Kampagne gegen Genitalverstümmelung
Stolze junge Frauen: Muna Hassan (links) und Fahma Mohamed posieren für eine Kampagne gegen weibliche Genitalverstümmelung
Foto: Olmos/Eyevine/Picture Press, Jones/Eyevine/Picture Press
Grausamer Brauch
Mädchen verstümmeln und ihnen die Lust am Sex nehmen, das geschieht nicht nur in fernen afrikanischen Ländern. Mitten in Europa werden Mädchen beschnitten, illegal und in Hinterhöfen. Wer das nicht will und sich gegen seine Landsleute zur Wehr setzt, riskiert oft soziale Isolation
29.10.2015

Dass Frauen beschnitten werden, davon hatte Lisa Zimmerman nur aus fernen Ländern gehört. Aus Ländern, in denen Frauen kaum Rechte ­haben. Dass das Los auch Mädchen in Europa trifft, aus ihrer eigenen Klasse, hatte die Lehrerin aus dem südenglischen Bristol nicht gewusst. Bis vor sechs Jahren.

Zimmerman hatte zwölf Schülerinnen zum Reiten eingeladen, elf sagten ab. Als sie fragte, warum, hieß es: Angst vor Schmerzen. Es stellte sich heraus: Alle elf waren beschnitten. Zimmerman recherchierte und erfuhr, dass etwa 66 000 genitalverstümmelte Frauen und Mädchen allein in Großbritannien leben. Und dass mehrere Tausend in Gefahr sind, verstümmelt zu werden. „Ich war entsetzt, als mir das klarwurde“, sagt Zimmerman.

Dabei sind sogenannte Mädchenbeschneidungen in den meisten Ländern der Welt verboten. Praktiziert werden sie trotzdem, Unicef zufolge in mindestens 28 afrikanischen Ländern, im Mittleren und Fernen Osten und in Asien. In Ägypten, Somalia und Guinea bei über 90 Prozent der weiblichen Bevölkerung. Weltweit sind über 100 Millionen Frauen und Mädchen betroffen.

In Europa steigt die Zahl der verstümmelten Frauen seit den 1970er Jahren. Es sind vor allem Einwanderinnen aus Afrika. Innerhalb der Europäischen Union leben die meisten von ihnen in den klassischen Zuwanderungsländern England und Frankreich. Die französischen Be­hörden gehen seit den 1980er Jahren vor allem gegen malische und senega­lesische Familien in den Pariser Vororten vor, in denen Mädchen verstümmelt werden. Britische Polizisten stoppten im Juli einen Mann und seine Töchter auf dem Weg nach Afrika. Der Verdacht: Die Mädchen sollten dort beschnitten werden. In Deutschland geht Terre des Femmes von 35 000 verstümmelten Frauen aus. Je mehr zuwandern, des­to mehr werden sich Lehrer, ­Sozialpädagogen und Polizei um das Problem kümmern müssen.

Über lokale Medien und die BBC bis hin zu Ban Ki Moon

Lisa Zimmerman unternahm etwas. Mit Mädchen aus ihrer Schule schrieb sie ein Theaterstück gegen die Genitalverstümmelung. Und sie drehte ein Video und stellte es auf Youtube. Eltern reagierten erbost, die Väter einiger Schülerinnen drohten mit Gewalt, Lehrerkollegen rieten davon ab, sich weiter einzumischen.

Doch Zimmerman machte weiter: ­Mehr Mädchen, aber auch Jungen schlossen ­­sich ihrer Gruppe „Integrate Bristol“ an, inzwischen sind es rund 300. Erst berichteten die lokalen Medien, später der „Guardian“ und die BBC. Mehrfach konnten die Schüler im Radio über Genitalverstümmelung aufklären. Sie trafen Politiker, auch Premier­minister David Cameron stellte Geld für eine afrikanische Aufklärungskampagne zur Verfügung. Friedensnobelpreisträgerin Malala war da und versprach Unterstützung, ebenso UN-Generalsekre­tär Ban Ki Moon. Im Februar hat Lisa Zimmerman eine Konferenz mit Ärzten, Wissenschaftlern, Aktivisten, Lehrern und Betroffenen organisiert. Im August 2015 wurde das Projekt für den Menschenrechtspreis der britischen Liberty-Orga­nisation nominiert.

