Julika Stich, 35, war oft am Ende Ihrer Kraft. Nun lebt sie ihr Leben
Julika Stich, 35, war oft am Ende Ihrer Kraft. Nun lebt sie ihr Leben
Privat, Sabine Oberpriller
Mama braucht meine Hilfe 
Julika war zwei, als ihre Mutter an multipler Sklerose erkrankte. Sie lernte pflegen, wie andere laufen und staubsaugen. Normalerweise sind erst die Eltern für ihre Kinder da, dann andersherum. In Julikas Familie ging alles schneller. Wie kann sie sich da selbst finden?
05.02.2018

Im Strandkorb an der Ostsee, oben ­Möwen, unten Sand, vorne die Brandung, Ruhe – das war gut. Julika Stich hat keine schönere Erinnerung an ihre Familie, an Momente, die so unbelastet waren wie diese am Meer. „Vielleicht sollte ich nach Lübeck ziehen“, sagt sie. Warum nicht? Immerhin steht sie, 35, in ihrem ­Leben ziemlich am Anfang. Aus dem bisherigen Leben sind nicht viele Grundfesten übrig, auf die sie bauen könnte. Sie war zwei Jahre alt, als ihre Mutter die Diagnose „multiple Sklerose“ erhalten hat.

Julika wuchs mit Hebebühnen, Rollstühlen und Urin­beuteln auf. Pflegen hat sie gelernt wie andere laufen, ­Zähne putzen und staubsaugen. Es ist doch klar, dass die Tochter mithilft, wenn die Mutter krank wird. Oder? Manche Tage sind schön, die meisten anstrengend, voll Verlust­angst und Verantwortung. Für anderes ist kaum Zeit geblieben, vor allem nicht für die Frage: Was ist eigentlich mein Leben?

Ein Fotoalbum erzählt die Geschichte

Erst sind Eltern für ihre Kinder da, später die Kinder für die Eltern. Bei den Stichs ging alles schneller. Fotos aus Julikas Album erzählen diese Geschichte: Eine junge Frau sitzt im Korbstuhl und schaut mit keckem Blick in die Kamera, ein Baby im Arm, eine Dose Babybrei in der Hand. Eine Frau im Rollstuhl umarmt ein kleines Kind, das sich zu ihr hochreckt. Ein Mädchen schiebt eine Frau im Rollstuhl. Eine junge Frau mit Ponyfransen über der Stirn umarmt die Frau im Elektrorollstuhl, deren Gesicht erstarrt ist.

Bei multipler Sklerose greifen Entzündungen die Nervenbahnen an. Die Symptome variieren anfangs. Seh­störungen können auftreten, Lähmungen, oder die Beine schmerzen. Oft verteilen sich die Krankheitsschübe über Jahrzehnte. Mittlerweile gibt es wirksame Therapien, die die Krankheit nahezu zum Stillstand bringen. Julikas Mutter gehörte zu den wenigen, bei denen diese nicht anschlagen. Ohne Hilfe ging es für sie bald nicht mehr. Das Hinterlistige ist, dass die Krankheit sich schleichend entwickelt, so dass die Pflegenden nicht merken, wann es zu viel wird – vor allem für ein kleines Mädchen.

Dass sich junge Menschen um pflegebedürftige Familien­mitglieder kümmern, wurde bislang kaum wahrgenommen und ist kaum erforscht. Auch, weil man so schlecht an die Familien herankommt. Mehr als 250 000 junge Pflegende leben in Deutschland. Genauere Zahlen gibt es nicht. Erste Initiativen sammeln Informationen und versuchen, die Jugendlichen anzusprechen. Aber sie erwischen fast nur die Ehemaligen. Die Initiative „Wir pflegen“ will es bald dort versuchen, wo Jugendliche am häufigsten sind: in Schulen.

