Jonas ist gern im Wald unterwegs
Anne-Sophie Stolz
Urlaub
Autisten unerwünscht?
Weil Jonas ein Autist ist, hat ihn ein Reiseveranstalter von einem Outdoortrip ausgeschlossen. Wie offen ist unsere Gesellschaft wirklich?
08.09.2023
6Min

Jonas Seibert ist 20, groß und schlank, er studiert ein ökologisches Fach und liebt den Wald, Zugfahrpläne und Frösche. Er kennt so gut wie alle Froscharten Europas und kann alle Haltestellen des TGV bis nach Marseille auswendig aufsagen, inklusive Abfahrtzeiten. Ihn beruhigen Listen, er erstellt fast jeden Tag selbst welche, schreibt stundenlang daran, bis die Dinge vergessen sind, die ihn aus der Bahn werfen. Dazu gehören Zigarettenrauch oder brutzelnde Bratwürste. Diese Gerüche bereiten ihm Unwohlsein: "Ich laufe dann schnell weg", sagt er.

Auch eine Wanduhr kann ihn bei einer Klausur so stark ablenken, dass er die Prüfung abbrechen muss. "Das Ticken des Zeigers bleibt im Kopf, egal, wie stark ich mich auf was anderes konzentriere", sagt er. In seinem karg eingerichteten Zimmer hängt ein Wasserfarbenbild aus seiner Kindergartenzeit. Er mag keine Veränderungen. "Ich bin ein Autist", sagt Jonas Seibert. Autistische Menschen sind in unterschiedlicher Ausprägung darin beeinträchtigt, Gedanken und Gefühle anderer Menschen ausreichend zu verstehen und ihr eigenes Verhalten darauf abzustimmen – so definieren Mediziner die neurologische Störung.

Seinen richtigen Namen soll niemand erfahren.* Er ist vorsichtig geworden, will nicht jedem von seinem Autismus erzählen. Er fürchtet, diskriminiert zu werden. Weil es ihm gerade passiert ist. Er wollte zusammen mit seiner Mutter eine Gruppenreise bei einem kleinen Anbieter von Outdoortrips buchen, eine Woche Tschechien: wandern, radeln, Kanu fahren. "Mein Sohn ist Autist, deshalb würden wir uns über ein ruhiges Zimmer am Rande des Hotels mit möglichst wenig Flurverkehr freuen", schreibt die Mutter an den Reiseveranstalter.

Die Antwort: "Unsere Partner in Tschechien befürchten im Rahmen der angebotenen Outdooraktivitäten, insbesondere den Kanutouren, nicht angemessen auf die sich durch den Autismus Ihres Sohnes ergebenden möglichen Eventualitäten reagieren zu können. Ziel ist ja immer, allen Mitreisenden gerecht zu werden und auch die Reiseleitung nicht zu überfordern. (…) Da die Sicherheit aller an erster Stelle stehen muss, können wir Ihre Buchungsanfrage leider nicht bestätigen und hoffen auf Ihr Verständnis für diese Entscheidung."

Jonas Seibert und seine Mutter haben aber kein Verständnis. Die Mutter ruft beim Reiseanbieter an, sagt einem Mitarbeiter, dass ihr Sohn eine leichte Form von Autismus habe, ein guter Schwimmer sei, studiere und selbstständig lebe, nur manchmal einen ruhigen Rückzugsort benötige. So erzählt sie es.

Autismus darf man nicht verallgemeinern

Doch der Veranstalter bleibt bei seiner Absage, als habe es das klärende Telefonat nie gegeben. Die Mutter verlangt eine ausführliche Begründung. Der Geschäftsführer des Unternehmens antwortet. Er warnt vor den Gefahren einer Kanutour, befürchtet ein Kentern, wenn sich ein Autist bei der Fahrt durch eine tosende Stromschnelle die Ohren zuhalte, statt auf die lauten Kommandos des Reiseführers zu reagieren. "Die Kanuleiter haben eine Obhutspflicht und müssen potenzielle Gefahren von den Teilnehmern einer Gruppe abwehren", schreibt der Geschäftsführer.

Aber liegt der Geschäftsführer des Reiseveranstalters so falsch? Tatsächlich gibt es extrem geräuschempfindliche Autisten. Doch Autismus dürfe man nicht verallgemeinern, sagt Luise Poustka, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Göttingen und renommierte Autismusforscherin. Mediziner bevorzugen den Ausdruck Autismus-Spektrum-Störungen statt Autismus, sagt sie. "Denn das Autismusspektrum ist sehr breit und vielgestaltig. Es reicht von gut begabten Menschen mit gutem Sprachvermögen, die selbstständig leben können, bis zu Menschen mit geistiger Behinderung, die nicht oder nur unverständlich sprechen können und im Alltag auf Hilfe angewiesen sind. Man muss jeden Betroffenen individuell betrachten." Etwa ein Prozent der Menschen sind Autisten, sagt sie.

