Soll man Fußballspiele aufzeichnen?
Tim Wegner
23.01.2012

Es gibt zwei Arten von Menschen: Technikfreaks, die jede Innovation begierig aufsaugen. Und die Konservativen, denen das alles zuviel wird. Ich bekenne mich, in diesem Sinne konservativ zu sein. Apps, riesige Speicher, superschnelle WLans: Meine Lebenszeit ist mir zu schade, mich mit all diesen Möglichkeiten vertraut zu machen.

Und dann das: Der Kabelbetreiber Unitymedia hat mich überrumpelt – und einen HD-Rekorder geschickt. Gut, dachte ich, einfach das Gerät tauschen und weitergucken. Denkste. Ein neues Zeitalter ist angebrochen. Der Rekorder heißt, wie er heißt, weil er aufnehmen kann. Auch Fußballspiele.

Es kam, wie es kommen musste. Ich hatte keine Zeit, den Nord-Süd-Gipfel HSV vs. Bayern in Echtzeit zu verfolgen; mein Kind würde noch wach sein - und ich mit ihm allein zu Haus'. Der Samstagnachmittag verstrich quälend langsam, mit bohrenden Fragen: Darf ich gegen das Live-Gebot verstoßen? Ist es nicht fies, sich von Freunden und Leidensgenossen abzukoppeln, die während des Spiels SMSe schicken, die in der Halbzeitpause anrufen? Und wohin mit meinem Fußballaberglauben, dass es Pech bringt, wenn ich auf dem falschen Sessel sitze? Das Spiel könnte ich ja gar nicht mehr beeinflussen, es wäre ja schon vorbei, wenn ich gucke. Und das Schlimmste: Wenn es gut ausgeht, wenn ich das gute Omen bin, wenn es Glück bringt, dass ich nicht live gucke – würde ich dann je wieder live gucken dürfen?

Ich koppele mich komplett ab

Also gut, es ging nicht anders. Das Handy schaltete ich auf stumm und versteckte es in der hintersten Tasche meiner Winterjacke. Das Telefon trennte ich vom Netz. Den Radiostecker zog ich aus der Steckdose, um nicht gedankenverloren einzuschalten, wenn Nachrichten kommen.

Dann spielte ich mit meinem Sohn, der ansonsten kein Verständnis aufgebracht hätte, wenn ich Taktikbelehrungen der Kissenschlacht vorgezogen hätte. Fußall ist ihm nämlich irgendwie noch nicht so wichtig.

Erste Erkenntnis, als er schlief: Der Rekorder hatte aufgenommen. Puh! Zweite Erkenntnis: Die Nervosität, die mit dem Einlaufen der Mannschaft ihren Höhepunkt erreicht, lässt sich zwei Stunden aufhalten. Als ob es gerade jetzt passierte, dass Lahm und Westermann ihre Teams auf den Platz führten! Dritte Erkenntnis: Der Selbstbetrug funktionierte die ganze erste Halbzeit lang. Wie gebannt verfolgte ich das Spiel, das hin- und herwogte. Nervös fieberte ich dem Halbzeitpfiff entgegen, um – wie gewohnt – die Pause für all das zu nutzen, was während des Spiels nun mal nicht geht.

Die Büchse der Pandora

Aber dann öffnete ich die Büchse der Pandora. Zurück vorm Fernseher realisierte ich, dass ich den zweiten Werbeblock in 64facher (!) Geschwindigkeit vorspulen konnte. Ein klassisches Eigentor, weil ich die Unruhe in mir gar nicht mehr ordentlich abbauen konnte, die Pause war ja nur halb so lang als sonst. Und zweitens: Ich spulte nun immer vor, wenn mir Verletzungspausen oder Spielerwechsel zu lang erschienen. Oder wenn ich es nicht ertragen konnte, ob die Bayern eine der vielen Ecken nutzen würden (taten sie, was ich immerhin noch vier Mal schneller als in Echtzeit erleiden musste). Ich beschleunigte das Spiel noch mehr, weil ich wissen wollte, ob die Münchener ihrem Ruf gerecht werden würden, das Spiel in letzter Minute zu entscheiden (taten sie nicht).

Plötzlich war es vorbei. Endstand 1:1. Aus 90 Minuten waren für mich vielleicht 70 geworden, die aber an mir zehrten wie K.O.-Spiele, die in die Verlängerung gehen: Weil ich jederzeit hätte wissen können, wie es ausgeht. Aus dem Zauber des Spiels – die Nicht-Vorhersehbarkeit in der offenen Geschichte eines Fußballspiels – war für mich eine schnöde Beherrschbarkeit geworden. Ich konnte jederzeit zur Gewissheit vorspulen.

Nein, Fußball und HD-Rekorder, das ist nur was für echte Notfälle. Dann lieber die gute, alte Radiokonferenz!

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