Qualitätsmanagement, Taufquote, Markenkern ­- ein Streitgespräch über die Kirche im 21. Jahrhundert
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Der Volkskirche droht ein drastischer Schrumpfungsprozess: Die Mitglieder werden weniger, die Einnahmen sinken, Gemeinden müssen zusammengelegt werden. Doch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) will die Kehrtwende einleiten. Eine vom Rat der EKD eingesetzte Perspektivkommission hat im Sommer 2006 ein Impulspapier veröffentlicht, das zu einem Mentalitätswechsel aufruft: "Wachsen gegen den Trend", lautet die Devise. Mitglieder sollen gewonnen, neue Finanzierungswege erschlossen und Ehrenamtliche stärker in die Verkündigung eingebunden werden. Ist das der richtige Weg? Darüber unterhalten sich Thies Gundlach und Klaus Weber.

chrismon: Herr Weber, die Pfarrer sollen eine Schlüsselrolle in der Kirche haben, heißt es im Impulspapier der EKD. Was sagen Sie dazu?

Klaus Weber: Diese Schlüsselrolle hatten sie schon immer. Nur fordert das Impulspapier, Pfarrer sollen sich künftig um die Kerngemeinde, aber auch mehr um distanzierte Kirchenmitglieder und Nichtmitglieder kümmern ­ und das bei weniger Pfarrstellen. Wie soll das zusammenpassen?

Thies Gundlach: Es ist gerade die Absicht des Impulspapiers, dass sich Pfarrerinnen und Pfarrer wieder vordringlich ihren geistlichen Kernaufgaben, Seelsorge und Verkündigung, widmen können. Das geht aber nur, wenn man nicht jeden Bauausschuss mit dem Pastor beschickt. Und es ist ebenfalls eine vordringliche Aufgabe, distanzierte Kirchenmitglieder und Nichtmitglieder besser anzusprechen als bisher. Dafür brauchen wir einen Mentalitätswechsel. Die der Kirche eng verbundenen Mitglieder, die sogenannte Kerngemeinde, sollten zusammen mit dem Pfarrer diesen Weg nach außen gehen.

Weber: Pfarrer sollen demnach in allem besser werden: in der Art, wie sie Gottesdienste halten, wie sie Hochzeiten vorbereiten, Konfirmanden- und Religionsunterricht geben. Und sie sollen auch noch Ehrenamtliche rekrutieren, sie weiterbilden und fördern. Aber wenn es dann nur noch um Führungsaufgaben geht, haben sie die falsche Ausbildung! Außerdem erwarten Kirchenmitglieder nicht nur die Betreuung von Ehrenamtlichen. Die wollen den Pfarrer!

"Liebe Omas, nehmt bitte den Bus und kommt in ein Regionalzentrum."

Gundlach: Das ist sicher nicht leicht, aber es gehörte doch immer schon zu unseren Aufgaben. Damit sich Pfarrer auch in Zukunft auf das Wichtigste konzentrieren und ihren Beruf auf hohem Niveau ausüben können, müssen wir Ehrenamtliche gewinnen: Laienprediger, Prädikanten und Lektoren. Und wir müssen ihnen das auch zutrauen, sie dazu ermutigen.

chrismon: Ehrenamtliche treten an die Stelle von Pfarrern?

Gundlach: Teilweise schon. In Mecklenburg, in Pommern, in Brandenburg, aber auch in ländlichen Gebieten Westdeutschlands kann die hauptamtliche Versorgung für die vielen kleinen Kirchen und Dörfer schon jetzt nur mit Mühe aufrechterhalten werden. Künftig wird das auch anderswo so sein. Deswegen muss ein Pfarrer um sich herum einen geistlichen Laienstand bilden, der mithilft, Gottesdienste und Andachten zu gestalten. Es wäre absurd zu fordern: "Liebe Omas, nehmt bitte den Bus und kommt in ein Regionalzentrum."

