Edward Zorobah, Fariba Aizizi und Paul Nkamani ­standen in Dokumentarfilmen im Scheinwerferlicht. Wo sind sie heute? Zorobah sitzt auf einem Fels am Meer
Edward Zorobah, Fariba Aizizi und Paul Nkamani ­standen in Dokumentarfilmen im Scheinwerferlicht. Wo sind sie heute?
Wie geht es euch?
Drei preisgekrönte Filme dokumentieren die Odyssee von Geflüchteten. Edward Zorobah, Fariba Aizizi und Paul Nkamani ­standen im Scheinwerferlicht. Wo sind sie heute?
14.06.2023

Edward Zorobah aus Ghana floh übers Mittelmeer.

Edward Zorobah aus "A Black Jesus"

Am Ende des Films, der Abspann läuft ­bereits, rennt Edward Zorobah vor der Kamera davon. Er biegt um eine Hausecke und ver­schwindet in der Dunkelheit. Im Gedächtnis bleiben die Schlussworte seines Italienischlehrers: "Obdachlose. ­Frisches Blut für das organisierte Verbrechen. Das ­werden diese Jungs." Der Dokumentarfilm "A Black Jesus" endet mit einer düsteren Prognose für die Geflüchteten aus ­Siculiana, weil ihre Unterkunft geschlossen wird und sie Gott weiß wohin zerstreut werden.

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Niclas Müller

Niclas Müller, Autor, traf auf Sizilien Schwäbisch sprechende Ein­heimische und sah ­griechische und arabisch-­normannische ­Bauten: "Migration ist nicht Europas Problem, sondern sein Wesen."
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Dirk Bruniecki

Dirk Bruniecki, ­Foto­graf, war schnell Teil des Dorflebens in Siculiana: Alle treffen sich in der gleichen Bar. Bürgermeister, Pries­ter, Orgelspieler, Fruchthändler . . .

Dreieinhalb Jahre später sitzt Zorobah auf einer ­Kirchenbank und faltet die Hände. 80 Menschen haben sich in Agrigentos Basilica dell’Immacolata eingefunden, 20 Kilometer östlich von Siculiana. Zorobah ist der einzige Afrikaner im Raum. Hinter ihm blickt eine blond gelockte Jesusfigur gütig herab, während der Priester aus der Bergpredigt zitiert: "Tu sei il sale! Tu sei la luce!" – Ihr seid das Salz! Ihr seid das Licht! Sogar die Bibelmetaphern sind überwiegend weiß an diesem Morgen. Doch das Salz und das Licht in dieser Geschichte ist Zorobah.

Der 23-Jährige fährt nach dem Gottesdienst auf seinem E-Bike zu einem Western-Union-Shop, um Geld nach Sekondi-Takoradi zu schicken, in die drittgrößte Stadt Ghanas, wo seine Mutter und sechs Geschwister leben. Sie brauchen die Unterstützung, 123 Euro zahlt er ein. Kurz ­danach betritt Zorobah seine Wohnung. Seit Juli 2022 lebt er in einer WG zur Miete – drei Zimmer, Bad, Küche, mit Balkon.

Auch Arbeit hat Zorobah auf Sizilien gefunden: Bei einer Firma im Norden von Agrigento bereitet er gebrauchte Automotoren auf. "Ich liebe es, Maschinen zu reparieren", sagt Zorobah. Über seinem Bett hängt eine Urkunde, die mit den italienischen Nationalfarben unterlegt ist: "Con­ferimento Cittadinanza Onoraria" steht in geschwungenen Lettern auf dem Papier, Verleihung der Ehrenbürgerschaft.

Anstatt obdachlos zu werden oder in die Fänge der Mafia zu geraten, wurde er am 25. Juli 2021 zum Ehrenbürger ­Siculianas ernannt. Schon der Film ist reich an Wendungen – doch die wahren Wunder ge­schahen danach und davor.

Er hat ein WG-Zimmer und Arbeit - und eine Aufenthaltsgenehmigung bis 2024. Über seinem Bett hängt die Urkunde seiner Ehrenbürgerschaft.

