Den Autor hat's gerettet. Einblicke in eine Lebensleidenschaft
30.11.2010

Wie stark mich Musik erfasst haben muss, bevor ich sie überhaupt erfassen konnte ­ das kann ich nur rekonstruieren durch eine meiner frühesten Erinnerungen. Unsere Kindergartengruppe, ich war damals gerade drei Jahre alt, sollte den örtlichen Geistlichen am Krankenbett besuchen und ihm ein Ständchen bringen. Anschließend wurden wir durch die Stadtpfarrkirche geführt ­ und dort geschah es: Vor allen anderen machte ich mich dadurch lächerlich, dass ich darauf bestand, die Kirchenbänke seien falsch herum aufgestellt. Wieso denn das? Ja, die Orgel stehe doch auf der anderen Seite, also vorne ­ pardon: hinten. Es muss also zu einem viel früheren Zeitpunkt Orgelmusik einen derart tiefen Eindruck auf mich gemacht haben, dass ich sie für das eigentliche Geschehen an diesem Ort hielt. (Wenn ich selbst heute noch gelegentlich so empfinde, dann hat dies nichts mehr mit einem kindlichen Gemüt zu tun, sondern fällt eher in das Fach Predigtkritik.)

Der Umgang mit Musikinstrumenten fordert und fördert

Gewiss spielte diese frühkindliche Prägung eine Rolle bei meiner Hinführung zur Musik. Just während ich meine Gedanken zu sortieren versuche, tönt es aus dem Radio, frühe Musikerziehung sei wichtig für alle Kinder, denn dadurch erlernten sie auch früher und schneller das Sprechen. Bevor nun aber jemand auf den Gedanken kommt, das erkläre manches an meiner verbalen Aktivität, muss ich darauf hinweisen, dass ich erst im Gymnasium einen recht kurzen Klavierunterricht erhielt. Ich wollte ­ Orgel lernen; aber da ich darin vom Elternhaus nicht unterstützt wurde, war ich weithin auf den Weg des Autodidakten verwiesen und hatte auch bei meinen anderen Instrumenten eigentlich nur Anfangsunterstützung beansprucht. Wenn man erst einmal kapiert hat, wie die Chose läuft und was falsch klingt, kann man eine Menge durch schlichtes Üben erreichen, was ja auch der Lehrer verlangen würde, gegen Honorar. (Übrigens: Der Pädagoge im Radio hatte ja durchaus recht! Der Umgang mit Musikinstrumenten fordert und fördert ja taktile, feinmotorische Fähigkeiten, bei den Bläsern auch noch labiale und linguale Präzision sowie den bewussten Einsatz des Zwerchfells, also wie beim richtigen Singen eine hoch wachsame Körperbeherrschung ­ wenn das nicht die neuronale Verknüpfung in Schwung bringt!)

Wirklich einigermaßen "systematisch" zur Musik kam ich in Lehrzeit und Studium, auf der Orgelbank, wie gesagt weithin im Selbststudium ­ und im selbstverlorenen Studium. (Um noch einmal aufs Neuronale zu kommen: Dass man als Organist nicht nur zwei, sondern drei Notensysteme vor sich hat, dass man überdies nicht nur mit zwei, sondern mit vier Extremitäten agiert, diese sowohl bewusstseinsmäßige als auch motorische Spreizung der Anforderungen, trägt nicht wenig zu den Reizen des Orgelspiels bei. Und nichts ist für mich anspruchsvoller und faszinierender als ein geduldiges ­ und langsames! ­ Studium der Bach'schen Triosonaten: Wer sonst hätte schon das Privileg, ganz alleine drei selbstständige Stimmen sich entfalten zu lassen?) Also: Zur Musik an die Orgel ­ und nicht zuletzt über die Orgel zur Theologie sowie zur richtigen Stellung der Kirchenbänke: Um mein Studium (mit-)finanzieren zu können, betätigte ich mich nämlich als Hilfsorganist und musste dazu naturgemäß viele Predigten wirklich gänzlich anhören, um ihr Ende rechtzeitig zu erfassen ­ das schult, im Guten wie im Kritischen. Und es lehrt einen, die Geister zu scheiden.

Neben Orgel und Cembalo zog es mich aber stets auch zu den Blasinstrumenten. Eine Weile lang Querflöte zunächst, weil ich Angst hatte vor dem damaligen Traum: Oboe! Denn die Oboisten sollen ja so oft verrückt werden. Als dieses Vorurteil ausgeräumt war, es lag ja nur an der vormals oft falschen Atemtechnik, kam für über ein Jahrzehnt die Oboe dazu, bis dann die wachsende berufliche Anforderung eine regelmäßige Pflege des schwierigen Ansatzes unterbrach. (Noch ein Vorteil des Organisten: Er braucht keinen Ansatz!)