Genitalverstümmelung mitten in Eu­ropa – wie kann das sein? „Viele Familien fliehen vor Krieg und Armut“, sagt Katharina Kunze von Terre des Femmes. „Hier halten viele besonders an Traditionen fest, um sich ein Stück Heimat zu bewahren.“ Viele Eltern seien darüber schockiert, dass Mädchen in Europa schon vor der Ehe Sex haben. Besonders Mütter wollten ihren Töchtern jegliches sexuelle Verlangen austreiben und sie unter Kontrolle bringen. Manche Männer glaubten, die Klitoris einer Frau wachse weiter und hänge irgendwann bis zum Knie, wenn man sie nicht abschneidet. „Wir müssen verhindern, dass der Brauch an die nächs­te Generation weitergegeben wird“, sagt Kunze. „Dafür brauchen wir vor allem die Väter und die Mütter.“

Einwanderer suchen Anschluss bei anderen Familien aus ihrem Heimatland. Besonders in größeren Städten leben sie oft in Gemeinschaften mit Hunderten anderen. Man hilft einander bei Behördengängen, Sprachschwierigkeiten und Jobsuche, man feiert gemeinsam. „Wenn sich jemand gegen die Normen dieser Gemeinschaft stellt, kann das zum Ausschluss aus der Gruppe führen“, sagt Katharina Kunze. „Das wollen die meisten um jeden Preis vermeiden.“

Die Tochter nicht beschneiden lassen bedeutet ausgegrenzt zu werden

Sana Luir (Name von der Redaktion geändert) musste diese Konsequenzen am eigenen Leib spüren. Die 30-Jährige stammt aus einer Familie mit neun Geschwistern in Somalias Hauptstadt Mogadischu. Luir war neun Jahre alt, als ihr, ihrer Schwester und ihrer Cousine die ­Klitoris qualvoll entfernt wurde. Die Cousi­ne verblutete. Schon damals schwor sich Luir, ihren Töchtern dieses Leid niemals anzutun.

Protest

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Die Britin Lisa Zimmerman protest­iert mit Muna und ­Fahma gegen Genitalverstümmelung. Beiden jungen Frauen sind aus ihrem Bekanntenkreis die verheerenden Folgen bekannt, mit denen beschnittene Frauen klarkommen müssen.

Als sie 19 Jahre alt war, spitzte sich der Bürgerkrieg in Somalia zu. Mit Unter­stützung ihrer Eltern und ihres älteren Bruders, der schon in Kanada lebte, floh Luir nach England. Ihr Vater starb vor fünf Jahren. Die übrige Familie ist weit ­verstreut: Ihre Mutter in Kenia, die Geschwis­ter in den Niederlanden, Italien, England und Kanada. Mit der Flucht, so hatte Luir ­geglaubt, habe sich das Thema erledigt. Doch in Bristol, wo Luir lebt – und inzwischen auch zwei ihrer Brüder –, hält die somalische Community zusammen, auch in Fragen der Tradition.

Luir will dazugehören. Sie hat drei Kinder von drei Männern, kann weder lesen noch schreiben und hatte noch nie einen Job. Um einen britischen Pass zu beantragen, fehlt ihr das Geld. Die somalische Community könnte ihr Rückhalt geben. „Aber sie wollen nichts mit mir zu tun ­haben“, sagt Luir. Andere Somalis gucken an ihr vorbei oder wechseln die Straßen­seite. Ihre Muttersprache hat sie seit langem nur mit ihren Kindern gesprochen.

Mehrfach haben ihre Brüder, die auch in Bristol leben, sie bedrängt, ihre Tochter „beschneiden“ zu lassen. Früher, als ihre Tochter dafür noch zu klein war, hat sie mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter häufig telefoniert. Doch Luirs klares Nein zur Genitalverstümmelung sehen sie inzwischen als Affront – und haben den Kontakt abgebrochen.

Luir lebt isoliert. Von der englischen Gesellschaft, weil sie keinen Job hat, nicht lesen und schreiben kann. Von der somalischen Community – weil sie sich gegen deren Tradition stellt.

Ausbilder tragen ihr Wissen weiter

Viele Familien schicken ihre Töchter zur Beschneidung während der Sommerferien ins Heimatland“, sagt Katharina Kunze von Terre des Femmes. Mal werden auch sogenannte Beschneiderinnen aus dem Heimatland eingeflogen, manchmal macht es sogar jemand aus der Immigrantengemeinde.