Seine Heimat hatte Zorobah 2017 verlassen, ge­flohen vor Armut und Kriminalität. In Libyen schuftete er für Landlords, die ihn wie einen Gefangenen hielten, bis er auf einer Gänsefarm schwer erkrankte. Da er wertlos geworden war, setzte ihn sein Besitzer in ein Schlauchboot nach Europa. "Von der Überfahrt weiß ich nichts mehr, ich war kaum bei Bewusst­sein", sagt Zorobah. Ein Rettungsschiff nahm die 140 Passagiere auf und brachte sie nach Palermo. ­Zorobah erholte sich und wurde tiefgläubig: "Ich danke Gott jeden Tag, dass er mich gerettet hat", sagt er und umfasst das ­silberne Kreuz vor seiner Brust. Der Anhänger ist der ­einzige Gegenstand, den er noch aus seiner Heimat hat.

Im Frühjahr 2018 schickten ihn die Behörden in ­eine Unterkunft nach Siculiana – und hier, an der Süd­küste ­Siziliens, bekam er die Hauptrolle im Film von Luca Lucchesi. Der Regisseur war aus Berlin angereist, um am 3. Mai 2018 eine jahrhundertealte Tradition im Heimat­ort seiner Familie zu filmen: Einheimische tragen ein mittel­alterliches Kruzifix aus der Kirche durch die ­Gassen. ­Zorobah sah dem Spektakel zu und bemerkte, was ­niemandem je aufgefallen war: dass die Jesus­skulptur ­ungewöhnlich dunkel ist. Lucchesi filmte den jungen ­Afrikaner zufällig, wie er darüber staunte, lachte und rief: "Wir danken Gott, dass Jesus schwarz ist!"

Es ist nur eine kleine, aber entscheidende Szene, in der Zorobah so etwas wie Salz, Licht und Kind ist – märchenhaft wie in "Des Kaisers neue Kleider". Statt seine Dokumentation über Brauchtum fortzusetzen, produzierte Lucchesi "A Black Jesus" – ein wunderbares Werk über Frömmigkeit, Rassismus und den Wunsch Zorobahs, einmal selbst das Kruzifix mit der schwarzen Jesusfigur tragen zu dürfen.

Das "Santissimo Crocifisso", das Allerheiligste Kruzifix der Gemeinde, in Siculiana auf Sizilien (links). Priester Don Giuseppe Carbone und Luca Lucchesi (rechts), der Regisseur von "A Black Jesus".

Der Regisseur erzählt von der Entstehung des Films im Restaurant Kamikos in Siculiana. Er ist da, um seine Mutter und Freunde zu besuchen – darunter Zorobah, dem alle zu seinem Mechanikerjob gratulieren. ­Besonders freut sich sein ehemaliger Italienischlehrer Alessandro Tedesco: "­Sogar mit Vertrag! Das ist wichtig, damit ­deine Aufenthaltsgenehmigung verlängert wird." Trotz Ehren­bürgerschaft darf Zorobah zunächst nur bis 2024 in ­Italien bleiben. Was danach passiert, sei völlig ungewiss, sagt Tedesco: "Die Lage der Migranten in diesem Land ist weiter­hin eine Katastrophe."

Am nächsten Morgen trifft sich Lucchesi mit Giuseppe Zambito, dem 2020 gewählten Bürgermeister: "Migranten sind keine Feinde", sagt der, "sondern Menschen mit Geschichten." Und er besucht Priester Don Giuseppe Carbone, bekannt schon aus dem Film, sitzt unweit des Rathauses an seinem Schreibtisch, der wie fürs Kino gemacht ist, und sagt: "Wir sind alle Brüder und Schwestern. Wir helfen nicht nur den Christen, sondern auch den Muslimen." Der Weltliche und der Geistliche in Eintracht.

Edward Zorobah hat einen Arbeitsvertrag als Mechaniker. Der Vertrag ist wichtig, damit die Aufenthaltserlaubnis verlängert wird.