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Auch Jonas Seibert ist geräuschempfindlich. Er meidet Clubs und Konzerte – aber sich bei der Fahrt durch eine Stromschnelle die Ohren zuhalten und nicht auf den Tourguide reagieren? "Totaler Quatsch", sagt Jonas Seibert. Er ärgert sich über den Geschäftsführer, über die Vorurteile, die Verallgemeinerung. "Was, wenn dort auch andere Autisten ausgeschlossen werden?", fragt er. Das will er verhindern. Mutter und Sohn schildern den Fall einem Juristen vom Verein Autismus Deutschland. Für den Juristen liegt eine Diskriminierung vor. Ein Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, der Veranstalter habe seine Ablehnung unzureichend begründet, sagt der Jurist und rät zu einer Geldforderung. "Der Veranstalter hätte die Verpflichtung gehabt, nach der persönlichen Konstitution des jungen Mannes und seiner individuellen Eignung für eine Kanutour näher zu fragen, statt einfach pauschal wegen des Autismus die Reiseteilnahme abzulehnen", erklärt der Jurist auf Nachfrage am Telefon.

Doch Menschen mit Einschränkungen können für Reiseveranstalter ein unternehmerisches Risiko darstellen, gerade bei Gruppenreisen, sagt wiederum ein Mitarbeiter der Verbraucherzentrale. Wenn es wegen der Betreuung eines Menschen mit Autismus zum Ausfall eines Tagesausflugs kommt, könnte es teuer werden. Für den Reiseveranstalter. "Denn der wäre dann den Haftungsansprüchen der übrigen Reisegruppe ausgesetzt." Systematische Ausgrenzungen von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen durch Reiseanbieter sind jedoch weder dem Autismusverein noch der Verbraucherzentrale bekannt.

Mutter und Sohn haben ein enges Verhältnis

Der Geschäftsführer will vermeidbare Unfälle ausschließen

Jonas Seibert schreibt einen Brief an den Geschäftsführer, fordert 500 Euro. Er verlangt, dass zukünftig keine Autisten mehr pauschal von Reisen ausgeschlossen werden. Er schildert in dem Brief noch mal den ganzen Ablauf, er schreibt von Ausgrenzung, er schreibt von Diskriminierung. Er ärgert sich, dass auf den Anruf seiner Mutter, auf ihre Erklärungen zu seinem leichten Autismus und seiner körperlichen Fitness nicht eingegangen wurde.

Der Geschäftsführer gibt sich überrascht. Von dem Telefonat habe er nichts gewusst, schreibt er ­­­und entschuldigt sich, bietet zur Entschädigung einen Reisegutschein in Höhe von 500 Euro an. Wenn er gewusst hätte, dass Jonas Seibert fit und sein leichter Autismus für den Trip unproblematisch ist, wäre es nie zu der Ablehnung gekommen, schreibt er. Hat er wirklich nichts von dem Telefonat gewusst? Es klingt nach einer Ausrede.

Am Telefon erzählt der Geschäftsführer mit tiefer, ruhiger Stimme, dass es den Anruf der Mutter tatsächlich gegeben habe. Die Mitarbeiter hätten von zu Hause aus gearbeitet, die Information sei untergegangen. Der Geschäftsführer sagt, er habe sich falsch verhalten, er hätte nachfragen müssen. Aber er hatte auch Angst, dass es bei der Kanutour zu einer lebensgefährlichen Situation kommt. So wie vor vielen Jahren, als er noch ein junger Kanuguide war und selbst Reisegruppen führte. Er erzählt von einer Stromschnelle, von einem Kind, das ins eiskalte Wasser fiel. Von der Mutter, die verheimlicht hatte, dass ihr Kind Epileptiker ist. Die panische Angst bekam, ihr Kind könnte einen Anfall bekommen und ertrinken. Er habe das Kind aus dem Wasser gezogen, es ging noch mal gut aus. Aber wenn es einen epileptischen Anfall bekommen hätte? Wenn es ertrunken wäre, wessen Schuld wäre es dann gewesen? Solche Fragen will sich der Geschäftsführer nie mehr stellen müssen. Er will vermeidbare Unfälle ausschließen – und hat nun einen Menschen ausgeschlossen.

Er will es zukünftig besser machen, sagt er. "Heute würde ich fragen: Welchen Einschränkungen unterliegen Sie, die im Verlauf der Reise für Sie relevant werden können?" Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen will er nie wieder ausschließen, wenn sie in der Lage sind, an einem Outdoortrip teilzunehmen.

Den Reisegutschein im Wert von 500 Euro lehnt Jonas Seibert ab. Er bittet stattdessen um eine Spende für einen Verein, der Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen unterstützt. Ein paar Tage später sendet der Geschäftsführer eine Mail. Im Anhang: die Spendenüberweisung. Die Reise sei übrigens ausgefallen, schreibt er.

* Die Namen der beteiligten Personen sind der Redaktion bekannt.

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