Lamya Kaddor, Lehrerin, Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin, Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes
Lamya Kaddor, Lehrerin, Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin, Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes. Fünf ihrer ehemaligen Schüler sind in den Dchihad gezogen und haben sich dem IS angeschlossen. Sie hat das Buch "Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen." geschrieben.
Dominik Asbach/laif
"Muslim ist Muslim. Fertig!"
Warum eine Araberin nicht automatisch Muslimin ist und eine Muslimin 
nicht ­automatisch Terroristin oder eine unmündige Frau.
Arne List/Wikimedia Commons
12.07.2018

Schon der Renaissance-Philosoph Niccolò Machiavelli war im 16. Jahrhundert zu der Erkenntnis gelangt: "Politik ist die Summe der Mittel, die nötig sind, um zur Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten und um von der Macht den nützlichsten Gebrauch zu machen." Da Politiker nicht einfach argumentieren können, dass es ihnen nur um Macht geht, erzählten einige von ihnen den Menschen: "Wir schreiten auf dem Weg Gottes und wollen den Islam, unsere ureigene Religion, wieder zur Geltung bringen. So wie es einst in der Blütezeit des Islam vor mehr als fünfhundert Jahren war. Schließt euch an!" Viele glaubten diesen Männern. Und von denen wiederum glaubten manche, das Ziel rechtfertige Gewalttaten wie Selbstmordattentate.

So kam – verkürzt dargestellt – der gewaltbereite ­Islamismus in die Welt. In deren Windschatten verlangte eine andere Gruppe nach Gehör, der wir es nun zu ver­danken haben, dass alle Welt von "den Muslimen" redet: die Scharfmacher im Westen. Sie, die eigentlich ihr grundsätzliches Unbehagen angesichts von Zuwanderung, ­Modernisierungen und Veränderungen kundtun wollen, entdeckten den Islam für ihre Zwecke und kaprizierten sich auf Muslime. Sie fingen an, gezielt negative Beispiele für ihre Kernthese zu sammeln, Deutschland, Europa, das Abendland seien bedroht. Dank der Islamisten fanden sie reichlich davon und erklärten die Hintergründe allesamt mit der Religion, prangerten diese an und nannten das Ganze Islamkritik.
 

"Muslime? Das sind doch die Gewalttäter!"

Sich auf Muslime zu verlagern, passte vielen Scharfmachern prima ins Konzept: Der Islam in Deutschland gilt in weiten Teilen der Gesellschaft als "Ausländerreligion", trotzdem steht man nicht so rasch unter Rassismusverdacht, wenn man sich über Muslime äußert. Und das liegt daran: Der Ruf der Muslime wird seit 2001 von einer Öffentlichkeit geprägt, die in Endlosschleife nahezu täglich im Kontext von Terroranschlägen über Muslime spricht. Da erscheint es nachvollziehbar, wenn jemand "Islamkritik" übt.

Die Dauerbeschallung mit dem Thema islamistischer Gewalt seit mehr als fünfzehn Jahren verschafft den ­Extremisten überproportionale Aufmerksamkeit, in ­Wirklichkeit stellen sie nämlich nur eine kleine Minder­heit im Islam dar. Die übergroße Mehrheit all jener ­Muslime, die unauffällig ihrem Alltag nachgehen, wird in der Öffentlichkeit nicht ansatzweise sooft dargestellt. Die Folge ist: Die "Kritik" am Islam wurde bis zur Mitte der Nullerjahre so gut wie gar nicht hinterfragt und wird es nach wie vor zu wenig. Das nutzen Rassisten, Chauvinisten oder Nationalisten aus, indem sie ihre Hetze und ihren Hass hinter dem Begriff Kritik verstecken, um sie auf diese Weise unbemerkt in die Gesellschaft hinein­zutragen, Stück für Stück und tiefer und tiefer.

Kritik gilt bekanntlich als etwas Positives, was richtig angewandt korrekt ist, manchmal aber besteht Kritik aus dumpfer Verbreitung von Vorurteilen – genau das gilt es zu erkennen und zu dekonstruieren. Und ich darf Ihnen sagen, das ist ein furchtbar mühsames Unterfangen. Der schlechte Leumund von Muslimen im 21. Jahrhundert rührt mithin nicht nur von Muslimen selbst her, sondern gleichsam von klassischen "Fremden"-Feinden und ihren Geistesverwandten.
 