Als der Film 2018 und 2019 entstand, war die Stimmung vergiftet. Der italienische Innenminister Matteo Salvini verbot Rettungsschiffen, in Sizilien anzulanden. Viele der 5000 Einwohnerinnen und Einwohner Sicu­lia­nas (im Sommer sind es drei Mal so viele) protestierten gegen die Notunterkunft, in der Zorobah mit 400 anderen unter­gekommen war. Im Film rufen sie wütende Parolen: "­Eine Invasion!", "Unsere Kinder haben keinen Lebensraum mehr!", "Nein zum Auffangzentrum!"

Bürgermeister Zambito ließ "A Black Jesus" in ­Siculiana vorführen. Er war es auch, der Zorobah die Ehrenbürgerwürde verlieh. "Für manche war der Film ein Schlag ins Gesicht, aber es ist heilsam, in den Spiegel zu blicken", sagt Zambito. Seit er im Amt sei, habe es keine fremdenfeindlichen Demonstrationen mehr gegeben. Dabei ist die Notunterkunft wieder geöffnet.

Gern würde der Bürgermeister den Film auch für das Stadtmarketing nutzen und Touren zu den Dreh­orten organisieren. Lucchesi schweigt dazu höflich. Er freut sich lieber darüber, was "A Black Jesus" bewirkt hat: "Es ist eine kleine Revolution: Es war immer das ­Santissimo ­Crocifisso, das Allerheiligste Kruzifix, heute sprechen auch Einheimische vom schwarzen Jesus."

Guiseppe Zambito, der Bürgermeister von Siculiana, hat Zorobah die Ehrenbürgerwürde verliehen.

In der Kirche hängt die geheimnisvolle Skulptur an ­ihrem Platz: Ihre Lenden, Hand- und Fußgelenke sind mit rotem Tuch umhüllt, auf dem Kopf trägt sie ­eine ­goldene Krone. Die Jesusfigur wurde wohl schon vor 1600 aus Eichen­holz gefertigt und dunkelbraun lasiert. Der ­Legende nach ist sie viel älter und war für den Ort Burgio bestimmt. Fuhrleute wollten sie dorthin bringen, ­machten aber in ­Siculiana Halt. Dort setzte sich ein Blinder auf die Transport­kiste. Als er aufstand, konnte er sehen – und die Siculianer gaben diesen Schatz nicht mehr her. ­

Vielleicht war er es. Oder der Film. Oder Zorobah, der sie zu ­Sehenden gemacht hat.

Eisige Kälte, Schläge und Pushbacks an der bosnischen Grenze: Die Afghanin Fariba Aizizi und ihre Familie haben viel mitgemacht. Nun leben sie in Deutschland.

Fariba Aizizi aus "The Game – Spiel zwischen Leben und Tod"

Sarina hustet – das ist das Letzte, was von ihr zu hören ist. Das dreijährige Mädchen trägt ­eine rosafarbene Matschhose und setzt ihre Stiefelchen in den Schnee. Davor hat Sarina geweint und gequengelt – auf Dari, eine Sprache, die in Afghanistan gesprochen wird. Ihre Mutter Fariba übersetzte ins Englische: "­Meine ­Tochter sagt, es ist sehr kalt." Dann wandert die Familie mit dem kranken Kind aus dem Bild, in Richtung der ­weißen Hügel und des grauen Himmels, an dem in der Ferne ein Hubschrauber lärmt.

Die Szenen stammen aus dem Film "The Game – Spiel zwischen Leben und Tod". Er beginnt und endet mit ­Sarina, ihren beiden Geschwistern und ihren Eltern, wie sie im Januar 2021 Kroatien und damit die EU erreichen wollen. Die Bilder zeigen den Aufbruch zu ihrem 57. Versuch. Das Ende bleibt offen.

Manches im Film ist schwer zu ertragen: Kroatische Grenzschützer rauben den Geflüchteten das Geld, das sie bei sich tragen, ihre Handys, ihre Schuhe – und setzen sie barfuß auf bosnischer Seite wieder aus. Illegale, aber alltägliche Pushbacks. Verprügelte, weinende, halb ­er­frorene Männer und Frauen kauern am Straßenrand ­nahe Bihac in Bosnien. Andere humpeln auf Socken in ihre Be­hausungen: Fabrikhallen ohne Dach, Kriegsruinen und Zeltplanen im Wald. Wer wieder zu Kräften kommt, versucht es erneut. "The Game" nennen die Geflüchteten das.

