Hochwasser - Blechhaus Siedlung
Thomas Rheindorf
Ein blechgewordener Abstieg
Tiny-Häuser dienen vielen Menschen zur Perfektionierung ihres Lebensentwurfes. Doch wenige Meter von meinem Haus entfernt gibt jetzt eine „Tiny-House-Siedlung“ die nichts mit Wünschen und perfektem Lebensentwurf zu tun hat. Ein Entwurf der Hilflosigkeit für hilflose Menschen. Novemberblues in Blech.
18.11.2021

Selma war ein Kraftpaket, schon als sie klein war. Rund und laut und fröhlich. Manchmal kam sie nach dem Kindergarten mit zu uns. Sie war eine Freundin meiner Tochter. Sie spielten und tobten zusammen. Selma lebte ein paar Straßen weiter, hat vier oder fünf Geschwister, einen Vater, der eine Fußballmannschaft trainiert und eine immerzu lachende Mutter.

Die Familie wohnte in einem Mietshaus mit anderen Familien, die alle nicht seit vielen Generationen im Ahrtal ansässig waren. Gemessen an unseren Verhältnissen war die Wohnung klein, die Stimmung aber immer groß. Bei Chancengleichheit im Bildungswesen hätte Selma nicht in der ersten Reihe gestanden. Doch ihr war das egal. Das runde Kind wandelte sich zur jungen Frau, immer noch üppig laut und fröhlich. Die Schulwege trennten sich, doch die Freundschaft zwischen ihr und meiner Tochter bleib lose erhalten.

Sah aus, wie bei einer satirischen Nachbarschaftskomödie auf Netflix.

Östlich der großen Autobahnbrücke entstand vor einiger Zeit ein Neubaugebiet in einer Senke zwischen der Straße, die zum Rhein führt, und dem Bahndamm ausgewiesen. Fast alle legten gleichzeitig los: Familien von Handwerkern, Ärzten und Angestellten überboten sich beim bürgerlich-repräsentativen Bauen. Mir kam es vor wie die Kulisse zu einer satirischen Nachbarschaftskomödie auf Netflix. Eine Ansammlung von Bausünden, die in ihrer Bündelung schon wieder beachtenswert war. Selmas Familie war dabei. Raus aus der engen Mietwohnung, hinein in ein Eigenheim mit Garten.

Meine Tochter freute sich für die Freundin. Das letzte Mal sah ich Selma dieses Jahr im Frühsommer auf unserer Terrasse. Es gab Prosecco und Musik aus Bluetoothboxen. Die Clique war laut und fröhlich. Selma berichtete von ihrer neuen Haustür. Für die brauchte man keinen Schlüssel. Nur den Fingerabdruck. Sie führte den anderen pantomimisch die Unmöglichkeit vor, nach dem Genuss von bunten Getränken noch das Schlüsselloch zu treffen. Finger hinhalten geht immer.

Und ausgerechnet hier wütete die Flut wie sonst kaum im Ahrtal

In dem neuen Gebiet wütete die Flut wie an sonst kaum einem anderen Ort. Zum tragischen Allgemeingut im Tal ist die Geschichte von dem Haus geworden, das mitsamt Bewohnern davongetrieben wurde. Komplett. Selmas Haus bleib stehen. Sie saß mit ihrer Familie auf dem Dach. Über den Sommer lebten sie im Obergeschoß. Ohne Wasser und Strom. Mit dem Beginn des Herbstes ging das nicht mehr. Selmas Familie stellte den Antrag, in ein Tiny-House ziehen zu dürfen.

Tiny-Häuser sind im Internet gerade sehr angesagt. Putzige Häuschen in schöner Fototapeten-Szenerie. Glückliche Menschen leben von allem Zivilisationsmüll und aller materiellen Bedürfnisse befreit  ein wahres, wirkliches Leben. Nicht mickrig, sondern richtig schniecke. Die Wohnsituation ist so von „good vibes“ durchströmt, dass es auf die Betrachter überspringt. Die Häuschen: Aufs Wesentliche konzentrierte Wohnträume.

Ein blechgewordener Abstieg

Ein solcher Spirit könnte eine neue Haltung zu Wohnen und Leben im Ahrtal sein – denkt man, wenn man Tiny-House-Siedlung hört. Hinter unserem Haus ist solcher Bezirk entstanden. Schon der Anblick lässt Gangsta-Rap erklingen, wo doch Sphärenmusik zu hören sein sollte. Statt Wohnpark kommt mir Ghetto in den Sinn. Das, was dort am Appolinarisstadion, einst Spielstätte der Frauenfußball-Bundesliga, hingestellt wurde, ist nichts weniger als ein blechgewordener Abstieg. Es ist die glatte Leugnung von Architektur und gestalteter Umgebung als menschlichem Grundbedürfnis. So kann man nicht leben. Selma und ihre Familie werden hier einziehen. Kein Fingerabdruck wird die Türe öffnen. Selma aber – das hoffe ich zuversichtlich – wird stabil und laut und fröhlich bleiben. Vielleicht wird sie einmal studieren und eine Diplomarbeit über Notunterkünfte und Menschenwürde schreiben. Komm gut durch den Winter, Selma!

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