Pflege
"Wir alle wehren uns viel zu wenig"
Vera Schneevoigt war Managerin, reiste um die Welt und hatte viel Verantwortung. Dann gab sie alles auf, um in der Eifel Eltern und Schwiegereltern zu ­pflegen. Was sie anderen Pflegenden rät
Foto von Vera Schneevoigt. Sie war Managerin, reiste um die Welt und hatte
viel Verantwortung. Dann gab sie alles auf, um in der Eifel Eltern und Schwiegereltern zu pflegen
Vera Schneevoigt flog als Managerin um die Welt. Jetzt pflegt sie ihre Eltern in der Eifel
Edith Billigmann / EFF-Magazin
24.01.2024
7Min

Fünf Jahre hat Vera Schneevoigt das deutsche Werk des japanischen IT-Konzerns Fujitsu in Augsburg geleitet. Anschließend wechselte sie zu Bosch, wo sie drei Jahre als Chief Digital Officer tätig war und zudem die Entwicklung im Geschäftsbereich "Building Technologies" verantwortete. Ihr Alltag: viele Meetings, viele Reisen, viel Verantwortung. 2022 entschied sie sich für einen radikalen Schnitt: Sie verließ Bosch und zog in die Eifel, um für die Eltern und Schwiegereltern da zu sein. Ihre Entscheidung machte sie öffentlich und löste damit eine Debatte über die desolate Situation pflegender Ange­höriger in Deutschland aus.

chrismon: Wann haben Sie das erste Mal daran gedacht, Ihren Job zu kündigen?

Vera Schneevoigt: Schon vor Corona waren mein ­Schwiegervater und meine Schwiegermutter an Krebs erkrankt. Meine Schwiegermutter sogar zum zweiten Mal. Zu diesem Zeitpunkt lebten mein Mann und ich berufsbedingt noch in Bayern, also sehr weit von ihnen weg. Während der Pandemie haben wir dann gemerkt, dass nicht nur meine Schwiegereltern, sondern auch meine Eltern altersbedingt mehr Unterstützung brauchen, als sie es selbst zugeben würden. In dieser Zeit sind dann auch noch zwei Geschwister meines Vaters innerhalb von 24 Stunden an Corona gestorben, das hat die Situation zusätzlich dramatisiert.

Vera Schneevoigt

Vera Schneevoigt, Jahrgang 1966, war bis Ende September 2022 Chief Digital Officer und Entwicklungsleiterin bei Bosch Building Technologies, einem der führenden Anbieter von Sicherheitstechnik mit ca. 9000 Mitarbeiter:innen. Zuvor war sie als Geschäftsführerin und Executive Vice President für die Entwicklung, Produktion, Logistik und Einkauf beim japanischen Konzern Fujitsu Technology Solutions verantwortlich und leitete bei Unify (ehemals Siemens Enterprise Communications) die Geschicke des Unternehmens in den Bereichen Einkauf, Logistik, Produktion, Qualitätsmanagement und Export. In dieser Funktion führte sie über 1700 Angestellte weltweit. Sie wuchs in Neustadt an der Weinstraße auf, absolvierte ihr Abitur an einer Mädchenschule und machte im Anschluss eine Lehre als Industriekauffrau bei Siemens. Heute lebt sie in der Eifel und pflegt ihre Eltern und Schwiegereltern.

Und dann?

Haben wir nach einem wahnsinnig traurigen Weihnachten 2020 auf der Rückfahrt aus Rheinland-Pfalz nach Bayern entschieden: Wir machen das jetzt, wir ziehen in die Eifel und kümmern uns um unsere Familien.

Wie geht es Ihren Eltern und Schwieger­eltern?

Mein Vater ist an Alzheimer-Demenz erkrankt, sein Kurzzeitgedächtnis wird also immer schlechter. Dass ich ihn mindestens einmal die Woche besuche, hilft ihm sehr. Meine Mutter ist im Grunde noch recht fit, hat aber ­Depressionen. Sie leidet sehr darunter, wie es meinem Vater geht. Er hat ja 60 Jahre lang alles geregelt, wie das in dieser Generation nun mal war. Mein Schwiegervater ist leider kurz nach unserer Rückkehr gestorben. Meiner Schwiegermutter geht es den Umständen entsprechend. Aber sie ist mental eine sehr starke Person, hat zweimal den Krebs bekämpft und gehört zu der Generation, die niemandem zur Last fallen will. Bei ihr müssen wir eher aufpassen, dass sie nicht vereinsamt.

