Doch, das wollte der genau so!
Für Martin Luther war die Kirche ein menschlicher Verein. Inklusive Irrtümer
Lena Uphoff
30.08.2017

"Der Luther wollte das doch gar nicht, was sich heute evangelische Kirche nennt.“ ­Willi kann sein Stirnrunzeln nur mit einem abschätzigen Grinsen drapieren, wenn jemand auf den 500. Jahrestag von Martin Luthers Thesenanschlag zu sprechen kommt. Mein hier schon mehrfach zitierter Sitznachbar in unserer Dorfkneipe sagt von sich selbst, er habe in „eurer großen Bigotterie das Gottlos gezogen“. So weit, so lustig. Aber das Thema „Christentum und Kirchen“ beschäftigt Willi dennoch. 

„Ihr redet dauernd von der Freiheit eines Christenmenschen, wettert gegen Umweltverschmutzung, Krieg und Totschlag, Unterdrückung und Ausbeutung. Dem Doktor Martin würde speiübel. Der wollte gehorsame Untertanen der Obrigkeit. Freiheit gab es für ihn nur im Kopf – nicht im tatsächlichen Leben.“ Ihm nun mit der Feststellung zu antworten, es sei nicht ganz falsch, was er da sage, ­wäre so banal wie wahr. 

Christen müssen um die Wahrheit ringen. Aber ohne Gewalt

Religiöse Gemeinschaften sind wie jeder beliebige Verein, ob Gewerkschaft oder Kegelclub, „Menschenwerk“. Deshalb gilt auch für sie der Seneca oder Cicero zu verdankende Satz: „Irren ist menschlich.“ Das sah Luther ebenso. Und deshalb hatte die Kirche in seiner Analyse kein Recht auf absolute Maßstäbe, die sie gegenüber Christen oder Heiden notfalls mit Zwang und Gewalt durchzusetzen versuchte. Dass sich Menschen und ihre Organisationen auf der Suche nach der Wahrheit falsch entscheiden können, lasse sie im selben Augenblick „Gerechte und Sünder“ sein, schloss der Wittenberger Theologe. Sie sind deshalb auf die Gnade Gottes angewiesen. 

Wenn Irren menschlich ist, dann sollte man den zweiten Satz der an­tiken Formel nicht vergessen: „Aber auf Irrtümern zu bestehen, ist teuflisch.“ Das gilt unter evangelischen Christen auch für die krassen Fehl­einschätzungen Martin Luthers hinsichtlich der Juden oder der aufständischen Bauern. „Ihr seid also eine Kirche, die von vornherein weiß, dass ihre Predigten reiner Quatsch sind. Und deshalb soll man Kirchensteuer zahlen.“ Willis Grinsen gewann von Sekunde zu Sekunde an selbstgewisser Fröhlichkeit. 

Nicht „Quatsch sind“, korrigierte ich, aber „sein können“. Dass sich die deutschen Protestanten mehrheitlich mit dem NS-Regime zusammentaten und nur die überschaubare Gruppe der „Bekennenden Kirche“ zu widerstehen versuchte, führte immerhin nach Kriegsende zum „Stuttgarter Schuldbekenntnis“. Darin stellten profilierte Kirchenleute fest: „wir klagen uns an, dass wir nicht ­mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ 

„Und das haben alle geglaubt?“ Nicht alle, aber die große Mehrheit der Versammelten. „Da gab es doch sicher ordentlich Streit – hinter verschlossenen Türen?“ Nein, bei offenen Türen. Kirche im Sinne Martin Luthers und lange vor ihm beim ­Apos­tel Paulus ist der Ort „des ­Ringens um die Wahrheit“. Im evangelischen Raum streitet man in ­Kirchenparlamenten, den Synoden, darüber, was der Wahrheit am nächsten kommen könnte. Auch dafür gibt es ein schönes Luther-Zitat: „Die Geister lasset aufeinander prallen, die Fäuste haltet still.“ 

„Das ist wirklich ein schönes Wort“, räumte Willi ein. „Dann sind du und ich also auch ‚Kirche‘, wenn wir hier bei einem Gläschen fröhlich streiten?“ Ich nickte. Was Willi zu dem Hinweis veranlasste: „Aber beten werden wir jetzt nicht.“ Ich musste ihm widersprechen: „Ich bete zum gnädigen Gott, dass er uns noch viele solche Gespräche schenken möge.“ Das konnte Willi nicht als letzten Satz stehen lassen: „Dann bete ich und bitte dich, dass die Rechnung auf mich geht. Frau Wirtin: Zahlen bitte!“

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