Die "Muslimisierung der Muslime"

Das Thema ist komplex und hat weitere Dimensionen. Auf eine davon hat Katajun Amirpur schon vor Jahren hingewiesen. Sie ist Professorin für Islamische Studien an der Universität Hamburg. Sie stellte die These von der Musli­misierung der Muslime auf. Stammt man zum Beispiel aus 
einer arabischen, türkischen oder bosnischen Familie, wird man automatisch als Muslim wahrgenommen – selbst wenn man mit Religion gar nichts am Hut hat.

Katajun Amirpur hatte beim Aufstellen dieser These vor allem die Öffentlichkeit im Sinn, die zum Beispiel aus dem Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Cem ­Özdemir, einen Muslim macht. Das ist zwar de facto ­richtig, aber sein Wirken als Politiker hat mit dem Islam und mit Muslimen allenfalls am Rande etwas zu tun, da er sich auf andere Politikbereiche konzentriert. Auch ­Islamfeinde praktizieren diese Muslimisierung der Muslime, indem sie Schreckenstaten von Menschen auflisten, die einen muslimischen Familienhintergrund haben, und diese dann mit deren Religion erklären.

Dasselbe machen Antisemiten mit Mark Zuckerberg, dem Facebook-Gründer, der zwar Jude ist, aber gar nicht als Jude handelt, sondern als Unternehmer. Man wird nicht gefragt, als was man sich selbst sieht. Muslim ist Muslim. Jude ist Jude. Das gilt teilweise sogar in hochoffiziellen staatlichen oder wissenschaftlichen Zusammenhängen. In Deutschland werden Muslime nirgends registriert. ­Dennoch gibt es Angaben über die Anzahl der Muslime in Deutschland. Diese Zahl wird unter anderem auf Basis der nationalen Herkunft erhoben. Dadurch entsteht zum Beispiel folgende Absurdität: Ich könnte Mitglied in einem Verein für Exmuslime sein und würde trotzdem als Muslim gezählt, weil ich syrischer Herkunft bin. Hier also noch mal zum Mitschreiben: Als Araber ist man nicht automatisch Muslim und als ­Muslim nicht automatisch Terrorist, als Muslimin ist man nicht zwangsläufig eine unmündige Frau, so wie man als ­Europäer nicht automatisch christlichen Glaubens und als Christ nicht automatisch Friedensstifter oder als Christin automatisch eine mündige Frau ist.
 

"Das sind doch Ihre Landsleute!"

Ein Beispiel aus meinem Berufsalltag: Während einer Abendveranstaltung las ich aus meinem Buch "Zum ­Töten bereit". Die Fragerunde wurde eröffnet, und ein Mann aus dem Publikum stand auf und richtete das Wort an mich: "Was sagen Sie denn zu dem, was Ihre Landsleute da tun?" Der Mann bezog sich auf radikali­sierte Muslime, um die es in meinem Buch geht. In solchen ­Situationen überlege ich mir zweimal, wie ich reagieren soll. Diesmal entschied ich mich dafür, nachzufragen, in der Hoffnung, der Mann werde schon selbst merken, wie problematisch die Formulierung seiner Frage war. "Wen meinen Sie mit ‚meinen Landsleuten‘?" Auf diese Nachfrage hin ant­wortete er: "Na, Ihre Landsleute eben." – "Was glauben Sie denn, wer meine Landsleute sind?" – "Die Muslime und so."

Solche Situationen habe ich in all den Jahren, in ­denen ich bereits als "Berufsmuslimin" unterwegs bin, sehr oft erlebt. Und es fällt mir nicht immer leicht, Ruhe und Contenance zu bewahren, gerade weil ich ein impulsiver und emotionaler Mensch bin. Der Mann stand erwartungsvoll vor seinem Platz mitten im Publikum und starrte mich an. Er schien nicht ansatzweise zu verstehen, dass ein Muslim ein Angehöriger einer Religionsgemeinschaft und seine Frage dementsprechend unsinnig war. So platzte es aus mir heraus: "Soll ich Ihnen mal sagen, wer meine Landsleute sind? Sie sind mein Landsmann! 
Sie sind Deutscher, ich bin Deutsche. Ich weigere mich, Ihre Frage in dieser Form zu akzeptieren."

