Rechtspopulismus
Wer schreit noch lauter?
Der Astrophysiker Heino Falcke arbeitet in den Niederlanden. Vor Ort erlebt er was passiert, wenn jede Gruppe ihre eigene Nische pflegt. Was wir in Deutschland aus dem Wahlergebnis lernen können
Illustration, verschiedene Menschen, die sich im Pulk anfassen: Wir teilen uns immer mehr auf und leben in abgeschlossenen Milieus
Wir teilen uns immer mehr auf und leben in abgeschlossenen Milieus
Franziska Schaum
Radboud Universität Nijmegen
13.02.2024
6Min

Jedes Mal, wenn ich berufsbedingt durch Amsterdam laufe, fühle ich mich wie in einer anderen Welt. Niedliche Häuserfassaden und eine Unzahl kleiner Läden, die alles bieten, was Touristen begehren: ­Käse, Kunst, Cannabis und Prostituierte – für jeden Geschmack gibt es etwas und alles ist fein säuberlich dekoriert in den Schaufenstern. Das Publikum ist genauso divers und international – viele kulturelle ­Milieus leben hier nebeneinander her, befruchten sich oder sind sich fremd. Es ist ein modernes Babylon, in dem alle Sprachen auf der Straße gesprochen werden, in dem ich mit Holländisch und Englisch gut durchkomme, aber das mir immer noch irgendwie fremd bleibt.

Radboud Universität Nijmegen

Heino Falcke

Heino Falcke ist Astrophysiker an der Radboud-Uni­versität in Nimwegen. Mit seiner Frau ­Dagmar hat er gerade das Kinderbuch "Kekskrümel im All. Wie groß ist die ­Unendlichkeit?" (­Fischer, 16,90 Euro) geschrieben, es ­erscheint im März.

Auch im politischen System hat man in den Nieder­landen freie Auswahl und eine babylonische Sprachverwirrung. 26 Parteien standen bei der letzten Wahl auf dem Stimmzettel, der größer war als die gedruckte Ausgabe jeder Zeitung. 15 haben es tatsächlich in das Parlament geschafft. Zu welcher Partei man sich im politischen System auch zählt, man ist immer in der Minderheit und immer in der Fremde.

Stämme und Meinungsblasen

Die Gesellschaft und das Parteiensystem werden immer vielfältiger, auch hier in Deutschland. Volksparteien, Kirchen und Verbände schrumpfen oder brechen aus­einander. Wir teilen uns immer mehr auf und leben in abgeschlossenen Milieus, die ihre eigenen Sprachen, Verhaltensweisen und Wahrheiten haben. Ein Grund, auf unser Nachbarland zu schauen, wo die Aufspaltung ­Tradition hat.

Die Vielfalt der Parteien ist nur ein Nachhall der weltanschaulichen Fragmentierung des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese "Versäulung" genannte Periode führte dazu, dass bis in die 1970er Jahre hinein Protes­tanten, Katholiken, Sozialisten und Neutrale ihre jeweils eigenen Zeitungen, Schulen, Gewerkschaften und sogar Sportvereine hatten. Die einen spielten am Sonntag und die anderen samstags Fußball. Gefühlt gibt es in den Niederlanden heute immer noch mehr Kirchengruppierungen als Gläubige. Nach dem Motto: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da gründe vier ­Kirchen.

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So lebte man – und lebt nun wieder – aufgeteilt in viele Stämme und eigene Meinungsblasen. Man ist zunehmend genervt vom Geschrei der jeweils anderen und versucht darum, selbst noch lauter zu schreien. Man kann sich wunderbar über die anderen aufregen, die man auch gar nicht mehr versteht.
Gleichzeitig steigt hier und dort der Wunsch nach einem politischen Schlaraffenland, in dem jeder und jede exakt die Meinung in der Auslage findet, wonach sein oder ihr Herz verlangt.

Der einzige Nachteil: je passgenauer die Meinung, desto weniger Menschen, die sie teilen, desto ­extremer und selbstverliebter die Ansichten. Denn je wohler man sich in seiner Meinungsblase fühlt, desto weniger erhält man die Chance, seine eigene Haltung zu reflektieren und zu überprüfen.

In den Niederlanden hat man diese ­selbstzufriedene Zersplitterung ins Extrem getrieben. Kurz vor der ­letzten Parlamentswahl saß ich bei einem Symposium im Amsterdamer Königspalast, wo mir ein bekannter Journalist stolz erklärte, durch die Vielfalt der Parteien sei es ­ihnen gelungen, die Rechtspopulisten in Schach zu halten. Zwei Tage später fiel allen die Kinnlade ­herunter. Nach Boris Johnson und Donald Trump stand schon ­wieder ein blonder rechter Retter als Sieger vor einer jubeln­den ­Menschenmenge und versprach, einige in seinem Land groß und andere klein zu machen. Je stärker eine Gesellschaft zersplittert ist, desto schneller der Ruf nach dem angeblich starken – aber in Wirklichkeit lächerlichen und gefährlichen – Mann.

Mir war bei dieser Wahl sofort ­wieder die berüchtigte Frage des überraschenden ­Gewinners Geert Wilders im Kopf, die er schon nach einer Wahl im März 2014 gestellt hatte: "Wollt ihr mehr oder weniger Marokkaner?" "Weniger, weniger!", schrie die Menge fanatisch. "Na, das regeln wir!", war seine knappe Antwort damals. Ich hörte es live im Radio und zuckte zusammen. Das erinnerte mich doch an dunkelste Zeiten unserer Geschichte, als man versuchte, ganze Bevölkerungsgruppen zu marginalisieren, zu vertreiben und letztlich auszuradieren.