Der Vater war überfordert

Julika wuchs in Hohensolms und in Königsberg in Mittelhessen auf, zuletzt im selbst gebauten, behindertengerechten Haus gegenüber den Großeltern, damit die besser helfen konnten. Einer musste das Geld verdienen, das war der Vater. Jemand musste ein Auge auf die Mutter haben und ihr zur Hand gehen, das war meistens Julika. Die Oma war vormittags da und ihre Cousine half wöchentlich. Der Vater hielt sich zurück. Die Situation schockierte ihn, und ihm lag die Pflege nicht.

Julika war die, die immer auf den letzten Drücker in die Schule kam. Weil sie um sechs Uhr aufgestanden war, die Mutter aus dem Bett auf die Hebebühne gewuchtet, ins Bad bugsiert, sie gewaschen, angezogen und in den Rollstuhl gehievt hatte. Sie war immer unkonzentriert. Weil sie nachts wegen der Hilferufe ihrer Mutter nicht durchschlief. Sie war die Ernste. Weil eine Hälfte ihrer Gedanken immer bei der Mutter hing. Das ist nicht „cool“.

Julika steckte in der ­Schule in einer Rolle, die sie nicht haben wollte. Sie wollte auch mal normal sein, als Teenager auf Partys gehen, Freunde treffen. „Das kann doch die Tochter machen“, sagten dagegen viele Pflegerinnen oft lax, wenn es mal wieder darum ging, beim ­Essen zu helfen oder den Urinbeutel zu leeren. Weil Julika nicht immer zur Stelle sein wollte, hatte sie bei manchen den Ruf der „faulen Tochter“ weg. Das brennt sich ein. Dass sie nicht genüge, dass ihre eigenen Bedürfnisse verwerflich seien, das wird später zu den ­Dingen gehören, die den Knoten festziehen.

Die Krankheit der Mutter war wie eine Fußfessel

Sie hätte jemanden gebraucht, der nicht im Pflegekreisel der Familie drinsteckt, der weitere ­Hilfen organisiert, vor der Belastung warnt und vor allem für Julika Zeit freischaufelt. Die Krankheit ist wie eine Fußfessel. Die Sorge ist überall dabei. Bei jedem Martinshorn horchte Julika auf. Einmal erlaubte sich ein Mitschüler einen Scherz. Er habe keinen Rollstuhl vor der Haustür gesehen. Der stand dort immer, wenn die Mutter daheim war. Julika sprang auf und rannte den ganzen Weg nach Hause. Zuhause war alles in Ordnung.

„Ich habe eine schlechte Selbstwahrnehmung“, sagt Julika. Auf sich zu schauen, das hat sie nicht gelernt. Sie erzählt von der schönen Feier zu Mutters fünfzigstem Geburtstag. Von ihrem 18. Geburtstag erzählt sie nicht. Sie war für andere da, in einer Lebensphase, in der junge Menschen sich selbst entdecken, sich abgrenzen, ausprobieren. Hobbys? Julika war froh, wenn sie manchmal einfach überhaupt nichts tun musste. Jugendliche Pflegende lernen dafür andere soziale Kompetenzen, die von der Gesellschaft als sehr wichtig erachtet werden: Fürsorge, Empathie, Kommunikation. Viele suchen sich soziale Berufe. Julika auch, als Erzieherin. Diese Wahl ist nicht immer klug. Julika zum Beispiel gehen die emotionalen Probleme anderer eigentlich zu nah.

Tim Wegner

Sabine Oberpriller

Sabine ­Oberpriller, 28, findet es richtig, Angehörige zu pflegen. Aber wenn das zur Selbst­aufgabe führt, und wenn junge Erwachsene danach nur noch schwer in ihr eigenes Leben finden, kann es auch unfair sein.

Jeder Mensch braucht sogenannte Glücksinseln: Orte oder Tätigkeiten. Julika bezeichnet das Haus ihrer Großeltern eher als Rettungsinsel. Die Oma war der Ruhepol, ihre Umarmungen machten Hoffnung, sie kochte mittags. Die Tür war immer offen. Wenn nötig, zauberte sie einen Cappuccino zur Stärkung. Nach Partys schlief Julika im Gästebett. Wenn alles zu viel wurde, ließ sie sich in einen der tiefen Sessel im Wohnraum sinken. Im anderen saß der Opa. Oft sagte er gar nicht viel, las in der Zeitung. Opa, der ihr mit seiner sortierten Art Halt gab.