Spontan brandete Applaus auf. "Dass ich Muslimin bin, verbindet mich kein Stück mit einer anderen Nationalität. Mit der Türkei habe ich auf dem Papier genauso viel zu tun wie Sie, und dass meine Vorfahren syrischer Herkunft sind, macht mich noch lange nicht zu einer ­Syrerin, wie Frauen in Syrien Syrerinnen sind!" Dem Mann im Publikum wurden meine Ausführungen sichtlich ­unangenehm. Aber seine Ignoranz, unterlegt mit dem an­klagenden ­Unterton, ging mir in dieser Situation einfach zu weit. Der Herr setzte sich stillschweigend wieder hin, und schon nach einigen Sekunden tat es mir sogar wieder leid, dass ich so aufbrausend reagiert hatte.

Lamya Kaddor, Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben. Piper Verlag, 2018

Echte oder vorgeschobene Angst?

Manche mögen denken, vielleicht wusste er es einfach nicht besser, oder er hat sich falsch ausgedrückt? Das mag sein. Ich vermute dagegen, es war einer jener Zeitgenossen, deren Fragen ganz offen eine pauschale Abneigung gegenüber Menschen aus bestimmten Herkunftsländern zum Ausdruck bringen sollen. Der Mann war sich bloß nicht im Klaren darüber, dass die Fremdenfeindlichkeit in seiner Frage so offen zutage trat, weshalb ihn mein Ärger so unvorbereitet traf. Ich hoffe, er hat verstanden, bezweifle es jedoch, denn Menschen mit einer solchen Ansprache wollen sich meist nicht inhaltlich austauschen, sie wollen nur ihren Stich machen. Ich kann verstehen, wenn jemanden Ängste umtreiben und man zum Beispiel auf den Alarmismus reinfällt, im Jahr 2050 werde Deutschland islamisch sein.

Dieses Phänomen beobachte ich häufig: Jemand will Menschen mit Migrationshintergrund diskreditieren und versteckt sich hinter angeblicher Angst. Wenn es um echte Angst geht, verhindert sie nicht grundsätzlich das Ein­gehen auf Argumente. Wer tatsächlich Angst hat, hört zu, wenn jemand versucht, diese Ängste auszuräumen, indem er auf sie eingeht. Es wird selbst in fünfhundert Jahren keine Islamisierung in Deutschland stattfinden. Warum? Weil Muslime in diesem Land gerade mal fünf bis sechs Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, weil Statis­tiken zeigen, dass die Geburtenraten runtergehen wie beim Rest der Bevölkerung und auch bei Muslimen zu gewissen Teilen eine Säkularisierung einsetzt – vor allem in Verbindung mit sozialem Aufstieg.

Wir waren vier Geschwister, ich habe zwei Kinder, nicht vier, fünf, sechs, sieben oder acht. Nach dem deutlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen in den Jahren 2015 und 2016 sind die Grenzen dichtgemacht worden, weil jede Bevölkerung überfordert wäre, wenn zu viele Menschen einwandern. Von denen, die gekommen sind, haben oder mussten Zehntausende Deutschland wieder verlassen, sie sind entweder freiwillig ausgereist oder wurden abgeschoben. Zahlreiche Menschen werden in nächster Zeit noch gehen.
 

Kinder zu Demokraten erziehen

Wir sind alle gefragt, unsere Kinder zu Demokraten zu erziehen. Im Artikel 1 des Grundgesetzes steht: "Die ­Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu ­schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Wenn wir alle den 1. Absatz des 1. Artikels ernst nehmen ­würden, ginge es uns besser. Aber es ist mit dem Ge­setzestext für Deutsche so wie mit dem Koran für Muslime: Man hat schon so oft davon gehört, dass man nicht mehr darüber nachdenkt, was er im Grunde bedeutet.

Familien ohne Zuwanderungsgeschichte aus jüngerer Zeit müssen begreifen, dass sich ihre Gesellschaft ver­ändert, und Familien mit Zuwanderungsgeschichte aus jüngerer Zeit müssen begreifen, dass ihre Kinder und ­Enkel Deutsche sind oder werden.

Produktinfo

Aus den Buch von Lamya Kaddor, Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben. Piper Verlag, 2018. (aus dem Schlusskapitel "Macht und Herrschaft")

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