawatzki: Und ich habe als Schulkind immer versucht, tote Tiere wieder lebendig zu machen. Meine Mutter war Krankenschwes­ter. Ich habe toten Maulwürfen und Mäusen, die ich gefunden habe, richtige Spritzen mit Traubenzuckerlösung gesetzt.

Lange-Müller: Injektionen, das ist stark.

Es hat aber nicht geklappt?

Sawatzki: Nee, irgendwann musste ich ja auch zur Schule, ich hab’s nicht weiterverfolgt. Aber ich hatte ein sehr gutes Gefühl!

Krankenschwester wollten Sie nicht werden, wie Ihre Mutter?

Sawatzki: Nee. Komischerweise wollte ich lieber Tieren helfen.

Lange-Müller: Das kann ich verstehen! Ich bin ja dann aus der Schule geflogen mit 16 wegen Frechheit, dann war klar, dass all diese Blütenträume nicht mehr reifen würden. Und irgendwie blieb ich aufsässig, frech und verlogen. Verlogen war eine ganz ­gute Voraussetzung, um später Schriftstellerin zu werden! Ich habe Schriftsetzer gelernt. Schriftsetzer waren komische Leute – sehr pingelig, zwangsgebildete Proleten. Man musste ja, wenn man mit Bleisatz hantierte, lesen, was man setzte. Das Unangenehme an dem Beruf war, dass einem die Inhalte immerfort durch den Körper gingen. Das führte dazu, dass ich, als ich anfing zu schreiben, sehr viel später, da arbeitete ich schon in der psychiatrischen Klinik, einen absoluten Widerwillen hatte gegen Wortwiederholungen und überhaupt gegen schriftlich fixierte Geschwätzigkeit.

Sawatzki: Und warum sind Sie so lange in der Klinik geblieben?

Lange-Müller: Die längste Zeit habe ich in der Psychogeriatrie gearbeitet, Laken wechseln fünfmal am Tag, die dicken schweren Frauen auf diese Eimerstühle schleppen – auch physisch eine ­Herausforderung. Aber irgendwie war es gut. Du machst, was du machst. Wenn du jemanden fütterst und dich halbwegs geschickt anstellst, hast du Erfolgserlebnisse. Das mochte ich.

"In Kliniken werden misshandelte Kinder manchmal nicht als solche erkannt"

Und das Schreiben...

Lange-Müller: ...habe ich ziemlich spät angefangen, in den Nachtwachen. Also unter dem Druck des Erlebten. Mir war eine Patientin gestorben, das erste Mal. So etwas wie Supervision hatten wir ja nicht. Wir mussten mit allem selber fertig werden. Untereinander hat man sich auch nicht ausgetauscht, man gab nicht zu, dass einem das an die Nieren ging oder Aggressionen weckte.

Und das musste irgendwann raus...

Lange-Müller: Ja. Wer behauptet, dass er keinerlei autotherapeutische Veranlassung gehabt habe bei seinen ersten literarischen Versuchen, der lügt. Das weiß ich. Und natürlich habe ich damals noch gedacht, das musst du jetzt aufschreiben, damit die Menschen von diesen Zuständen erfahren. Dieser Furor der Empörung spielte schon eine Rolle.

Frau Sawatzki, Ihr erster Roman spielte in der Psychiatrie. Ein Mädchen wacht dort auf und weiß gar nicht, wo sie ist.

Sawatzki: Ja. Ich beschäftige mich seit langem mit dem Thema Kindheitstrauma. Mit meiner Stiftung versuchen wir, trauma­tisierten Kindern im Alter von zwei bis zwölf Jahren einen Weg zurück ins Leben zu ermöglichen. Solche schwer geschädigten jungen Menschen versuchen später trotzdem, ein normales Leben zu führen. Aber die Bilder ihrer Kindheit werden sie nicht los, dafür benötigen sie therapeutische Hilfe, die sie ablehnen. Da genügt dann eine schwere Enttäuschung oder ein Schicksalsschlag, um das „Leben-wie-jeder-andere-Gerüst“ einstürzen zu lassen. Das ist auch der Grundgedanke meiner Thriller: Man könnte viel verhindern, wenn man sich der Kinder ganz früh annehmen würde.

