Lena Uphoff
15.11.2010

Alle reden gern über die Bedeutung der Bildung. Manche sorgen sich, dass "wir" Deutsche immer dümmer würden, und /oder befürchten, dass Einwanderer mit anderen Genen als den unseren alles vermasseln, weil sie nicht bereit und nicht fähig sind, etwas zu lernen. Ich muss sagen, das verblüfft mich ziemlich. Mit meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen passt das in dieser Debatte vermittelte Bild von Deutschland als dem Hort der Bildungsenthusiasten nicht so richtig zusammen. Meine familiären Wurzeln liegen zwar in einem Landstrich zwischen Sachsen und Lothringen, zwischen Bodensee und Rheinland, aber wahrscheinlich bin ich in Sachen Bildungsehrgeiz inmitten deformierter Träger keltischer oder römischer Genreste aufgewachsen, die sich dort seit Varus' Zeiten tummeln.

Wenn ich als Heranwachsender lieber Bücher las, als praktisch zu arbeiten, brachte mir das keineswegs Lob und Anerkennung ein. Meine Onkels, solide und tüchtige Handwerker, spotteten lieber: "Den Arnd kannst du fragen, wer Australien besiedelte, aber der kriegt keinen Nagel gerade in die Wand. Der hat an jeder Hand fünf linke Daumen." Mein geliebter Großvater, in dieser Kolumne mehrfach zitiert, dachte ähnlich. Er warnte mich vor zu viel Lektüre - "das verdirbt die Augen und macht wirr im Kopf" - und brüllte gar einmal im Zorn: "Diese verdammten Bücher! Wenn du immer nur liest, anstatt was Anständiges zu machen, nagle ich sie in eine Holzkiste und bringe sie auf den Dachboden! "

Meine Oma erzählte aus ihrer pur deutschen Kindheit ähnliche Geschichten. Als sie aufgrund ihrer auch im Alter noch erkennbaren großen sängerischen Begabung als Teenager wünschte, Gesang studieren zu dürfen und Opernsängerin zu werden, bekam sie zur Antwort, sie solle lieber etwas Richtiges lernen. Friseuse zum Beispiel oder Sekretärin. Und ihre Mutter rief aus: "Du wirst mir keine Theaterschickse! " Schickse übersetzt der Duden: leichtlebige Frau, Flittchen, Prostituierte. Meine Urgroßmutter war keine Muslima, sie war eine fromme katholische Christin.

In mir stecken die Gene syrischer Legionäre und Odenwälder Bäuerinnen

Unser Nachbar Adolf D., geboren um 1920, Werkmeister in einer kleinen Werft und guter Sozialdemokrat, sah mich im Garten sitzen und schreiben, während er seine Hecke schnitt. "Was machst du da? Hausaufgaben?", fragte er. Ein Gedicht schriebe ich, bekam er zur Antwort, "ich schreibe gerne und möchte Schriftsteller werden oder Journalist". Adolf zog angeekelt die Mundwinkel nach unten: "Wenn du mein Sohn wärst, würde ich dir diese Faxen austreiben. Lern doch was Richtiges. Metzger, Bäcker, Schlosser, oder geh zur Polizei, da schreibt man auch."

Meine journalistische Ausbildung begann ich im schönen Calw im Nagoldtal, just im Jahr 1977, als der 100. Geburtstag des großen Sohnes dieser Stadt, des Literaturnobelpreisträgers Hermann Hesse, anstand. Ich fragte aus diesem Anlass für einen kleinen Artikel einen 95-jährigen Mann, der Hesse noch persönlich gekannt hatte, was er denn von dem berühmten Landsmann halte? "Nix", war die unmissverständliche Antwort, von schwäbischer Mundart nur wenig gemildert, "der hat nie ebbes gschafft, der hat nur gschriebe, der Tagdieb und Nichtsnutz. Und dann ist er in die Schweiz, weil er sich vom Militärdienst drücken wollte, und hat das Vaterland verraten." Auch dieser Mann war kein Muslim, sondern ein guter schwäbischer Protestant.

Nicht alle Deutschen dachten und redeten so. Nicht 1920, nicht 1970. Im bildungsbürgerlichen Milieu sah man das sicher anders. Aber dass in Deutschland Bildung oder künstlerische Begabung jenseits der handwerklichen Fertigkeit oder einer soliden praktischen Ausbildung durch alle Schichten hindurch schon immer von höchstem Wert gewesen seien, kann ich aus meiner unmaßgeblichen Perspektive nicht bestätigen.

Im Übrigen bin ich gerne Deutscher, im Sinne des General Harras in Carl Zuckmayers "Des Teufels General". Ich freue mich, dass in meinen Genen Legionäre aus Syrien oder Gallien, jüdische Gewürzhändler, ungarische Flüchtlingsmädchen und Bäuerinnen aus dem Odenwald ihre Spuren hinterlassen haben.

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