In diesem Elend sind die Aizizis ein Lichtblick: Sie empfangen das Kamerateam in einem halb zerfallenen Haus. Draußen hackt Papa Fereidoon mit anderen Männern Holz. Drinnen singen, klatschen und tanzen die drei ­Kinder. ­Mama Fariba sitzt auf dem Boden und erklärt, dass sie seit zwei Jahren unterwegs sind. Fotos auf ihrem Handy ­zeigen, wie sie im September 2020 den Flammen ent­kamen, die das Camp Moria auf Lesbos zerstörten. Nach der Eva­kuierung gingen sie zu Fuß durch Griechenland, ­Albanien und Monte­negro. In Bihac trennt sie eine letzte Grenze von der EU: "In Zukunft möchte ich Journalistin sein. In Deutschland", sagt Fariba und lächelt in die Kamera.

Sarina ist jetzt fünf Jahre alt. Sie geht in den Kindergarten. Sana und Emra zur Schule, außerdem spielt Emra Fußball.

Zwei Jahre danach, ohne filmische Begleitung, sitzt ­Fariba wieder auf dem Boden eines Zimmers. Ein Heiz­körper spendet Wärme, an der Wand hängen zwei gerahmte Poster von der Grabstätte Mohammeds in Medina und der Blauen Moschee am Bosporus. Sohn Emra, mittlerweile 9, schaut regungslos auf die Zeichentrickfiguren im Fernsehen. Die beiden Töchter Sarina, nun 5, und Sana, 7, sagen einen Reim in deutscher Sprache auf: "Eins, zwei, Polizei!"

Fereidoon stellt ein Tablett mit Tee und Kuchen auf den Teppich. Das Zimmer befindet sich in einem grauen Wohncontainer in Darmstadt. Draußen strömen weiße Wolken aus dem Schornstein eines Müllheizkraftwerks, nebenan steht eine Lagerhalle der Post. Die Aizizis haben Asyl in Deutschland beantragt. Seit Sommer 2021 wohnen sie in einer Unterkunft für 270 Familien. Doch die Wunden der Flucht, mehr als 6000 Kilometer vom afghanischen Herat bis Hessen, sind tief. "Ich bin noch mit vielen Problemen beschäftigt", sagt Fariba in ihrer Muttersprache. Ein freiwilliger Helfer, Medizinstudent aus dem Iran, übersetzt. Fariba sei nach ihrer Ankunft in Deutschland psychisch erkrankt, sie spreche kein Englisch mehr. "Das habe ich verloren", sagt sie. Wie andere Träume auch.

"Unsere Angst vor der Polizei war groß"

Als das Filmteam längst abgereist war, hatten Grenzschützer die kleine, hustende Sarina und ihre Familie im 57. Anlauf nach fast 20 Kilo­metern Marsch durch den Schnee aufgehalten, in ein Auto gesteckt und in Bosnien wieder ausgesetzt. Von dort mussten die Aizizis 18 Kilometer zurück zu ­ihrer Bleibe. "Wir probierten es alle drei Tage wieder", sagt Ferei­doon und streicht mit der Hand über den ­Teppich, ­während Sana einen Globus über den Boden rollt. ­Sarina ruft noch einmal: "Eins, zwei, Polizei!" Es klingt nicht mehr wie ein fröhlicher Kinderreim.

Am 27. Januar 2021 der 65. Versuch: Fereidoon zeigt ein selbst gemachtes Video auf dem Smartphone, wie ­seine Kinder über einen Baumstamm balancieren und den Fluss überqueren, der die Grenze nach Kroatien markiert. Am Ufer und im Wasser könnten noch Minen aus dem Bosnien­krieg liegen. "Sieben Kilometer später hielt uns die Polizei an", sagt Fereidoon. Wie immer.
Doch dieses Mal hatte einer der Beamten Erbarmen, erzählt Fariba: "Er kannte uns schon und sie fuhren uns auf die Wache." Es folgten die Registrierung per Finger­abdruck, Weitertransport und Unterbringung in Zagreb: "Zuerst waren wir froh. Wir dachten, jetzt müssen die ­Kinder nicht mehr weinen."