Ein gemeinsames Feindbild reicht, um die Seinen um sich zu scharen

Auch bei uns lässt sich damit inzwischen prima Wahlkampf machen. Brauchte man zu biblischen Zeiten einen Turm zu Babel, um Identität zu stiften, reicht heute ein gemeinsames Feindbild, um die Seinen um sich zu scharen. Geholfen wurde Geert Wilders dabei übrigens von der bis dato herrschenden rechtsliberalen Partei, die dieses Spiel mitbetrieben und ihn erst salonfähig gemacht hatte. Ein taktischer Fehler, den mancher Konservative auch bei uns scheinbar gern selbst machen möchte.

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Aber auch linke Aktivisten befeuern gern die marktschreierische Aufgeregtheit unserer Zeit. Man ­erinnere sich daran, wie nach dem Massaker durch die Hamas vom 7. Oktober 2023 europaweit umwelt- und ­friedensbewegte Aktivist*innen in Demonstrationen auf die Straße drängten, damit Palästina – vom Jordan bis ans Meer – doch bitte endlich befreit würde. Meinungsstark wie ­immer hatte man auch hier freudig ein neues Feindbild entdeckt – die bösen kolonialistischen Juden in Israel. Wie die Verbrüderung mit der Hamas dem Klimaschutz oder dem Weltfrieden dienen soll, erschloss sich allerdings nicht jedem sofort. In den Niederlanden führte das nur zu mehr Polarisierung und trieb den islamfeindlichen ­Parteien die Wählenden in Scharen in die Arme.

Wer Veränderung zum Guten will, muss versuchen, Menschen zu verbinden, anstatt sich immer weiter in immer ­kleinere und extremere Splittergruppen aufzu­teilen, die immer aggressiver um Aufmerksamkeit ­buhlen. Die alte Erzählung vom Turmbau zu Babel macht deutlich, dass dies nicht nur ein Problem unserer Zeit ist, sondern scheinbar in der Natur des Menschen liegt. Schon zu Urzeiten waren erfolgreiche Gesellschaften zwangs­läufig multikulti und mussten um ihre ­Identität ringen. Um die eigene Gemeinschaft zusammenzuhalten, baute man in der biblischen Geschichte eben ­diesen einen Turm, der so hoch sein sollte, dass er Gott vom Thron stoßen und die Menschen zu einer Einheit ­zusammenschweißen ­würde. Gott fand das weniger amüsant und legte den Bau ­dadurch still, dass er die ­Sprachen der Erbauer verwirrte.

Was hält uns im Innersten zusammen?

An dieser Sprachverwirrung leiden wir noch heute und die dahinter liegende biblische Botschaft ist aktueller denn je. Keine menschliche Überzeugung ist das Maß aller Dinge, dem sich alle unterwerfen können. Wenn es kein Turm und kein Feindbild sein soll, so müssen wir uns dennoch fragen, was uns im Innersten zusammenhält. Welche Werte teilen wir noch? Was ist unsere gemeinsame Grundlage? Das Grundgesetz, die einzig ­offiziell anerkannte Leitkultur unseres Landes, gibt uns einen interessanten Hinweis. Es steht explizit unter dem Vorbehalt unserer "Verantwortung vor Gott und den Menschen". Vielen erscheint das heute aus der Zeit gefallen. Sie wollen entweder Gott streichen oder die Verantwortung nur für einen Teil der Menschen gelten lassen. Aber Menschenrechte sind eben unteilbar und gelten auch für unausstehliche oder andersartige Menschen. Auch die Anerkennung einer unerreichbaren höheren Instanz hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, die wir immer mehr aus dem Blick verlieren.

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Propalästinensische Gruppen auf der Berliner SonnenalleeFabrizio Bensch/REUTERS/picture alliance

Selbst wenn nicht jeder an Gott glaubt, so sollten wir doch immer wieder mal über sie oder ihn reden. Wer ­keinen Gott mehr über sich duldet, läuft nämlich Gefahr, sich selbst auf den göttlichen Thron zu setzen. Wer anderer­seits glaubt, er würde Gott vollständig verstehen und durchschauen, tut letztlich dasselbe. Doch kein Mensch ist gottgleich und kein Projekt und keine menschliche Meinung sind absolut und immer wahr. Vor Gott sind alle gleich klein, gleich unbedeutend und gleich wichtig.

Die Fastenzeit ist eine Gelegenheit, ein paar Wochen lang gemeinsam freudvollen Verzicht zu üben. Wie wäre es denn, einfach mal Meinung zu fasten? Sieben Wochen schweigen, sieben Wochen keine Meinung haben, sieben Wochen sich nicht aufregen, sieben Wochen aufeinander zugehen, sieben Wochen einfach nur zu­hören und hin und wieder nachdenklich nicken. Vielleicht verstehen wir dann die anderen und deren Sprache ein Stück ­besser – ein durchaus verlockender Gedanke. Es ist einen Versuch wert. Zumindest halte ich jetzt erst mal meinen Mund.

Infos zur Fastenaktion der evangelischen Kirche "7 Wochen Ohne" finden Sie hier.

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