Lange-Müller: In der forensischen Psychiatrie sind viele Menschen, die genau deshalb straffällig geworden sind. Das Verrückte ist ja, dass Kinder, die geschlagen werden, mitnichten Pazifisten werden, sondern oft selber Schläger. Es gibt immer eine Phase, wo du dir einbildest, du könntest alles anders machen. Aber in dem Moment, wo derjenige, der dir Leid angetan hat, nicht mehr da ist, übernimmst du dessen Funktion. Du wirst ihm ähnlich.

Kann man dieses Muster brechen?

Lange-Müller: Ja, so wie es Frau Sawatzki erklärt hat – indem man auf Signale schon früh reagiert, das ist mühsam, und wer sollte es machen, von der Familie ist da meist nicht viel zu erwarten.

Sawatzki: Selbst in den Kliniken werden misshandelte Kinder manchmal nicht als solche erkannt. Die sind dann die Treppe runtergefallen.

Kinder lieben ja auch ihre Eltern.

Sawatzki: Ja, das ist hier das Problem. Misshandelte Kinder verraten ihre Eltern nicht. Die einzige Möglichkeit, sie in ein lebenswertes Leben zurückzuführen, besteht darin, mit ihnen über das Geschehen zu sprechen, die Bilder wirklich aufkommen zu lassen.

"Der Mensch ist wie die Arche Noah. Alle Tiere an Bord, aber nie alle an Deck"

Wer gut aufwächst, hat hingegen heute viele Optionen. Kann man Kindern helfen, herauszufinden, was sie werden wollen?

Sawatzki: Oftmals führen einen verschiedene Begegnungen ­dahin, wo man richtig ist.

Lange-Müller: Stimmt. Ich hätte nie vermutet, dass ich ein ge­radezu akrobatisches Geschick bei der Pflege von Menschen entwickeln kann. Als ich das entdeckte, war das toll. Meine Oma hat mal gesagt, der Mensch ist wie eine Arche Noah, es sind alle Tiere an Bord, aber nie sind die auch alle gleichzeitig an Deck.

Sawatzki: Oh, das ist schön!

Lange-Müller: Ja. Je nach Situation stehen mal diese Viecher an der Reling, mal jene. Die anderen hocken unten und denken: ­Unsere Stunde schlägt auch noch.

Sawatzki: Traurig ist nur, dass bei vielen Menschen all diese Tiere immer unter Deck bleiben, auch bei jungen Menschen, die denken, sie wollen möglichst schnell Geld verdienen. Da geht vieles an einem vorüber, was das Leben schöner gemacht hätte.

Lange-Müller: Dieses Geldverdienen hat ja mit Wünsche erfüllen zu tun. Und die Wünsche sind zum Teil vollkommen bescheuert. An den Wünschen müsste man arbeiten!

Ein Wunsch kann sein, dass man gebraucht werden will...

Lange-Müller: Ein sehr bescheuerter. Obwohl, so bescheuert nun auch nicht. Man kann alles weiß sehen oder alles schwarz.

Entwicklungshelfer, Katastrophenhelfer sagen manchmal, das sei ihre Berufung.

Lange-Müller: Die meisten haben ein Helfersyndrom. Das sind die, die nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren sind, die ein bisschen herumgeschubst, nicht besonders geliebt ­wurden. Sie sagen sich: Mir geht’s nicht richtig gut, aber verglichen mit den armen Schweinen geht’s mir prima. Man muss sich nicht mit sich selbst beschäftigen – und stürzt sich mit seinem Helferkaffee­wärmer auf die nächstbesten Bedürftigen.