"Ich habe mich so dreckig gefühlt"

Irgendwann nahm die Überforderung überhand. Die Mutter war auch hartnäckig. Wenn sie etwas wollte, rums­te sie mit dem Rollstuhl so lange gegen die Tür, bis sie es bekam. Wenn sie nachts um Hilfe rief, weil etwas verrutschte oder ihr Kopf seitlich weggesackt war, schrie Julika irgendwann mal zurück: „Lass mich in Ruhe. Ich will schlafen.“ Auch der Vater schrie, packte sie manchmal fest. Die Intimpflege der Mutter lastete auf Julika. „Ich hab mich so dreckig gefühlt“, sagt sie.

Hätten sie früher erkennen müssen, dass sie mit ihrer Kraft am Ende waren? Aber wer schiebt denn den liebsten Menschen ab? Letztlich entschied die Mutter. Um Diskussionen zu vermeiden, suchte sie heimlich ein Heim aus und ließ sich vom Onkel hinbringen.

Besuch im Pflegeheim Junge Pflege im Casino in Wetzlar. Dort hatte die Mutter die letzten Jahre verbracht. Die Wände sind in freundlichen Farben gehalten, von der ­Kantine her duftet es nach Kaffee. Im Flur entdeckt ­Julika einen beachtlichen Benjamini, sie befühlt seine Blätter: „Der stand schon früher da.“ Sie zittert. Für sie ist der Besuch so etwas wie eine Probe und auch ein Abschluss. Acht Jahre ist der Tod der Mutter her. Danach war sie nur einmal kurz da, um die Sachen abzuholen. Doris kommt herbeigestürzt, eine Pflegerin, schmal, mit festem Händedruck und erfahrener, energischer Stimme.

Im Pflegeheim ist ihre Mutter die verrückte Nudel

Erinnerungen. An die lebenslustige Frau, die immer Radio hörte und deswegen über alles Bescheid wusste. Die mit ihrem Rollstuhl durch die Gänge sauste und ihn rasant millimeterbreit an Hindernissen vorbeibugsierte. „Julikas Mutter hat nie gehadert“, sagt Doris anerkennend. „Sie ist immer offen auf alle zugegangen.“ Sie berichtet von denjenigen Bewohnern, die noch da sind, und dass sie ihnen von Julikas Besuch erzählt hat. Dass viele sich gerne an die Mutter erinnern. „Das war eine, mit der konnte man vernünftig reden!“, habe einer gesagt. Die Worte tun Julika gut. Als am Eck ein neues Café aufmachte, das war schon ganz am Ende, hat die Mutter immer gesagt: „Da müssen wir hin auf einen Cocktail.“ „Geht nicht“ gabs nicht für sie. Julika muss lächeln. Ihre Mutter, die verrückte Nudel, an die will sie sich gerne erinnern.

Kann es ein gutes Ende geben? Innerhalb weniger Jahre 
endet Schlag auf Schlag Julikas Familienleben, wie sie es kannte. Der erste Schock: Der Vater erkrankte an Hautkrebs und starb in kürzester Zeit, zwölf Jahre ist das her. Die Mutter starb zwei Jahre später an einer Lungenentzündung, da war Julika 25. Bald nach der Mutter starb die Oma.

Jeder reagiert anders. Aber alle, die jung gepflegt ­haben, müssen sich erst mal finden und neu orientieren, wissen Studien. Sie müssen damit zurechtkommen, dass der geliebte Mensch fehlt, dass die Belastung plötzlich weg ist, dass sie Verantwortung nur noch für sich haben, dass aber auch plötzlich das fehlt, was die Tage strukturiert hat. Alle begleitet die Erfahrung ein Leben lang. Julika will ein ganz normales Leben, friedlich, familiär, wie im Lübeckurlaub, wie am ehesten noch an Weihnachten, das sie ganz allein zu dritt gefeiert haben, mit Besuch des Krippenspiels, mit verschlossenem Wohnzimmer und Baum.

