Klar. Und dann darf man weitergucken. Hinter die Fassade
15.11.2010

Am Ende des Abends knallt der Barkeeper im Halbdunkel schwungvoll den Cappuccino auf den Tresen. Schwapp macht es, und der neue Designerrock hat einen Kaffee-Milchschaum-Fleck, der garantiert nicht mehr rausgeht. Nicht zu fassen! Das gute Stück ist zwar ein Schnäppchen, aber eines, das sündhaft teuer aussieht. Sabine hebt wütend den Kopf ­ und schaut in zwei braune Augen, in die sie am liebsten gleich hineinfallen möchte. Sämtliche Flüche dieser Welt lösen sich in Sekundenbruchteilen auf. Der Barkeeper ist eine Schönheit mit dunkler Haut, gepflegtem Dreitagebart und eben diesen samtweichen Augen. Er entschuldigt sich mit einer Stimme, die jeden möglichen Rest an Zorn milchstraßenweit wegmoduliert. Sabine lächelt. "Macht nichts, das kriege ich wieder hin", sagt sie und weiß, dass es nicht stimmt.

Es fällt leichter, sich zu fügen, wenn ein schöner Mensch um Aufmerksamkeit bittet

Was, wenn der Barkeeper hässlich oder eine ältere Frau gewesen wäre? Wahrscheinlich hätte Sabine sofort das Lokal verlassen, nicht ohne eine saftige Rechnung für die Reinigung anzukündigen. Verwerflich? Normal! Das Aussehen, die Stimme, sie sind die erste Botschaft, die von einem Menschen zum anderen gelangt. Und diese Botschaft ist, wenn ein Mann oder eine Frau schön und jung ist, meist eine positive. Auf der Straße, wenn man gebeten wird, einen Weg zu erklären, oder im Geschäft, wenn man Geduld haben soll, weil es noch ein Weilchen dauert: Es fällt leichter, sich zu fügen, wenn ein schöner Mensch um Aufmerksamkeit oder Nachsicht bittet. Auch in Vorstellungsgesprächen haben gut aussehende, jüngere Männer und Frauen angeblich größere Chancen als ihre gleich kompetenten, aber nicht so attraktiven und älteren Mitbewerber.

Sich an Äußerlichkeiten zu freuen, sie mit allen Sinnen zu genießen, ist selbstverständlich. Schönheit ist schließlich ein Gottesgeschenk, das man kultivieren sollte. Frauen, die sich in unförmigen, zeltähnlichen Klamotten verstecken, Männer, die ihre Haare strähnig herunterhängen lassen, sie schenken weder sich noch ihren Mitmenschen die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Die Pflege des individuellen Aussehens könnte doch eine vergnügliche, sinnliche Pflicht sein ­ voller Dankbarkeit für das, was einem an Aussehen gegeben ist.

Gepflegte Schönheit besticht. Besticht? Wenn man äußere Schönheit und Jugend für das entscheidende Kriterium bei der Beurteilung eines Menschen hält, dann ist man von ihr korrumpiert. Dann fallen die durchs Raster, die auf den ersten Blick wenig hergeben. Man nimmt sich die Chance, sie und ihre ganz eigenen Sonnenseiten näher kennenzulernen: die Sommersprossen direkt neben der Nase, den trockenen Witz, die Lebensklugheit ­ oder das verblüffende Wissen über Filmemacher aus Kirgisien. Es gibt viele Arten von Schönheit, die sich nicht auf Anhieb erschließen. Ziemlich umstritten, aber eindrücklich hat das vor Jahren eine Ausstellung mit Aktfotos junger und alter behinderter Menschen gezeigt.

Es ist unfair schöne Menschen nur für ihre Schönheit toll zu finden

Übrigens ist es unfair, schöne oder junge Menschen nur deshalb toll ­- oder auch dumm -­ zu finden, weil sie schön oder jung sind. Man wird ihnen damit genauso wenig gerecht wie denen, deren Gesicht und Körper nicht für Hochglanzmagazine ausgewählt werden. Eine Bekannte von mir hat sich immer nur Männer ausgesucht, die möglichst unauffällig waren. Sie war der Meinung, attraktive Männer seien doof und treulos. Eine Firma, die Sportbekleidung produziert, suchte ihre Models eine Zeit lang sogar extra danach aus, ob sie einen kleinen, aber auffälligen "Makel" haben ­ eine Zahnlücke oder ein vorstehendes Kinn. Sie sollten dadurch sympathischer wirken. Heute wird schon mal mit molligen Oberschenkeln oder ganz flachem Busen geworben, wohl um zu zeigen: Schaut her, wir sind wie ihr, hübsch, aber nicht außerirdisch schön.

Schöne und junge Menschen haben es oft leichter. Aber sie müssen wie andere Menschen auch zeigen dürfen, was sonst noch so alles in ihnen steckt ­ an Witz und Geist, an Herzenswärme und Hilfsbereitschaft, vielleicht auch an Ungeschick, Sorgen und Ängs-ten. Äußerlichkeiten sollten Hirn und Herz nicht außer Kraft setzen, im Gegenteil. "Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters", sagt man. Je nachdem, wie man andere anschaut, welche Aufmerksamkeit man ihnen schenkt, wirkt man an ihrer Attraktivität mit. Wer gern mal hinter strahlende Fassaden schaut, wird dort vieles entdecken, was anderen bei bloß oberflächlicher Betrachtung leider entgeht. Und: Jeder Mensch kann ein Schöpfer sein, ein Schöpfer, dessen zärtlicher Blick auch kleine und große Unvollkommenheit in mitreißende Schönheit verwandelt.

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