Aber es gibt doch auch selbstlose Helfer?

Lange-Müller: Wenige. Doch es gibt Helfer, die umzugehen ­wissen mit Nähe und Distanz. Sie sind sachlicher, mitunter ziemlich ehrgeizig und erfolgsorientiert. Sie schauen genauer: Was braucht der Mensch? Meine Zuneigung oder ein Medikament? Die glauben nicht daran, dass Hilfe von Zuneigung abhängig ist, was nun auch wieder nicht ganz richtig ist. Ein bisschen Zu­neigung kann ja kaum schaden beim Helfen.

Was braucht der Mensch? Klingt nach Coaching. Frau Sawatzki, Sie spielen eine unfreiwillige Coachin, die einem unbegabten jungen Mann beibringen soll, wie man Pfarrer wird...

Sawatzki: Dieser Coach ist eigentlich Schauspielerin, und sie macht das nur, um ihre Miete zu verdienen. Bei dem jungen ­Pfarrer hat sie es schwer, aber sie braucht wirklich dringend Geld. Das weckt eine gewisse Energie, einen Ehrgeiz, ihm das Predigen beizubringen. Das schafft sie nicht wirklich, er ist eine harte Nuss. Aber sie macht ihn auf jeden Fall lockerer. Sie bringt ihm bei, dass er die Kraft hat, sich zu widersetzen. Auch seinem Vater gegenüber. Sie öffnet ihm die Augen.

Wo führt das hin, wenn wir uns alle immer weiter coachen?

Lange-Müller: Das führt in einen – blödes Wort – breit aufgestellten Berufszweig, den des Coachings. Der Mensch ist unzulänglich, der Mensch macht vieles falsch, der Mensch ist zu hässlich – darüber entstehen Betätigungsfelder, die ohne diese Einflüsterungen niemals entstanden wären. Das geht mir schon ein bisschen auf den Keks.

Sawatzki: Ja, mir auch!

"Viele wollen komisch sein und können keine ganzen Sätze schreiben"

Coaches für Schauspieler gibt es bestimmt auch...

Sawatzki: Wie Sand am Meer. Aber viele Coaches, vor allem im psychologischen Bereich, haben oft nur Wochenendkurse besucht, das sind ja keine ausgebildeten Therapeuten. Das ist brandgefährlich und teuer noch dazu. Wenn man einen Coach aufsucht, hofft man, eine innere Freiheit zu erlangen, Selbstbewusstsein zu entwickeln, aber oft kommt es so, dass man nachsagt, was einem vorgebetet wird. Das führt zu noch größerer Unfreiheit, Unehrlichkeit sich selbst gegenüber.

Längst gibt es auch Humor-Coaching für Manager...

Sawatzki: Wirklich? Oh, das ist ein gutes Thema für eine neue Geschichte. Das kann ja irrsinnig komisch werden! Wenn man sich die Manager vorstellt, bei denen das dann nicht funktioniert...

Kann Coaching aus einem drögen Nadelstreifenträger einen lustigen Kerl machen?

Sawatzki: Das bezweifle ich, aber es fällt mir tatsächlich immer mehr auf, dass Menschen, die immer einen Witz auf den Lippen haben, unkompliziert und jovial rüberkommen, sofort eine Zu­hörerschaft um sich scharen können. Und andere, die vielleicht viel mehr in der Birne haben, bleiben in der Ecke.

Lange-Müller: Ich seh das ein bisschen anders. Die Begabung für Humor ist an Intelligenz gebunden. Und natürlich ist Komik auch etwas zutiefst Plebejisches. Der Mensch lacht nun mal gerne.

Einen völlig humorlosen Menschen habe ich noch nicht getroffen.

Sawatzki: Ich schon. Ganz schlimm.

Lange-Müller: Manchmal, wenn ich so mürrische Berliner Verkäuferinnen vor mir habe, überfällt mich das Bedürfnis, die zum Lachen zu bringen. Meistens gelingt es mir – wenn ich selber gut drauf bin.