Die kleine Sarina während eines Fluchtversuchs vor über zwei Jahren. Heute leben Fariba, Sana, Sarina Fereidoon (oben von links nach rechts) und Emra Aizizi (unten rechts) in einer Darmstädter Flüchtlingsunterkunft.

Doch in der Sammelunterkunft wendete sich wenig zum Guten: "Sie behandelten die Menschen wie Tiere", sagt Fariba. Einmal habe sie in der Küche um etwas Brot für Sana gebeten, weil das Mädchen allergisch auf das ausgegebene Essen reagierte, mit Ausschlag und Atemnot. Die erste Antwort: "Wenn ihr euch beschweren wollt, ­schmeißen wir euch raus." Die zweite deutet Fariba nur an: "Es waren Securityleute", sagt sie. Und Fereidoon erklärt: "Sie haben uns oft geschlagen. Dass sie es vor den Kindern getan haben, kann ich nie vergessen."

Nach 45 Tagen flohen die Aizizis erneut, dieses Mal aus einem EU-Land. Fereidoon sagt, sie hätten sich mit einem Rucksack voll Konservendosen davon gemacht: "Immer durch die Wälder, nie auf der Straße. Unsere Angst vor der Polizei war groß." Sechs Tage später überwanden sie unbemerkt den Stacheldraht nach Slowenien. Einen Tag danach, in Italien, legten sie ihre verdreckte oberste ­Kleidungsschicht ab und nahmen einen Bus zum Bahnhof Triest. "Wir hatten etwas Geld", sagt Fereidoon, "und ­Fariba sprach noch Englisch. Wir sind nie schwarz­gefahren."

"Die Kinder wachten nachts auf und schrien"

Per Bus und Bahn ging es über Mailand und Turin bis Paris. Dort habe Fereidoon in einem Park mit Männern geredet, die versprachen, sie im Auto nach Deutschland zu fahren. Der Preis für fünf Personen: 1000 Euro. Freunde und Verwandte brachten die Summe auf, und irgendwie fand das Geld seinen Weg. Fariba schließt die Augen, als sie an den 8. April 2021 denkt. Es war der Tag, an dem die Aizizis im "Taxi", wie sie sagen, die deutsche Grenze überquerten: "Es war so schön. Wir waren glücklich."

In der Gießener Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen gab es keine Schläge mehr. Stattdessen Rechtsstaat: Die Fingerabdrücke, die in Griechenland niemand ge­nommen hatte, bewiesen laut Datenbank, dass die ­Familie in Kroatien in die EU eingereist sei. Nach den ­Regeln des Dublin-Verfahrens müsse sie dort um Asyl ­bitten. In Deutschland deswegen: kein Integrationskurs, kein Deutschlernen, keine Bewegungsfreiheit, keine Arbeits­erlaubnis, nur untätiges Warten in Darmstadt auf die ­Abschiebung nach Zagreb. Seit dieser Mit­teilung spricht Fariba kein Englisch mehr. Sie sagt: "Bis vor kurzem hatten meine Kinder Angst, wenn sie das Wort Kroatien hörten. Sie wachten nachts auf und schrien."

Die Familie lebt in einem Wohncontainer, insgesamt wohnen hier 270 Familien. Nebenan steht eine Lagerhalle der Post.

War es das wert? Vermissen sie Afghanistan manchmal? Fariba schaut ihren Mann an. Fereidoon legt ein Stück des von ihm selbst gebackenen Kuchens zurück auf eine ­Serviette – und lacht. Fariba antwortet: "Nein. Da denken wir an Taliban-Terror, an Krieg und Selbstmordattentate. Wir sind dankbar und froh, hier zu sein."

