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Bußrhetorik im neuen Schloss
Es war ein unerwartet heiterer Moment mitten in einer hochseriösen Veranstaltung: Die Reden zur Eröffnung eines weiteren Teilstücks des Humboldt Forums klangen in meinen protestantischen Ohren seltsam vertraut.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
01.10.2021

Viel wurde debattiert und geplant, umgeplant und gestritten. Dann wurden schließlich am vorvergangenen Mittwoch zwei weitere Teilstücke des Humboldt Forums im neuen Berliner Schloss eröffnet: die Sammlungen afrikanischer und asiatischer Kunstwerke und Kultobjekte. Ich durfte freundlicherweise dabei sein und die Reden der Amts- und Würdenträger sowie der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie anhören. Was mich so verblüffte, war, dass die deutschen Verantwortlichen sich einer Rhetorik bedienten, von der ich dachte, dass sie eigentlich in der evangelischen Kirche zu Hause sei: „Wir haben mehr Fragen als Antworten“ – „Wir sind Suchende.“ – „Gemeinsam sind wir unterwegs.“ – „Wir wollen unsere Geschichte hinterfragen und stellen uns der Kritik.“ – „Wir sind nicht fertig, sondern befinden uns in einem offenen Prozess.“ – „Wir laden Sie ein: Lassen Sie uns gemeinsam…“ – so dieser Sound. Unerhört, dachte ich zunächst, das sind doch unsere Sprüche.

Aber was sollen die heute Verantwortlichen auch anderes tun, als sich in Demut zu üben? Es ist eben so, dass immer noch unklar ist, was das Humboldt Forum sein soll. So viele Fragen sind offen, so viel Kritik bleibt zu berücksichtigen. Ob es überhaupt möglich sein wird? Nur ergibt sich aus der Bescheidenheitsrhetorik und der niegelnagelneuen Massivität des Gebäudes eine kaum zu überbrückende Spannung. Sie zeigt, wie radikal sich die Denk- und Gesprächslage binnen weniger Jahre verändert hat: Der ursprüngliche Triumphalismus des wiedervereinigten Exportweltmeisters, der sich hier ein Denkmal setzen wollte, wirkt heute wie aus der Zeit gefallen.

Nach dem Festakt bin ich dann durch die Ausstellungsräume gegangen, wirklich nur einmal hindurchgegangen, um einen allerersten Eindruck zu gewinnen. Und ich war – jenseits aller Debatten um koloniale Raubzüge und postkoloniale Neuorientierungen – beeindruckt von der Schönheit der Exponate und ihrer sachkundigen, stilvollen und – ja, so erschien es mir – liebevollen Präsentation. Das werde ich mir bald ein zweites Mal in Ruhe ansehen. Vielleicht verstehe ich dann die unterschiedlichen Debattenbeiträge besser.

P.S.: Die Schriftstellerin Marica Bodrožić hat eine tiefsinnige und anrührende Meditation über ihre Corona-Erfahrungen geschrieben („Pantherzeit“). In meinem Podcast spreche ich mit ihr darüber.

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