„Viele Täter wissen, dass sie sich strafbar machen“, sagt Anja Stuckert vom Kinderhilfswerk Plan International. Sie riskierten die Tat daher meist nur in großen Gemeinden, die sehr isoliert und für sich leben und wenig Kontakt zur heimischen Bevölkerung haben. „Die Chance, dass ­der Vorfall nach außen dringt und die Täter vor Gericht kommen, ist dort am gerings­ten“, sagt Stuckert.

Hintergrund

Seit September 2013 ist Genitalverstümmelung in Deutschland ein eigenes Delikt: „Wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.“ (Paragraf 226a Strafgesetzbuch) Schon vorher war Genitalverstümmelung schwere Körperverletzung. Eltern werden als Anstifter nach § 26 StGB bestraft – oder „wegen Begehens durch Unter­lassen“, wenn sie nichts gegen die Verstümmelung ihrer Tochter tun (§ 13 StGB).

Viele Mädchen werden im Kindesalter zwischen vier und zwölf Jahren verstümmelt, andere kurz vor der Hochzeit. Mal wird die Klitoris entfernt, mal auch innere und äußere Schamlippen, oft ohne Nar­kose und meist unter unhygienischen ­Bedingungen. Dann wird die Vagina zu­genäht, nur ein kleines Loch bleibt zum Wasserlassen. Viele verbluten nach quälender Prozedur. Wer überlebt, leidet ­le­benslang unter Schmerzen beim Wasserlassen und beim Geschlechtsverkehr.

Deutschsprachige Infos für Fachkräfte in sozialen, pädagogischen und medi­zini­schen Berufen im Internet unter: www.change-agent.eu > „Information about FGM“ > „Change Publications“

Aus diesem Grund hat das Kinderhilfswerk Plan zusammen mit anderen Hilfs­organisationen in den vergangenen drei Jahren Menschen ausgebildet, die in ihren Gemeinschaften gut vernetzt sind und von möglichst vielen Mitgliedern anerkannt werden. Es sind Männer und Frauen aus Moscheen und Frauengruppen – in Deutschland, Großbritannien, Schweden und in den Niederlanden.

Gwladys Awo, eine der Ausbilderinnen von Plan, stammt aus Benin und lebt in Hamburg. „Die Lösung des Beschneidungsproblems ist so vielfältig wie Afrika selbst“, sagt sie. Den Familien, die sie erreicht, erklärt sie, welche verheerenden Folgen die Beschneidung für den Körper der Frauen hat – und dass der Koran sie keinesfalls fordert. Die Ausgebildeten tragen das Wissen in ihre Gemeinden weiter. Awo hat auch schon einen Imam, einen früheren Verfechter der Genitalverstümmelung, vom Gegenteil überzeugt. Er argumentiert jetzt mit dem Propheten Mohammed so: „Die erste Bedingung für eine gültige Ehe ist, dass die Frau befriedigt sein kann, wenn sie mit ihrem Ehemann intim wird.“

Neue englische Gesetze zum Schutz der Mädchen

Gwladys Awo sagt, sie erwarte gar nicht, immer sofort Erfolg zu haben: „Einen Beschneidungsbefürworter vom Gegenteil zu überzeugen, klappt nicht von heute auf morgen. In vielen Familien ist das Thema tabu. Es muss überhaupt erst einmal darüber gesprochen werden.“ Wenn Familien ins Heimatland reisen wollen, reicht sie ihnen ein Informationsblatt. Darauf steht, dass Eltern in Deutschland Haftstrafen drohen, wenn sie zulassen, dass ihrer Tochter in der Heimat die Klitoris entfernt wird. „Wir hoffen, dass wir sie damit vom so­zialen Druck im Heimatland entlasten.“

Englische Politiker versuchen mit immer neuen Gesetzen, die Mädchen zu schützen. Wenn Lehrer, Freunde oder Nachbarn melden, ein Mädchen werde in die Heimat gebracht, um sie an den Ge­nitalien zu verstümmeln, können die Behörden sofort einschreiten. Ist der Verdacht begründet, wird dem Mädchen der Pass entzogen. Es kann das Land nicht mehr verlassen.  

Sana Luir hat ihre Tochter nicht verstümmeln lassen und dafür den Ausschluss aus der Großfamilie in Kauf genommen. Wenn ihre Tochter eines Tages selbst Mutter wird, stellt sich ihr die Frage gar nicht erst. Den grausamen Brauch hätte Sana Luir damit zumindest in ihrer Kleinfamilie gestoppt.

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