Weil die kroatischen Behörden fast ein Jahr nichts ­taten, nahmen die deutschen den Asylantrag der Aizizis schließlich an. Seit Juli 2022 arbeitet Fariba als Küchenhilfe in einer Darmstädter Schule, Fereidoon schneidet anderen in der Unterkunft die Haare und kümmert sich um den Haushalt. Sarina geht in den Kindergarten, Sana und ­Emra zur Schule, außerdem spielt der Junge im Fußballverein. Fariba hat ihren Berufswunsch, Journalistin zu werden, aufgegeben, nicht aber ihre Hoffnung: "Ich möchte irgendwann eine Ausbildung als Krankenpflegerin machen, weil ich anderen gern helfe." Als es draußen schon dunkel ist, sagen Sana und Sarina einen Reim auf, der zuversichtlich klingt: "Neun, zehn, auf Wiedersehen."

Er hatte mit dem Leben abgeschlossen, als die Küstenwache ihn vom Boot rettete. "Bis jetzt spüre ich diese Reise auf dem Meer", sagt Paul Nkamani.

Paul Nkamani aus "Als Paul über das Meer kam"

Am Ende des Films steht Paul Nkamani vor einer Bücherwand und sucht nach den richtigen Worten. Er streicht mit den Fingern über seine Unterarme, faltet die Hände und hält sie vors Gesicht. Harald Preuss, der Vater des Regisseurs, hat ihm gerade ­eine schwierige Frage gestellt: "Meinst du denn, dass du ein ganz typischer Flüchtling bist?" Nkamani denkt daran, wie seine Mitschüler vorhin im Sprachkurs zu ihm auf­schauten, als seinetwegen ein Filmteam im Klassen­zimmer war, und antwortet auf Deutsch: "Sie glauben, dass ich ein Star bin!" Er lacht. Harald Preuss erwidert: "Ein Star! Ja, das ist so ein bisschen die Gefahr bei dieser ganzen Sache."

Damals, im Sommer 2015, war Nkamani neu in Berlin – angekommen nach einer viereinhalbjährigen ­Odyssee, die ihn aus Kamerun über Nigeria, Niger, Algerien, ­Marokko, Spanien und Paris bis vor diese Bücherwand führte. Filme­macher Jakob Preuss hatte ihn in Marokko kennengelernt, danach etappenweise begleitet und daraus die Dokumentation "Als Paul über das Meer kam" gemacht.

Auf ­Nkamanis Überfahrt nach Spanien, als kein Filmteam dabei war, verlor die Hälfte der Mitreisenden ihr Leben. Trotzdem endet der Film mit Hoffnung: Nkamani fährt auf dem Fahrrad durch Berlin-Schmargendorf, wo er im Elternhaus von Jakob Preuss eine Bleibe gefunden hat. Nkamanis letzte Worte im Film: "Ich wusste, es würde hart werden. Ich werde weiterhin kämpfen."

Paul Nkamani arbeitet in einem Pflegeheim. Er muss nicht mehr fürchten, abgeschoben zu werden.

Fast acht Jahre später steht Nkamani wieder vor dem Regal im Wohnzimmer. Er ist jetzt 44, arbeitet in einem Altenpflegeheim, hat eine zunächst bis 2024 befristete Aufenthaltserlaubnis und wohnt im Souterrain. Harald Preuss hat seinen Untermieter zu Kaffee und Kuchen eingeladen, auch Jakob Preuss ist da. Alles sieht danach aus, als sei die Fortsetzung von Nkamanis Geschichte frei von Dramen – doch in Wahrheit folgte auf "Als Paul über das Meer kam" ein Ringen mit den Behörden, das Stoff für eine Groteske hergibt. Und die Tragödie, die Nkamani auf seiner Flucht erlebte, wirkt fort.

"Ich gehe abends mit Schmerzen nach Hause"

Gemäß den Dublin-Regeln verlangte die Bürokratie, dass Nkamani zurück nach Spanien reisen müsse. In ­Berlin war er monatelang zum Nichtstun gezwungen. "Für mich war das unerträglich", sagt Harald Preuss, "da ist ­einer, der Abitur hat, der anpacken will, aber niemand lässt ihn." Schließlich prüften die Deutschen den Asyl­antrag doch. Nkamani durfte arbeiten und fing in einer Küche der Caritas an. Am ersten Tag trug er ein weißes Kreuz an einer Halskette, sichtbar über einem schwarzen Pullover. "Er dachte: Das sind Katholiken! Meine Leute! Ein christliches Land", erzählt Harald Preuss. Doch schnell sei klar geworden, dass ihn seine Kollegen am liebsten herum­kommandierten. Der erste Befehl: "Schmuck ab!"