Die Musik hatte stets auch eine militärische Funktion

Bevor wir aber allzu naiv über die Himmelsmacht Musik sprechen oder gar nachplappern, böse Menschen hätten keine Lieder, lautet der Befund: falsch! Neben der kultischen Rolle hatte die Musik stets auch eine militärische Funktion, die nämlich, die Truppen zum mörderischen Hauen und Stechen anzufeuern, also das Angstgeschrei der Metzler wie der Gemetzelten zu übertönen. Und dies schon seit den Tagen, da die Griechen regelmäßig verzeichneten: "Und die Hopliten stimmten den Schlachtgesang an..." Wer je das "Dona nobis pacem" in Beethovens "Missa solemnis" mit Bewusstsein gehört hat, das simultane Zitat von Militärmusik und Angstgeschrei, wird von moralisch harmloser Musik nie mehr reden können. Und wenn wir bei Mozart und Haydn Musik "alla turca" hören oder Janitscharenklänge ­ wer denkt da noch daran, dass es sich um eine modisch gewordene Parodie auf die 1683 vor Wien besiegten türkischen Truppen handelt?

Ob aber böse oder nicht: Ich kann Musik nicht nebenher hören oder gewissermaßen gleichgültig "genießen". Sitze ich im Konzert und fange an, zu gähnen oder auf die Uhr zu schauen, dann weiß ich: schlechte Musik ­ oder gute, aber schlecht gespielt, von mir aus auf hohem Niveau. Komme ich aber todmüde in den Saal und es wird hervorragend musiziert, dann rücke ich selbst aus dem abgeschlagensten Zustand sofort hellwach auf die vorderste Stuhlkante. Musik geht mir unter die Haut ­ oder ins eine Ohr hinein, aus dem anderen aber wieder hinaus.

"Lass uns doch erst einmal ein paar Töne probieren..."

Und wenn ich es selber probiere? Ich kenne zwei Extremzustände, aus denen mir Musik ganz elementar heraushalf. Jahrelang hatte ich am Produktionstag meiner Zeitung bis in die ersten zwei bis vier Stunden des nächsten Morgens auf Posten zu sein. Zu Hause dann erst einmal die Kopfhörer aufgesetzt und an der digitalisierten Übeorgel eine Choralbearbeitung, eine Fuge, den Satz einer Triosonate von Bach stolpernd, tastend studiert ­ dann erst war der Tonus so weit normalisiert, dass an Schlaf zu denken war. (Am nächsten Vormittag dann für zwei Stunden an die Schnitger-Orgel von St. Jacobi...) Es gab aber auch Zeiten des sich überschlagenden Stresses, der chaotischen Umstände, in denen es mir nicht einmal mehr möglich war, die Blockflötenstunde an der Hochschule telefonisch zu streichen. Also musste ich hin, um wenigstens zu sagen: "Heute geht es einfach nicht!" Wenn mein Lehrer und Freund Peter Holtslag dann erwiderte: "Lass uns doch erst einmal ein paar Töne probieren...", dann hatte er mich nach einer Stunde wieder bei den Lebenden. Yoga mit Geräusch nannte ich solche Exerzitien. Man muss es erlebt haben, um zu ermessen, welche Erleichterung des Lebens sich einstellt, wenn man durch konzentriert gelockerte Atmung und in Feinabstimmung aller beanspruchten Körperpartien auch nur einen Ton voll zum Klingen bringt und die Resonanz in Leib und Seele spürt. Vom eigentlichen Musizieren ganz abgesehen.

Zum 50. Jahrestag unserer Einschulung als Sextaner schenkte mir ein Klassenkamerad ein Kornett ­ hatten wir doch damals, Mitte der Fünfzigerjahre, zusammen angefangen, Trompete zu lernen; ich hatte das aber bald wieder bleiben lassen. Doch nun erwiesen sich, nach fast einem halben Jahrhundert, die ersten Ansätze gar nicht als so katastrophal wie zu erwarten. Um es kurz zu machen: Vor zwei Jahren kaufte ich mir ein Waldhorn (später gesellte sich ein Naturhorn, also eines ohne Ventile, eine Kopie aus der Mozartzeit, hinzu) ­ und nun darf ich glücklich in zwei Liebhaberorchestern mittun. Schumanns 1., Dvoráks 8., demnächst Beethovens 3. und Bruckners 0. ­ das sind so die Hindernisse, auf die wir mit dem gemessenen Schwung der Liebhaber zustürmen.

Musik erfasst uns, bevor wir sie zu erfassen vermögen. Ich denke, sie kann uns auch begleiten und trösten, wenn Worte uns nicht mehr erreichen können. Vielleicht nehme ich dann den Schluss-choral aus Bachs Johannespassion noch wahr, bevor ihn die Trauergemeinde singen wird.

Aber bevor es so weit ist: Falls jemand irgendwo ein gebrauchtes Barockhorn wüsste, fürs "Quoniam tu solus sanctus" aus Bachs h-Moll-Messe, bitte kurz melden: leicht@zeit.de. Merci vielmals!

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Skateboard aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.