Über sich selbst haben Sie einmal gesagt: "Ich wollte immer raus in die Welt". Nun leben Sie auf dem Land. Wie schwer war dieser Schritt?

Na ja, die Eifel ist zum Glück sehr schön. (lacht) Und so eine Entscheidung hat ja auch eine emotionale Ebene. Wie viel bedeuten mir meine Eltern? Wie viel bedeutet es mir, mit ihnen Zeit zu verbringen? Ich habe gemerkt: sehr viel und mehr als ich dachte.

"Ist der Preis für meine Karriere vielleicht zu hoch?"

Vom Chefposten in die häusliche Betreuung und Pflege – hatten Sie wirklich gar keine Zweifel?

Wissen Sie, meine Arbeit hat mir alles gegeben, ich habe viele Länder bereist und viele andere Kulturen kennengelernt. Alles erreicht, was ich wollte. Aber so eine Karriere kostet auch sehr viel Kraft. Außerdem war ich durch den Lockdown während der Pandemie nicht mehr in der Welt unterwegs und habe stattdessen erstmals richtig viel Zeit mit meinem Mann und unseren Pflegesöhnen aus Syrien verbracht. Das hat mir gefallen. Plötzlich war die Unrast weg, der Drang, wieder zum Flughafen zu fahren, woandershin aufzubrechen. Dieser Lebensstil ist ohnehin mit dem eigenen Älterwerden schwer vereinbar.

Es ging also gar nicht nur um Ihre Eltern?

Es ging außerdem darum, nach 38 Jahren ­Berufsleben die Frage zu stellen: Ist der Preis für meine Karriere vielleicht zu hoch? Was soll denn jetzt überhaupt noch kommen? Ich bin gleichzeitig sehr realistisch in der Einschätzung der Arbeitswelt. Der Schritt, seine Eltern zu pflegen, ist mit einer internationalen Karriere nicht wirklich vereinbar.

Wieso?

Auch wenn sich in der Wirtschaft bei Themen wie Kinder­betreuung oder Pflege etwas getan hat, haben wir es trotzdem immer noch mit sehr traditionellen, hierarchischen Systemen zu tun, die nicht dafür bekannt sind, im großen Stil ganz andere Führungsmodelle auszuprobieren. Ich konnte das selbst in den neun Monaten Teilzeit tes­ten, die ich als Übergangsphase mit meinem Arbeitgeber vereinbart hatte. Ich habe viel Wert darauf gelegt, nur von Montag bis Mittwoch zu arbeiten. Donnerstag bin ich zu meinen Eltern gefahren und den Freitag habe ich freigehalten, um mein neues Leben zu organisieren. Trotzdem wurden für Donnerstag und Freitag immer wieder ­Meetings angesetzt. Ich hatte den Einfluss, die zu ­verlegen. Viele haben den nicht.

"Die wenigsten ­Männer ­können sich vorstellen, ihren Job aufzugeben, um Angehörige zu pflegen"

Was haben Sie Ihren Vorgesetzten gesagt, als Sie gekündigt haben?

Ich habe sehr offen erklärt, dass sich die Situation mit den Eltern zugespitzt hat. Meine Vorgesetzten hatten zum Glück sehr viel Verständnis dafür. Ich hatte meine ­familiären Umstände schon während der Einstellung transparent gemacht. Sie wussten also, dass dieser Zeitpunkt irgendwann kommen würde. Darüber bin ich rückblickend sehr froh.

Und die Kollegen?

Manche konnten sich einen solchen Schritt überhaupt nicht vorstellen. Einer hat sogar gesagt: Die ist völlig bescheuert, wie kann man eine ­solche Position von sich aus kündigen? Also eine sehr konventionelle Sicht. Konventionell bedeutet: patriarchalisch. Die wenigsten ­Männer ­können sich vorstellen, ihren Job aufzugeben, um Angehörige zu pflegen. Es gab aber auch positive Reaktionen, Kollegen, die gesagt haben: Du warst immer ein Role Model für uns, und jetzt gehst du wieder voran mit diesem wichtigen Thema Pflege.

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Nun sind es vor allem Frauen, die Ange­hörige pflegen. Sie sind als ehemalige ­Chefin bei Bosch in der privilegierten Situation, sich diesen Schritt leisten zu können. Die meisten können das nicht, ihnen drohen finanzielle Abhängigkeiten und Altersarmut.

Deswegen ist mein Rat an alle Frauen, die eigene finanzielle Situation schon zu Beginn des ­Berufslebens zu klären, für das eigene Alter vorzusorgen, nicht in die Teilzeitfalle zu tappen. Ich mag das Wort privilegiert ­übrigens in dem Zusammenhang nicht, ich habe bei null angefangen und mir seit meiner Ausbildung zur Industriekauffrau bei Siemens alles selbst erarbeitet.