Nachdem Nkamani im Sommer 2016 einen Pflege-­Basis-Kurs absolviert hatte, stellte ihn ein Seniorenheim in Berlin-Dahlem an. Neben seinem Vollzeitjob musste er ­wöchentlich, später dreimal pro Woche, im Amt in Brandenburg an der Havel vorsprechen, weil er dort eine Wohnsitzauflage hatte. Sein Asylantrag scheiterte trotzdem. Dabei, sagt Nkamani, sei er in seiner Heimatstadt Douala benachteiligt worden und willkürlich von der ­Universität verbannt worden: "Wenn du in Kamerun nicht zur richtigen Familie gehörst, hast du keine Chance."

Als Pflegehelfer im Pflegeheim ist Nkamani für sieben Frauen und einen Mann zuständig, alle leiden an Demenz. Ein kräftiger Mann wie er bekommt fast immer die schwereren Fälle. "Ich gehe jeden Abend mit Schmerzen nach Hause", sagt er.

Auch in Deutschland trübten sich seine Zukunftsaussichten: Der Widerspruch gegen die Ablehnung des Asylantrags wurde im Herbst 2020 zurückgewiesen, die Behörden drohten mit sofortigem Entzug der Arbeits­erlaubnis und forderten ihn auf, das Land innerhalb eines Monats zu verlassen – das Land, in dem laut Gesundheitsökonom Heinz Rothgang von der Universität Bremen rund 120 000 Vollzeitkräfte in Pflegeeinrichtungen fehlen und Nkamani seit 2016 keinen Tag im Job verpasste.

Heute hätte Nkamani das neue Chancen-­Aufenthaltsrecht geholfen, durch das auch abgelehnte Asylbewerber bleiben können, wenn sie gut integriert sind. 2020 aber war er auf die Gnade der Härtefallkommission des Landes Branden­burgs angewiesen. Das Gremium, in dem Ver­treter der ­Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Landes­regierung ­sitzen, prüft pro Jahr rund 100 Einzelschicksale. Es kann empfehlen, dass ein Ausreisepflichtiger bleiben darf, wenn humanitäre oder persönliche Gründe eine Ausnahme recht­fertigen.

"Ich bin heute lieber ­anonym"

Pfarrerin Annette Flade, eine "Ikone der Migrations­hilfe", wie Harald Preuss sagt, und Seelsorgerin Monique Tinney von der Charité brachten Nkamanis Geschichte ein. "Er war natürlich ein Vorzeigefall", sagt Harald Preuss, "­zu­verlässig, pünktlich, ein idealer Mitarbeiter." Der branden­burgische CDU-Innnenminister Michael Stübgen, auch er ein ehemaliger Pfarrer, folgte der Kommissions­empfehlung im Sommer 2021. Seitdem muss Nkamani keine Abschiebung mehr fürchten.

An einem Samstagmorgen um 6.10 Uhr geht Nkamani zur Frühschicht. Seit Anfang 2022 arbeitet er als Pflegehelfer in einem Pflegeheim, zehn Minuten Fußweg von seinem Zuhause entfernt. Im Erdgeschoss ist Nkamani für sieben Frauen und einen Mann zuständig. Alle leiden an Demenz, vier liegen im Palliativzimmer. Waschen, ein­cremen, aufsetzen, Essen anreichen, Rufe aus dem Saal beantworten, ausgekippte Säfte aufwischen, zwischendurch die Arbeit dokumentieren – Nkamani mag seinen Beruf und die Bewohner mögen ihn. Doch in seinem Job sind alle am Limit. Ein kräftiger Mann wie er bekommt ­zudem fast immer die schweren Fälle, während ­schwächere ­Kollegen leichtere Aufgaben übernehmen. "Ich gehe jeden Tag mit Schmerzen nach Hause", sagt Nkamani.

