Die Anti-Maria
Paula Modersohn-Becker, Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag, 1906, Paula Modersohn-Becker Museum, Berlin
Die Anti-Maria
Im ersten weiblichen Selbstakt der Kunstgeschichte malt sich Paula Modersohn-Becker schwanger. Dabei war sie es gar nicht.
12.09.2023

Dieses Bild ist revolutionär. Nicht nur, weil die Frau hier (fast) nackt ist. Nicht nur, weil sie schwanger zu sein scheint. Sondern vor allem, weil die Frau auf dem Bild dieselbe ist, die das Bild auch gemalt hat. Der erste weibliche Selbstakt der Kunstgeschichte – geschaffen von Paula Modersohn-Becker im Jahre 1906. Genauer gesagt: am 25. Mai, das Datum ist wichtig. Laut Signatur der Künstlerin, rechts unten im Bild die verschwommene, bronzefarbene Schrift: "Dies malte ich mit 30 ­Jahren an meinem 6. Hochzeitstag. P. B." Nicht mehr P. M. B. – nur noch Paula Becker, gerade hat sie sich von ihrem Mann, dem berühmten Landschaftsmaler Otto Modersohn, getrennt. Und der Babybauch?

Das Datum ist ein Fingerzeig und liefert den Funfact für Hobbydetektive: Paula Modersohn-Becker war zu dem Zeitpunkt, als sie das Bild laut Selbstangabe gemalt haben will, gar nicht schwanger. Hier kommt die künstlerische Freiheit ins Spiel, oder besser: die Botschaft. Dieses Selbstporträt ist auch weibliche Selbst­ermächtigung! Als wollte die Künstlerin all den selbstherrlichen Besserwissern ihrer Zeit, die das weibliche Geschlecht für geistig eher minderbemittelt hielten und zu ­gro­ßer Kunst nicht imstande sahen, unter die Nase malen:

Reduziert mich nicht auf meine biologische Gebär­fähigkeit. Frau sein, Kinder ­kriegen und große Kunst schaffen – das ist kein Widerspruch, es geht. Zugegeben: Sehr originell ist die Verbindung aus (Kunst) Schöpfen und (Kind) Gebären nicht. Umso bedauerlicher, dass sie mit ­dieser Botschaft mehr als hundert ­Jahre später immer noch aktuell ist.

In ihrem Selbstakt steht sie da wie­ eine moderne Anti-Maria. Keine Gottes­- mutter, die devot und schicksalser­geben in einer ungeplanten Spontanschwangerschaft ihre Erfüllung findet (sorry, Maria, ich übertreibe ein bisschen). Vielmehr eine selbstbewusste junge Frau, die sich nicht allein übers Muttersein definieren lassen will.

Paula Modersohn-Becker war trotzdem keine feministische Aktivis­tin, für die eine gute Welt nur eine möglichst ohne Männer war. ­Familie, ­Kinder, Partnerschaft – das war ihr schon wichtig. Die Trennung von ­ihrem Mann fiel ihr schwer. Aus dem gemeinsamen Künstlerhaus in Worpswede flüchtete sie regelrecht nach Paris – nur um sich dort einsam und verloren zu fühlen. Auch in der damaligen Welthauptstadt der Künste wurden junge Frauen mit künstlerischen Ambitionen eher belächelt. Von ihrem Weg hat sich Paula Modersohn-Becker trotzdem nicht abbringen lassen.

Die Anerkennung kam erst nach ­ihrem Tod, der sie auf tragische ­Weise nur anderthalb Jahre nach diesem Bild im Wochenbett ereilte. Ist das die berühmte Ironie des Schicksals oder einfach nur furchtbar? Für die Kunstwelt von heute steht Paula Modersohn-­Becker unzweifelhaft in der Riege der ganz großen Namen.

Interessanterweise sind nackte Menschen ihr Lieblingsmotiv – sich selbst, andere Frauen, Kinder hat die Künstlerin auf die Art wie hier ­ihren Selbstakt gemalt: nicht ver­führerisch-sexuell oder voyeuristisch, eher offen, verletzlich und eben auch so einnehmend ehrlich, wie man es vermutlich nur nackt sein kann. ­Eine große Kunstrevolution auf leisen ­Sohlen, einfach faszinierend.

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