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Nun könnte man dennoch anmerken, dass Ihre Entscheidung der klassischen Frauenrolle entspricht. Hätten wir Sie nicht genauso als Role Model in der Wirtschaft ­gebraucht?

Ich halte es für unrealistisch, dass ich eine Unternehmenskultur, die so alt ist, von innen heraus einfach so hätte ändern können. Es ist leider auch so, dass externe Berater häufig mehr Gehör finden. Was manchmal sogar Sinn macht, weil der Blick von außen helfen kann, Dinge klarer zu sehen. Aus diesem Grund möchte ich zusammen mit meinem Mann mittelständische Unternehmen beraten, die sich mit Themen wie Transformation oder Gleich­stellung auseinandersetzen.

Aber was ist mit jenen, die jetzt in der Situation sind? Nicht nur, weil die Eltern alt werden, sondern weil sie zum Beispiel ein behindertes Kind pflegen?

Es ist wichtig, dass diese Menschen öffentlich über ­ihre ­Situation sprechen. Aus dem Verborgenen ans Licht ­treten. Das Thema Pflege hat viel mit Erschöpfung und Überforderung zu tun, das habe ich selbst gelernt. Aber auch mit Scham, und das passt nicht zu der Situation ­unserer Gesellschaft. Wir brauchen Solidarität unter den Betroffenen und Kommunikation und Veränderung mit und in der Gesellschaft.

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In einer Befragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes haben 48 Prozent der pflegenden Personen angegeben, auf der Arbeit eine Form von Diskriminierung erlebt zu haben.

Ja, und deswegen ist es so wichtig, die Situation der ­Menschen öffentlich zu machen. Sie müssen Solidargemeinschaften bilden und Forderungen stellen. Weil sich in diesem Land nur auf öffentlichen Druck hin etwas verändert. Pflegende sollten in Gesprächen mit Vorgesetzten offen ansprechen, dass sie sich diskriminiert fühlen. Sich nicht davor scheuen, zu einem Anwalt zu gehen und zu fragen: Wie schätzen Sie meine Situation ein? Wir haben es derzeit mit massivem Fach­kräftemangel zu tun, gute Mitarbeiter werden gesucht. Wann, wenn nicht jetzt, ist also der Zeitpunkt dafür? Ich finde, wir wehren uns alle viel zu wenig. Gerade wir Frauen.

"Gleichstellung und Gleichbehandlung müssen Chefsache sein"

Was versprechen Sie sich von dieser Gegenwehr?

Dass die vielen Hürden, vor denen Pflegende stehen, endlich angemessen behandelt werden. Warum ist die Pflege so bürokratisch organisiert? Warum sind die Anträge so kompliziert? Warum gibt es zu wenig Plätze in Pflegeheimen? Warum wird ausgerechnet ein so emotionales Thema völlig emotionslos behandelt? Ein Problem von einer solchen volkswirtschaftlichen Bedeutung müsste doch einen viel größeren Raum bekommen. Überlegen Sie mal, wie viel Aufmerksamkeit das Thema Energieversorgung gerade im Vergleich hat. Das finde ich haarsträubend.

Was müsste sich in der Unternehmenskultur ändern?

Als Erstes müssen Führungskräfte besser weitergebildet werden, um überhaupt angemessen reagieren zu können, wenn eine betroffene Person auf sie zukommt. Sie sollten darin geübt sein, kreative wie sinnvolle Lösungen zu ­finden, denn es werden ja zukünftig eher mehr Menschen in der Situation sein als weniger. Das Thema Pflege muss fest in die betriebswirtschaftliche Planung eines Unternehmens integriert werden. Personalabteilungen müssten aufgelöst und mit neuem Verständnis zusammengesetzt werden. Die meisten arbeiten noch nach Prinzipien, die aus einer Zeit kommen, als es ein Überangebot an Fachkräften gab. Gleichstellung und Gleichbehandlung ­müssen zudem Chefsache sein. Ich fände es auch gut, wenn ­Analysten den Umgang mit Mitarbeitern zu einem ganz klaren Bewertungskriterium für Unternehmen machen.

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Nun ist im letzten Jahr eine Pflegereform in Kraft ­getreten. Kritiker sagen, die ginge nicht weit genug. ­Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja. Es wird immer nur an Symptomen gearbeitet, aber nicht an der Ursache.

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