Weber: Das Impulspapier will ein Drittel Pfarrer, ein Drittel Prädikanten, ein Drittel Lektoren für die Verkündigung. Ich denke nicht, dass die Qualität der Gottesdienste gehalten werden kann, wenn man vermehrt auf Leute setzt, die im Schnellverfahren ausgebildet wurden, und die man damit auch nicht ernst nimmt.

Gundlach: Seien wir ehrlich: Der Pfarrer ist doch auch keine Garantie für einen guten Gottesdienst. Aber Kritik an unserer Arbeit lassen wir uns kaum gefallen. Ja, es gibt ein heimliches Schweigegebot zur Qualität der eigenen Predigten. Zuweilen hat man den Eindruck, wir können leichter über Sexualität reden als über die letzte Predigt. Pfarrer sind oft sehr empfindlich, wenn man sie in ihren Kernvollzügen kritisiert. Im Impulspapier wird dafür plädiert, dieses Tabu aufzuheben. Das ist überfällig!

Weber: Eine Begleitung von Pastoren gibt es ja längst. In vielen Landeskirchen wurden Personalgespräche eingeführt. In Bayern gibt es in jedem Pfarrkapitel einen Senior, das sind gewählte Vertrauenspersonen. Sie begleiten die Pfarrer seelsorgerlich und können einfühlsamer als Vorgesetzte über Schwachstellen reden.

"Wie wollen Sie überhaupt die Qualität einer Beerdigung messen?"

Gundlach: Aber wann erlebt man mal einen Kollegen in einer Amtshandlung? Das kommt praktisch nicht vor. Oft hören Pastoren: Die hat aber leise gesprochen. Oder: Der hatte die Schuhe nicht geputzt. Aber eine faire, fachlich qualifizierte Beurteilung gibt es selten. Bisher werden die Pfarrerinnen und Pfarrer mit ihrem eigenen Qualitätsmanagement alleingelassen!

Weber: Aber dafür brauchen wir wieder Leute, die dafür gut ausgebildet sind. Pfarrer brauchen auch mehr Zeit für die Vorbereitung von Taufen, Trauungen und Beerdigungen. Wie soll das gehen, wenn ihnen immer mehr aufgebürdet wird?

Gundlach: Wir müssen doch viel weniger Taufen und Trauungen vornehmen als vor zehn Jahren. Zwischen 1990 und 2001 ist die Zahl der Taufen um ein Drittel zurückgegangen, die der Trauungen um die Hälfte. Das hat in erster Linie mit der demografischen Entwicklung zu tun. Eigentlich müssten die Pfarrer in Zukunft dafür mehr Zeit haben. Und die Amtshandlungen sind nun einmal die häufigste Gelegenheit, Ungeübte und Distanzierte mit der Wahrheit und Schönheit unseres Glaubens bekannt zu machen.

Weber: Die große Mehrheit der Pfarrerinnen und Pfarrer, die mir begegnen, gestaltet gerade die Amtshandlungen besonders sorgfältig. Außerdem: Wie wollen Sie überhaupt die Qualität einer Beerdigung messen? Das geht doch gar nicht!

Gundlach: Doch. Man kann handwerkliche Sorgfältigkeit, Zuverlässigkeit, Wiedererkennbarkeit des Evangelischen, die Erreichbarkeit, die Vor- und Nachsorge überprüfen. Dabei geht es nicht darum, den Inhalt von Verkündigung zu kontrollieren; aber wie etwas gesagt wird, das kann man beurteilen.

"Wir Menschen können die Kirche nicht erhalten."

Weber: Ob die Menschen eine geschliffene Ansprache wirklich so viel mehr tröstet, ob sie daraufhin ein Leben mit Gott führen wollen oder nicht, das ist doch völlig unverfügbar! Diese geistliche Dimension kommt im Perspektivpapier gar nicht vor. Da geht es nur um die äußerlich sichtbare Qualität.

Gundlach: Natürlich können wir nicht garantieren, dass die Menschen getröstet nach Hause gehen. Aber wir können dafür sorgen, dass bei einer Trauerfeier der richtige Name genannt wird. Der Satz, dass der Geist weht, wo er will, ist ein Satz über die Freiheit Gottes, nicht über unsere Arbeit. Es gibt auch die Tendenz, sich hinter dem, was man Freiheit des Geistes Gottes oder Unverfügbarkeit nennt, in Deckung zu bringen und zu sagen: Was ich hier mache, kann man doch gar nicht beurteilen.