Aber alle sollen jetzt witzig sein. Wenn man Frauen fragt, was für einen Mann sie sich wünschen, sagen sie: einen mit Humor.

Sawatzki: Wie schrecklich. Wenn man bei Facebook diese Posts liest, dann merkt man auch, dass viele komisch sein wollen und dabei gar nicht mehr fähig sind, ganze Sätze zu schreiben. Aber, um noch mal auf das Coachen zurückzukommen, Frau Lange-Müller, dann finden Sie es gut, wenn man Managern hilft, ihren verschütteten Humor auszugraben?

Lange-Müller: Es kann ihnen nicht schaden, wenn sie etwas weniger grimmig wirken. Aber ich halte es auch für gefährlich, denn Humor ist natürlich auch eine Verführungswaffe. Vielleicht ist es doch besser, wenn die biestig und grimmig bleiben, die Manager.

"Ich muss mich zwingen Hilfe anzunehmen"

Kann man denn nun ein anderer Mensch werden – mit Hilfe?

Sawatzki: Das kann ich mir nicht vorstellen.

Lange-Müller: Ich habe schon Menschen erlebt, die mir wie umgekrempelt vorkamen.

Sawatzki: Nach einem Coaching?

Lange-Müller: Nein, nach einer tiefen Erfahrung.

Sawatzki: Ja klar. Oder durch Enttäuschungen. Die sind erst mal blöd, ich kenne mich da aus, aber sie sind ein wichtiger Teil des Lebens. Wenn man einen Berufswunsch nicht erfüllen kann, muss man nach was anderem suchen und nicht denken, ich bin halt zu nichts gut. Wenn man stark genug ist, diese Enttäuschungen zu akzeptieren, kann man ziemlich viel daraus lernen und ein gutes Leben haben. Das sage ich auch immer unseren Söhnen.

Gibt es Menschen, bei denen das Helfen schwerfällt?

Lange-Müller: Als Profi hilft man auch denen, die nicht so nett sind, man macht einfach seinen Job. Bei denen, die immer rumkrakeelen, fällt es eben ein bisschen schwerer.

Sawatzki: Als ich das erste Mal diese Stiftung in Hannover besucht habe, fiel es mir schwer. Da sind Kinder, für die das die letzte Anlaufstelle ist. Ich bin mit offenem Herzen hingekommen. Aber die erste Begegnung mit einigen Kindern war wirklich wie ein Schlag ins Gesicht. Die wollten mich nicht, die waren aggressiv, ich durfte in ihre Zimmer gar nicht rein. Es war nicht so, wie ich mir das ausgemalt hatte: Arme Kinder, die dankbar sind, wenn ihnen liebe Erwachsene durchs Leben helfen. Ich dachte: Merken die das überhaupt, wenn man ihnen hilft? Die sind ja so kaputt! Dann habe ich mich geschämt. Es ging ja erst mal um den Versuch – und nicht darum, dass die mir dankbar sind.

Lange-Müller: Das ist ein starkes Motiv, und es ist auch voll­kommen legitim, Dankbarkeit zu erwarten. Das ist dann der ­Moment, wo der professionelle Helfer sich kurz schüttelt und sich sagt: okay. Dann ist es eben so.

Können Sie sich selber gut helfen lassen?

Sawatzki: Inzwischen. Das hat sehr lange, Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gedauert. Heute geht das sehr gut.

Lange-Müller: Eher nicht. Es hat sich ein bisschen gebessert, inzwischen kenne ich Tricks, mit denen ich mich zwingen kann, Hilfe anzunehmen. Das ist ganz einfach. Stellen Sie sich vor, Sie sind der andere. Die Rollen tauschen. Das Eigene auf den Helfer projizieren, und den Helfer zu demjenigen machen, dem geholfen werden muss.

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