Aus Lust am Morbiden?
30.11.2010

Vom nächtlichen Himmel regnet es Telefonkabel, sie winden sich mir um den Hals wie Schlangen. Mein Schrei reißt mich aus dem Albtraum. Um mich herum rabenschwarze Nacht, es ist kühl, es riecht nach Harz. Wo bin ich? In der Ferne jaulen Hunde. Es dauert einige Momente, bis mir dämmert: "Es sind Consuelas Hunde! Die weißen, zotteligen Tiere von Consuela!" Nun kehrt sie zurück, die ersehnte innere Ruhe. Bis zum Morgen schlafe ich wie in Abrahams Schoß.

Zum fünften Mal haben wir das Bauernhäuschen auf La Palma von seinen Berliner Besitzern gemietet. Von tausend Meter Höhe blickt man über eine Opuntienhecke hinweg, die an Westernkulissen erinnert, und über rosa blühende Mandelbäume auf den Atlantik hinunter. Jeden Abend lauern wir auf den Augenblick, wenn in der ozeanischen Weite, hinter der Amerika liegt, die Sonne versinkt. Morgens erwarten wir ungeduldig, dass sie aus dem nahen Afrika über den Berg kriecht und unsere winterbleichen Gesichter bescheint. Tags wandern wir im hellen afrikanischen Licht über die Vulkaninsel, die aufgrund historischer Umstände, seit Kolumbus' Zeiten, zu Europa gehört.

"Meerwärts?" Waren wir gestern, also heute bergan! Vorbei an der Ruine, die an unser Feriendomizil grenzt, dem Haus mit den verrammelten Fenstern, der Zisterne, mit verfaulten Holzplanken zugedeckt. Dem Kartoffelacker des alten Bonifazio, seinem rosenumstandenen Haus, dem einzig bewohnten auf diesem Wegstück. "Hola! Buenos días!" Er legt die Sichel, die er gerade schleift, beiseite und winkt. Für einen Moment kommen wir uns albern vor, mit unseren Baseballkappen, den Stöcken, deren Tapp-Tapp auf dem Basalt unangenehm metallisch klingt. Doch hundert Schritte weiter sind wir den Blicken der Hiesigen entschwunden, mitten im Kiefernwald.

Ein toter Mandelbaum, ein verfallendes Haus: den Touristen gelten sie als schön

Ich weiß nicht mehr, wann es mir zum ersten Mal bewusst wurde, ob in den Cevennen, in Ligurien oder Irland: Wir verbringen unsere Ferien immer in sterbenden Bauernregionen. Die Mischung von Kulturlandschaft und Wildnis zieht stressgeplagte Städter magisch an. Ein seltsames psychologisches Phänomen, das einen epochalen Prozess begleitet: Der Bauer geht, der Tourist kommt. Auf La Palma setzte er spät und sehr plötzlich ein, 1971, mit dem Ausbruch des Vulkans Teneguia auf der Südspitze der Insel. Wochenlang kreisten katastrophenlüsterne Fremdlinge in Hubschraubern über den rot speienden Schlund, ein unberührtes Eiland von 728 Quadratkilometern war für den Tourismus entdeckt. Nach dem Tod des Diktators Franco war der Weg endgültig frei für die große Verwandlung: Straßenbau, Hotels, das Übliche. Was nicht ganz leicht war, denn die Insel ist steil, das Wetter unberechenbar, besonders im Nordwesten, den wir lieben.

Die caminos, die früher die Äcker, Gärten und Dörfer verbanden, gehören heute den Wanderern. Diese kleinen und kleinsten in den Fels gehauenen, oft sogar gepflasterten Pfade sind wahre Wunderwerke. Ebenso die Trockenmauern, die mit Erde aufgefüllte Terrassen einfassen. Vom Meer bis auf 2000 Meter Höhe ist La Palma terrassiert, das Werk von Generationen. Weinstöcke, Zitrus- und Mandelbäume haben sich auf den winzigen Äckern festgekrallt. Inzwischen sind sie verwildert, von Macchie überwuchert. Unwetter haben das Erdreich fortgeschwemmt, viele Mäuerchen zertrümmert. In manchen barrancos (Schluchten) sieht es aus, als hätten Zyklopen mit Felsbrocken gekegelt.

Für unsere Augen sind diese Zustände schön. Die bizarre Silhouette eines toten Mandelbaums zum Beispiel. Beim Näherkommen zeigt sich: Er beginnt zu blühen, aus den von Bartflechten dick umhüllten Ästen sprießt es rosa. Kein kultivierter Mandelbaum ist so bezaubernd. Besonders malerisch verwildern Opuntienhecken, eine Kulturpflanze, die der Zucht von Farbe spendenden Cochenilleläusen diente und schon lange aus der Aufsicht des Menschen entlassen ist. Von Sturm oder Ziegen abgerissen, landen die stachligen Ohren überall, faulen, treiben halbverrottet neu. Wildnis breitet sich im Eiltempo aus.

Doch in den Eindruck urtümlicher Schönheit mischt sich die Befürchtung, dass auch dieser Zustand des Vergehens vergänglich ist. Noch sehen wir aus der Höhe das leuchtend orangefarbene Karree, den von hohen Mauern geschützten Apfelsinenhain. Seit Jahren kümmert sich niemand mehr um ihn. Aber bald wird es diesen wunderbaren Anblick nicht mehr geben.