Weber: Trotzdem sage ich mit Martin Luther: Wir Menschen können die Kirche nicht erhalten. Unsere Nachfahren auch nicht. Sondern ER ist es. Wenn nun aber ­ wie im Perspektivpapier angekündigt ­ die Zahl der Pfarrer weiter reduziert wird, dann bin ich mir sicher: Es werden noch weniger Kinder getauft, noch weniger Paare getraut, und es wird noch weniger kirchliche Beerdigungen geben. Weil kein Pfarrer vor Ort ist. So etwas hängt mit der Nähe zum Pfarrer zusammen. Und nicht nur mit der schwer messbaren Qualität der Angebote.

Gundlach: Auch wenn die Wahrheit schmerzt: Schon in naher Zukunft wird die evangelische Kirche nicht mehr so viele Pfarrerinnen und Pfarrer finanzieren können, obwohl das Impulspapier eine unterproportionale Kürzung der Pfarrstellen vorschlägt. Lassen Sie sich doch als Vertreter des Pfarrerverbands mit ins Boot locken und sagen Sie: Wir werden mit weniger Pfarrern theologisch verantwortliche Verkündigung leisten.

"Was heißt hier meine Konfirmanden?"

Weber: Da können Sie locken, so viel Sie wollen, wir sehen die Kürzungen bei Pfarrern mit großer Sorge. Bei uns in Bayern nimmt übrigens die Zahl der Gemeindemitglieder kaum ab. Im Gegenteil, sie ist in der Vergangenheit gestiegen. Deshalb ist es ein falsches Konzept, die Pfarrerschaft insgesamt abzubauen, denn das wäre der Abschied von der Volkskirche. Außerdem gibt es eine verhängnisvolle Tendenz: Die Gemeinden werden immer größer, aber Mitarbeiter, die entlasten könnten, werden aus finanziellen Gründen abgebaut ­ Pfarramtssekretärinnen zum Beispiel.

Gundlach: In Süddeutschland gibt es einen Zuwanderungsgewinn, das ist richtig. Aber weithin müssen die Gemeinden ihre Kräfte in Regionen bündeln. Das ist doch längst der Fall. In der Region sollten darum nicht hier eine Viertelstelle und dort zehn Prozent gekürzt werden. In einer Region muss es zumindest eine wirklich präsente Sekretärin und einen Kirchenmusiker geben. Wir müssen größere Einheiten schaffen, die aber dann verlässlich funktionieren. Ein Beispiel: Zwei verbliebene Konfirmanden müssen nicht vom Ortspfarrer betreut werden, da sollte eine Region gemeinsame Konfirmandenarbeit machen, und zwar mit einem Pfarrer, der dafür besonders geeignet ist.

Weber: Wir reden immer davon, nahe bei den Menschen sein zu wollen. Wie soll das gehen, wenn sich alles in der Region abspielt? Es ist doch wichtig, dass der zuständige Pfarrer seine Konfirmanden kennt. Dass er die Taufeltern kennt, die Konfirmanden, die Traupaare, die Leute, die er später beerdigt. Die Leute wollen persönliche Beziehungen!

Gundlach: Was heißt "meine Konfirmanden"? Es gibt auch eine Art "Gemeindeengführung" bei uns Pfarrern, die nur bis zum eigenen Kirchturm denkt.

"Lasst uns nicht gebannt wie ein Kaninchen auf die Schlange starren"

Weber: Ich war 21 Jahre lang Pfarrer in einer Gemeinde in Franken. Die Leute, die ich konfirmiert habe, habe ich später getraut, und ihre Kinder habe ich getauft. Die sind mit mir einen Weg gegangen, und wir haben eine persönliche Beziehung entwickelt. Es ist ja gar nicht so, dass in jeder Region alle wegziehen.