Mit Anfang 30 nochmal neu anfangen

Sie übertreibt es: Sie wollte die normalste, häuslichste Beziehung der Welt, eine Wohnung nach Katalog, eine normale Ehe. Die scheiterte, und damit ihr ganzes Lebenskonzept. Julika brach zusammen, bat Freunde, sie ins Krankenhaus zu fahren. Sie brauchte Zeit für sich. In einer Therapieeinrichtung entdeckte sie neue Fähigkeiten: Gestalten, Werken. Hobbys, die sie nie hatte. Und sie versuchte, ihr Leben zu verstehen. Es kollidiert mit den Anforderungen der Leistungsgesellschaft: Mit Anfang dreißig fängt man nicht noch mal neu an. Da ist man schon etwas.

Kaum ein Psychologe kennt sich aus mit den Erfahrungen, die junge Pflegende machen. Auch deshalb geht ­irgendwie nichts voran, hat Julika oft das Gefühl. Oft scheint sie an ihrem Therapeuten vorbeizureden. Viele, die jung gepflegt haben, berichten davon, dass sie sich einen Ansprechpartner gewünscht hätten, der beim Sortieren hilft. Was Julika bleibt, ist eine Art Schuldgefühl dafür, dass ihr Leben so ist, dass sie jetzt nicht richtig funk­tioniert. Ratlosigkeit. Irgendwann sucht sie im Internet: „Jugendliche pflegen ihre Eltern.“ Der Begriff „Young Carers“ taucht vor ihr auf – Minderjährige, die ihre Angehörigen pflegen. Julika erfährt aus einer ganz neuen ­Studie, dass sie Teil eines kaum erforschten Phänomens ist. „Sonst mag ich Schubladen nicht. Aber in dieser bin ich gerne“, sagt sie. „Sie hilft mir, mich nicht wie ein seltsames Opfer zu fühlen.“ Seither engagiert Julika sich, um auf das Thema aufmerksam zu machen und Betroffene zu ver­netzen. Sie betreibt eine Website und eine Facebook-Seite.

Am meisten an ihrem neuen Leben hat Julika das ­Alleinsein gefürchtet: ohne Eltern, Großeltern, ihren Mann. Aber da sind plötzlich Freundinnen aufgetaucht, älter als sie – fast wie ältere Schwestern oder Mütter, sagt sie – die ihr beim Aussortieren der alten Sachen helfen, die mit ihr Geburtstag und Weihnachten feiern und die Tage neu ausfüllen, vor denen sie am meisten Angst hatte.

Sie denkt oft an ihren Vater, der selbst resigniert hat. „Achte besser auf dich, als ich auf mich geachtet habe“, hat er ihr kurz vor seinem Tod gesagt. Das macht sie. Sie schöpft Kraft und übt, sich zu trauen. Vielleicht sollte sie doch Innenarchitektur studieren? Und nach Lübeck ­ziehen! Warum nicht? Es ist jetzt ihr Leben.

Infobox

Wer hilft?

Julika Stich vernetzt Betroffene unter young-helping-hands.de und auf Facebook. Die Beratungsstelle Pflege in Not bietet Jugendlichen, Eltern, Fachkräften und Lehrern mit Echt Unersetzlich eine Anlaufstelle. Die Initiative Young Carers bietet darüber hinaus ein Sorgentelefon an.

In einem neuen, vom Bundesfamilienministerium initiierten Projekt namens Pausentaste ist eine "Nummer gegen Kummer" Anlaufstelle für Mädchen und Jungen, die sich um ihre Angehörigen kümmern oder diese zu Hause pflegen. Kostenlos erreichbar unter: 116 111 oder per E-Mail info@nummergegenkummer.de. Unter www.pausentaste.de finden Betroffene Erfahrungsberichte und Interviews mit jungen Pflegenden, Videos und Hinweise auf Beratungsangebote.

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