Steffen Hafner
Kirche in Not, immer schon
Vor kurzem las ich Texte zur Lage der evangelischen Kirche aus den 1920er Jahren. Was mich erstaunt hat: Sie hätten auch heute geschrieben worden sein. Spricht das für oder gegen sie?
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
06.11.2021

Gerade gebe ich an der Humboldt Universität ein Seminar über moderne Kirchbauten. Da lasen wir einen Sammelband von 1925, in dem Theologen und Architekten die Situation der Kirche untersuchten, um daraus zu folgern, was für Kirchbauten sie errichten sollten. Überraschenderweise wirkten ihre Analysen zeitlos gültig: Die Lage der evangelischen Kirche ist desolat, der Bedeutungsverlust ist immens, niemand glaubt mehr, die Gottesdienste sind leer, es fehlt an Geld.

Ich stutzte und versuchte mich daran zu erinnern, wie zu Beginn oder Mitte des 19. Jahrhunderts, im 18. Jahrhundert oder während der Reformationszeit die Lage der evangelischen Kirche gesehen wurde. Mir scheint: genauso. Was aber soll eine kirchliche Zeitdiagnose bedeuten, wenn das Ergebnis immer dasselbe ist? Und woran liegt es, dass der Niedergang das einzige durchgängige Kennzeichen der evangelischen Kirche zu sein scheint? Vielleicht daran, dass man sich an einer unhistorischen Idealvorstellung ausrichtet, der gegenüber die kirchliche Wirklichkeit immer abfallen muss? Sollte man nicht zur Abwechslung mal dieses Ideal hinterfragen?

Vor kurzen hatte ich ein Gespräch mit einer Antisemitismusforscherin. So ganz nebenbei bemerkte sie, dass es um die evangelische Kirche heute doch eigentlich ganz gut bestellt sei: weniger autoritäre Macht, weniger Druck und Hass, weniger Nationalismus und Antisemitismus. Sie sei zwar keine Protestantin, hätte aber den Eindruck, als sei bei uns heute einiges deutlich besser als früher.

Zurück zu diesem Sammelband von 1925. Ein Aufsatz stammt von meinem ewigen Lieblingsarchitekten: Otto Bartning. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er durch seine "Notkirchen" berühmt – günstige und schnell zu errichtende Modellsatz-Kirchen für die zerstörten Städte. Den Namen dafür aber hatte er schon 1925 erfunden: Die Kirche lebt in einer Zeit der geistigen und materiellen Not, kann und sollte dies aber als theologische und architektonische Herausforderung annehmen. Denn dann ist „die ‚Notkirche‘ nicht mehr ein zaghaftes Behelf oder eine entsagungsvolle Nebenaufgabe, nein, sie ist die freudevolle Kernaufgabe für Baumeister und bildende Künstler, für die Gemeinden und für die Kirche.“

(Das Foto, von Steffen Hafner, zeigt die erste der Bartning’schen Notkirche, nämlich die Auferstehungskirche in Pforzheim. Sie wurde am 24. 10. 1948 eingeweiht.)

P.S.: Über „die Kultur der Rechten“ und die Frage, warum einige ostdeutsche Bürgerrechtler irgendwie abgedriftet zu sein scheinen, spreche ich in meinem Podcast mit dem Experten David Begrich aus Magdeburg.

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