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Pyrrhus-Siege der Abtreibungsgegner?
In den USA konnte die christlich-fundamentalistische Rechte große Erfolge in ihrem Kampf gegen das Recht auf Abtreibung erzielen. Darüber wurde auch hierzulande intensiv diskutiert. Zwei Lese-Erlebnisse führen mich zu einer veränderten Einschätzung.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
11.10.2022

Kürzlich las ich die neue Geschichte der evangelikalen Bewegung von Thorsten Dietz. „Menschen mit Mission“ ist ein hervorragendes Buch, das viele eingefahrene Sichtweisen aufbricht. Zum Beispiel über den Anti-Abtreibungsaktivismus. Lange Zeit hatten Evangelikale ihn für eine katholische Obsession gehalten. Dann aber erkannten einige ihrer Anführer darin ein wirksames Propaganda-Instrument für den Kampf gegen Bürgerrechte und gesellschaftliche Modernisierung. Doch wer die Geschichte evangelikaler Politik überblickt, lernt von Neuem, dass in der Politik wenig so gefährlich ist wie der Erfolg.

Der erste große Erfolg der Evangelikalen (damals hießen sie noch anders) war im 19. Jahrhundert – das wissen nur noch die wenigsten – die Aufhebung der Sklaverei. In der Tat, ein menschheitsgeschichtlicher Fortschritt. Jedoch führte er ungewollt in einen Bürgerkrieg zwischen US-Nord- und Südstaaten und danach in einen rigiden Rassismus („Jim Crow“-Gesetze) - was natürlich diesem Engagement selbst anzulasten ist. Das zweite große Ziel der Evangelikalen war Anfang des 20. Jahrhundert der – berechtigte! – Kampf gegen die Volksseuche des Alkoholismus. Auch hier gelang ihnen nach dem Ersten Weltkrieg ein großartiger Erfolg. Die Prohibition wurde durchgesetzt – und scheiterte grandios. Von diesem Pyrrhus-Sieg hat sich der politische Evangelikalismus lange nicht erholt.

Politisch relevant wurde die evangelikale Rechte eigentlich erst wieder mit dem Abtreibungsthema. Jetzt sind viele in den USA, aber auch in Europa darüber erschrocken, wie sie hier obsiegen konnte. Mit Furcht fragen sich viele, was das für Frauen noch bedeuten wird. Man könnte aber auch die Gegenfrage stellen, ob sich der Rechtsevangelikalismus nicht wieder einmal in den Niedergang gesiegt hat. Denn das Recht von Frauen, über ihren Körper zu entscheiden, und die damit verbundenen ethischen, sozialen und politischen Themen werden sich nicht einfach verbieten lassen.

Am Beispiel von Irland hat Fintan O’Toole dies aufgezeigt. In einem Aufsatz für das „New York Review of Books“ erinnert er daran, wie katholische Missionare aus den USA seit den 1970er Jahren aus Irland das allerkatholischste Bollwerk gegen die Moderne machen wollten, in dem die Abtreibung in der Verfassung verboten sein sollte. Und es gelang ihnen, aber nur kurzfristig. Denn der brutale und letztlich vergebliche Kampf gegen das Selbstbestimmungsrecht von Frauen führte dazu, dass ein differenziertes Nachdenken über die ethischen Dilemmata einer Abtreibung unmöglich wurde. Das hat nicht nur sehr vielen Frauen geschadet. Es hat am Ende auch die Sache der Abtreibungsgegner vollkommen desavouiert. 2018 stimmte die überwältigende Mehrheit des irischen Volkes gegen das radikale Verbot und damit auch gegen die katholische Kirche.

Auf lange Sicht haben die christlich-fundamentalistischen Abtreibungsgegner auch dem Christentum geschadet. Was aus dem Sieg der irischen Anti-Abtreibungsfanatiker 1983 wurde, wird auch ihren US-amerikanischen Gesinnungsgenossen nach dem Sieg vor dem Supreme Court 2022 geschehen, prophezeit O’Toole: „Sie werden die Ursache dafür sein, dass Mädchen und Frauen leiden. Sie werden die Persönlichkeit einer Frau auf eine Ebene mit einer befruchteten Eizelle stellen. Sie werden Scham und Schweigen verbreiten. Sie werden bewirken, dass einige Frauen von verschreckten und verwirrten Ärzten getötet werden. Aber sie werden die Notwendigkeit einer Abtreibung im Leben einiger Frauen nicht ändern. Und sie werden nicht die Erfüllung ihrer lang gehegten Sehnsucht erfahren, gesellschaftlichem Wandel ein Ende zu bereiten. Wir wissen aus Irland, dass ein Abtreibungsverbot eine Linie ist, die man in den Sand schreibt und die wie alle solcher Linien von den Fluten des Lebens weggewaschen werden.“ Und wenn das Christentum nur für diese Retro-Sehnsucht stehen sollte, werden die meisten Menschen in ihm nur noch eine bösartige, heuchlerische, frauenfeindliche Ideologie erkennen können.

P.S.: Das Plakat oben habe ich vor zwei, drei Jahren auf einer Berliner Litfaßsäule gesehen.

P.P.S.: Über missionarischen Islam und christliche Mission spreche in einer neuen Folge meines Podcasts „Draußen mit Claussen“ mit dem jungen Imam Scharjil Ahmad Khalid von der Berliner Ahmadiyya-Moschee.

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