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Alles vergänglich! Alles vergeblich?
Alles, was einem wichtig war, ist bedroht, wird zerstört. Wie umgehen mit Erfahrungen radikaler Vergänglichkeit und furchtbarer Vergeblichkeit? Dazu kein Kommentar zur aktuellen Lage, sondern die Erinnerung an eine Lektüre im Sommer und ein Ausstellungsbesuch in der vergangenen Woche.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
20.10.2023

Manchmal klingt die Lektüre eines alten Buches mit dem Erschrecken über die Nachrichten des Tages zusammen.

In den Sommerferien habe ich die Augustin-Biografie des Althistorikers Peter Brown, den ich verehre, gelesen. Sie ist etwa ein halbes Jahrhundert alt und liest sich frischer als vieles, was aktuell veröffentlicht wird. Doch der Schluss vermittelt eine verstörende Botschaft. Kurz vor Ende seines Lebens wird alles zerstört, was Augustin aufgebaut hat. Er ist 76 Jahre alt, seit 34 Jahren Bischof von Hippo in Nordafrika. Ein immenses literarisches Werk hat er geschaffen, das die folgenden Jahrhunderte beschäftigen wird. Aber er hat auch als Hirte seiner Gemeinde geführt, ungezählte Alltagsprobleme gelöst, viele erbitterte Kämpfe ausgefochten, mit strenger, manchmal überstrenger Hand sein Gemeinwesen mitregiert, Notleidenden geholfen, Sklaven befreit, alles dafür getan, eine in seinem Sinne christliche Welt aufzubauen.

Und dann wird kurz vor seinem Lebensende alles vor seinen Augen zerstört. Im Jahr 429 fallen die Vandalen in Nordafrika ein. Niemand kann diese Terroristen aufhalten. So töten sie ungehindert, wahllos Männer, Frauen und Kinder oder verschleppen sie, um Lösegeld zu erpressen, rauben allen Wohlstand, vernichten die Felder, zerstören die Städte und Dörfer, brandschatzen die Kirchen. Augustins Welt, seine Kirche, seine Gemeinde, seine Mitmenschen – alles fällt der Grausamkeit der Vandalen zum Opfer. Der Gedanke, dass seine Bücher bleiben werden, dürfte Augustin kein Trost gewesen sein. Warum durfte er nicht kurz vorher sterben? In einem seiner Hauptwerke, „De civitate Dei“, hatte er gelehrt, dass Christen nicht Bürger dieser, sondern jener Welt sind. Denn diese Welt vergeht, unsere wahre Heimat liegt im Jenseits. Was hat ihm diese Lehre kurz vor seinem Tod 430 gegeben?

Zur Abwechslung und Ablenkung – das hat auch sein Recht – jetzt eine heitere Variation über Vergänglichkeit und Vergeblichkeit. Nichts bleibt oder doch nur sehr wenig. Dass dies nicht nur schlimm ist, ist mir vergangene Woche in Bad Segeberg aufgegangen. Ich war gerade dort, um die Kunsthalle der Otto-Flath-Stiftung zu besichtigen und eine Tagung zu besuchen. Was, Sie wissen nicht, wer Otto Flath war? Sie haben diesen Namen noch nie gehört? Er galt im protestantischen Norddeutschland der Nachkriegszeit als einer der bedeutendsten Künstler seiner Zeit. Gefühlt jede zweite evangelische Kirche in Schleswig-Holstein bestückte er mit seinen großen, schweren Holzskulpturen und Schnitzaltären. Menschen pilgerten zu seinem Atelier, um den Meister bei der Arbeit und inmitten seiner Werke zu bestaunen. In Hochzeiten brachten Busladungen bis zu 400 Gäste täglich. Ehrung folgte auf Ehrung. Hochgerühmt und vielbewundert starb Otto Flath 1987 mit 81 Jahren – im Gegensatz zu Augustin – im Völlegefühl eigener Bedeutsamkeit. Ein schönes Leben, ein schöner Tod.

Heute grübeln viele Kirchengemeinden, wo sie Flaths nur von weiter Ferne an Ernst Barlach erinnernden, schweren, allzu bedeutungsschweren Holzskulpturen hintun sollen. Die Flath-Kunsthalle kann sie nicht aufnehmen. Schon jetzt ist das Magazin (siehe das Foto oben) überfüllt. Das Leben, das frühere Generationen in seinen Werken gesehen hatten, ist aus ihnen gewichen. Man mag sich nicht einmal richtig über seine regime-gemäßen Arbeiten aus der Nazi-Zeit erregen. Denn nicht seine politische Gesinnung scheint hier das Hauptproblem zu sein, sondern die künstlerische Qualität und die überwältigende Masse seiner Skulpturen (die Tausenden von anthroposophisch anmutenden Zeichnungen lassen wir mal lieber beiseite). Dennoch lohnt ein Besuch der sehr gut gestalteten und von Ehrenamtlichen engagiert betriebenen – normalerweise nur am Wochenende geöffneten – Otto-Flath-Halle. Denn er zeigt, wie wenig Ruhm bedeutet. So geht man ratlos an Flaths Werken entlang, rätselt, warum sie früher solche Ergriffenheit auslösen konnten, denkt an diesen oder jenen Erfolgskünstler der Gegenwart, dem es vielleicht ähnlich ergehen wird wie Otto Flath, und natürlich auch an die eigene Vergänglichkeit und Vergeblichkeit all dessen, was man tut

Um Besucher anzulocken, hat die Otto-Flath-Stiftung sich aber etwas sehr Schönes ausgedacht. Sie lädt blinde Menschen ein, die hier die Kunstwerke anfassen und betasten können – etwas, was in einem regulären Museum undenkbar wäre und Flaths Werken eine überraschende, menschenfreundliche Gegenwartsbedeutung verleiht. Untergang ist nicht alles, es wächst auch Neues – so klein und unscheinbar seine Anfänge auch sein mögen.

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