Gundlach: Ich war zehn Jahre lang Pfarrer in Hamburg. Da habe ich auch viele persönliche Beziehungen zu Traupaaren und Taufeltern aufgebaut. Aber heute fragen sie eher, ob ich zur Taufe ihrer Kinder und Enkel nach München komme. Die Mobilität der nächsten Generation ist doch ungleich höher geworden.

Weber: Die volkskirchlichen Strukturen werden verloren gehen. Künftig soll es nur 50 Prozent normale Ortsgemeinden in Deutschland geben. 25 Prozent sollen spezielle Citygemeinden oder andere Profilgemeindetypen sein. Und 25 Prozent andere Angebote.

Gundlach: Aber die Entwicklung ist doch schon im Gang: Wie viele Gemeinden mussten schon fusionieren, weil die Einzelgemeinde zu klein wurde! Das gibt es in jeder Landeskirche. Natürlich zwingen uns auch die fehlenden Finanzen dazu, aber haben Sie mal versucht, etwas in finanziell prosperierenden Zeiten zu verändern? Dann sagen alle: Wieso ändern? Es läuft doch. Im Impulspapier wird für eine andere Haltung geworben: Lasst uns nicht gebannt wie ein Kaninchen auf die Schlange starren, sondern lasst uns aus den Herausforderungen Chancen entwickeln!

"Warum nicht in der Kirche Berufskarrieren planen und fördern?"

Weber: Aber wo soll dieser Mentalitätswechsel herkommen? Wir starren auf die zurückgehenden Finanzmittel. Dann fordern Sie einen Mentalitätswechsel und nennen als Anlass dafür doch wieder nur die fehlenden Finanzen!

chrismon: Herr Gundlach, Sie fordern eine andere Personalpolitik. Soll die Kirche da auch von Siemens und BenQ lernen?

Gundlach: Da sollten wir uns andere aus der Wirtschaft zum Vorbild nehmen. Warum zum Beispiel sollten wir nicht auch in der Kirche Berufskarrieren planen und fördern? Es gibt unter unseren Hauptamtlichen viele gute Leute, die auf den falschen Stellen sitzen. Es wäre gut, wenn unsere Personalführung flexibler wäre. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass Dekane mehr Befugnisse bekommen, Pfarrer zu versetzen. Bei den wenigen freien Stellen gibt es allerdings auch kaum Spielraum. Es gilt das "Mikado-Prinzip": Wer sich bewegt, hat verloren! Pfarrerinnen und Pfarrer können sich ja meist nicht mal über die Landeskirchengrenzen hinaus bewerben.

chrismon: Hilft es da, die Landeskirchen auf acht bis zehn zu reduzieren, wie es das Perspektivpapier vorschlägt?

Weber: Das kann sein, aber es ist meines Erachtens nicht entscheidend. Wichtiger als alle Synergieeffekte und Kosteneinsparungen, die man sich von Zusammenschlüssen erhofft, ist doch, dass die Menschen in ihrer Kirche eine Heimat finden. Dass sie sich in ihrer Kirche wohlfühlen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln und sich mit der Kirche identifizieren.

Gundlach: Das finde ich auch, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass kleinere Einheiten automatisch mehr Beheimatung geben. Wenn Sie eine kleine Landeskirche mit einer ähnlich großen Region aus einer größeren Landeskirche vergleichen, finden Sie in Sachen Identifikation kaum einen Unterschied.

Weber: Einige Landeskirchen arbeiten ja längst an einer Fusion oder schaffen zumindest gemeinsame Predigerseminare und Gottesdienstinstitute, um Kosten zu sparen. Viele hat aber die Zahl von acht bis zwölf Landeskirchen im Perspektivpapier schockiert.

Gundlach: Solche Zahlen sind ja nicht fertige Zielvorstellungen. Es geht in dem Perspektivpapier zuerst um eine kritische Fragekultur. Dass wir uns vor Fragen, die wehtun, nicht wegducken, sondern sagen: Wir schaffen das! Wir stellen uns solchen Herausforderungen, auch wenn wir wissen, dass sie wehtun. Denn: Bangemachen gilt nicht!

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