Meine Ferienfreude hat zum Teil etwas Kindliches. Ich sammle Kiefernzapfen und wilden Fenchel. Ich möchte einen kleinen Hund mitnehmen, der uns folgt, ich möchte Mangos stibitzen. Wörter aus der Kindheit kehren zurück, Träume. Regenbogenforscher müsste man werden! Das Größte ist: Barba azul gucken, die blaukehligen Eidechsen beobachten. Das Allergrößte: Bauern gucken. Simsalabim ­ ich bin wieder Ferienkind auf dem Bauernhof meiner Verwandten.

Und im nächsten Moment die erwachsene Frau, die ihren Ferienort verstehen will. Auf kleinstem Raum kann man hier den Lauf der Welt betrachten, unsere Straße ist wie ein Mikrokosmos. Der nächste Nachbar meerwärts ist ein Schweizer Manager, der Esoterik-Seminare abhält. Ihm gegenüber eine der letzten bäuerlichen Ökonomien, ein Dreigenerationenhaushalt, der nur aus Frauen besteht, plus zwei sprechenden grünen Papageien. Beide Häuser, das neue pompöse und das traditionelle, haben Satellitenantennen. Doch die Bekanntgabe eines Todes im Dorf erfolgt noch durch schwarzgeränderte Zettel, die auf Mäuerchen gelegt werden, beschwert mit einem Stein.

Zwischen den Inselbewohnern und den fremden Gästen gibt es eine stille Allianz

Alle naselang ist die Betrachterin in einer anderen Zeitzone. Neuerdings ist unsere abschüssige Straße autogängig. Wir haben Bananenplantagen vor Augen, die von Brüssel subventionierte Monokultur schiebt sich von Süden heran. Die Insel "verbrüsselt", heißt es. Der Kampf dagegen, wenn es denn je einen gab, war schnell entschieden. Geld, viel Geld von außen, aus Madrid und EU-Töpfen, hat La Palma in die Moderne katapultiert. Was hätten die Bauern dem entgegenzusetzen? Ganze Generationen hat die Armut in die Emigration getrieben. Der turismo, vor allem aus Deutschland, wird hoffentlich auf Dauer die Insel ernähren.

Unsere Begegnungen mit den bäuerlichen Nachbarn sind freundlich. Zwischen den Alten, die von ihren Äckerchen nicht lassen mochten, und den fremden Gästen scheint es eine stille Allianz zu geben. Manchmal schäme ich mich, weil ich in ihr Reich eingedrungen bin. Manchmal schaut mich einer der Bauern von nebenan scheel von der Seite an. Doch es überwiegt, glaube ich, das Gemeinsame. Ohne uns wären sie noch verlorener. Ohne sie fehlte unserem Dasein hier das Wesentliche, der Spiegel der Erkenntnis.

In guten Ferien stellen sich die im Alltag verdrängten großen Fragen wieder ein. Was ist der Mensch? Wer bin ich selbst? Bonifazio, der Nachbar bergwärts, singt. Ich singe nicht. Consuela, die Witwe mit den zwei weißen Hunden, verbrachte ihre besten Jahre als Zimmermädchen in London. Ich hatte nie Vergleichbares auszustehen. Mi corazón es triste, "mein Herz ist traurig." Warum hört man in Deutschland nie so einen Satz? Der alte Palmero, der ihn sagte, wohnt an unserem Lieblingsweg. Immer wenn wir diesen Weg nehmen, schießt er aus dem Haus und erklärt uns, wie wir gehen sollen: "Dort links an der Kiefer vorbei. Vorsicht, da ist es glitschig. Weiter unten gab es gestern heftigen Steinschlag." Vor Ostern erzählte er uns, im Dorf seien jetzt alle am Putzen, weil die Kinder und Enkel kommen, aus der Inselhauptstadt Santa Cruz oder aus Madrid. Auch er habe sein Haus festlich gerichtet ­ für sich allein. Seine Familie lebe in Venezuela. Dann sprach er diesen Satz, den ich nie vergessen werde.

Soeben wurden Berechnungen von Wissenschaftlern bekannt, denen zufolge La Palma das Epizentrum eines neuen Bebens sein könnte, ähnlich dem in Südostasien. Die Vulkaninsel werde zerbrechen, der Tsunami das 5000 Kilometer entfernte Florida erreichen, New York überfluten. Ob dies eintritt oder nicht, es überschattet das Heute ­ der 80000 Palmeros wie der Touristen. Lebenslust und Todesbangen gehören zusammen, immer schon, wir hatten es nur vergessen.

Im Bewusstsein der Gefährdung wächst bekanntlich die Liebe. Und daraus der Wunsch, sich für das Schöne zu bedanken: Ich habe auf der Insel einen Zilpzalp gesehen, zum ersten Mal im Leben. Tranquilidad, Ruhe gefunden, Freude, Einblicke in Tragödien, Schlaf. In den Nächten, im Bauch des Häuschens, das aus Vulkangestein gebaut ist, fühle ich mich eins mit unserer kaputten Welt wie sonst nie.

 

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