Paul Nkamani und Regisseur Jakob Preuss (unten rechts) sind inzwischen befreundet. Vater Harald Preuss (unten Mitte) ist Nkamanis Vermieter.

In seiner Wohnung im Souterrain hängt das Film­plakat an der Wand und Jakob Preuss ist zu Besuch – sonst ­erinnert wenig an den Star aus der Dokumentation. Der Filmemacher arbeitet im Hauptberuf derzeit im Deutschen Bundestag. Für die Grünen befasst sich der Jurist damit, wie eine Passage im Grundgesetz geändert werden kann: In Artikel 3 heißt es seit 1949, niemand dürfe wegen "seiner Rasse" benachteiligt werden – was problematisch ist, denn es gibt zwar Rassismus, aber keine menschlichen Rassen. Nkamani und Preuss kennen sich schon so lange, dass sie nicht immer einer Meinung sein müssen, um befreundet zu bleiben: Als Nkamani etwas umständlich über ein Terminproblem redet, sagt Preuss: "Komm doch mal zum Punkt!"

Im Vergleich zum Film, als Nkamani auf das Filmteam zuging, Touristen in Granada und Afrikaner in Paris ansprach, scheint Nkamani heute verschlossener zu sein – selbst seinen Kollegen im Haus Teplitz hat er nie etwas von "Als Paul über das Meer kam" erzählt. "Ich bin heute lieber ­anonym", sagt er, "damals war ich frei und enthusiastisch, jetzt habe ich die Realität gesehen."

Zu seiner Wirklichkeit gehört, dass ihn die Gedanken an die Überfahrt vor neun Jahren nicht loslassen. Der Motor war ausgefallen. Tage- und nächtelang trieb das Schlauchboot dahin. Die Menschen an Bord verzweifelten, ver­hungerten, versanken. 25 bis 30 Mitreisende starben, ­darunter acht Kleinkinder und Babys.

Auch Nkamani ­hatte schon abgeschlossen, bevor die Küstenwache ihn und die übrigen Überlebenden rettete: "Bis jetzt spüre ich diese ­Reise auf dem Meer. Wenn ich ein großes Wasser ­sehe, kann ich nicht hinsehen. Filme mit Gewalt ertrage ich nicht", sagt ­Nkamani. Noch schwerer wiegt für ihn, dass die Spätfolgen der Kata­strophe seine Konzentrationsfähigkeit be­einträchtigen: "Das ist die Enttäuschung in meinem ­Leben", sagt Nkamani, "etwas auswendig zu lernen, fällt mir schwer. Eine Aus­bildung zu machen, habe ich bislang nicht geschafft."

Infobox

"A Black Jesus"
Dokumentarfilm von Regisseur Luca ­Lucchesi und Produzent Wim Wenders, ­gedreht im Jahr 2020. Unter anderem ­ausgezeichnet mit dem Deutschen ­Menschenrechts-Filmpreis 2022. Zu sehen über Prime Video, 92 Minuten, FSK: 0 Jahre

"The Game - Spiel zwischen Leben und Tod"
Der Film von Manuela Federl ­erschien 2021 und wurde unter anderem ausgezeichnet als "Best Humanitarian Film" beim Cannes World Film Festival 2021. Frei zugänglich auf Vimeo zu sehen, auch mit folgendem Link:  www.chrismon.de/ fluechtlingsdoku, 88 Minuten, pädagogische ­Empfehlung: ab 14 Jahre

"Als Paul über das Meer kam"
Der Filmemacher und ­Jurist Jakob Preuss lernt Paul ­Nkamani aus ­Kamerun bei Recherchen an der ­Küste ­Marokkos kennen. In Spanien ­treffen sie sich wieder, Preuss begleitet ihn bis Berlin. Erschienen 2017, ­aus­gezeichnet beim 20. Shanghai ­International Filmfestival als "Best Documentary Film". Zu sehen auf DVD, ­­97 ­Minuten, FSK: ab 6 Jahren

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