JENS KALAENE/DPA PICTURE-ALLIANCE; LUCAS CRANACH DER ÄLTERE/KURPFÄLZISCHES MUSEUM DER STADT HEIDELBERG; LUCAS CRANACH DER ÄLTERE, HANS KRELL/AKG-IMAGES, PR
Ein in weltlichen oder gar politischen Angelegenheiten völlig untrainierter Intellektueller setzt – zunächst ohne es zu wissen – die Säge an den dicksten Pfeiler von Herrschaft und Macht. Und ein frommer Traditionalist mit dem Hobby Reliquiensammeln, politisch gewieft wie kein anderer, wird zu seinem Beschützer und Verbündeten.
Lena Uphoff
18.06.2015

So etwa würden zeitgenössische TV-Kommentatoren oder Leitartikler die Beziehung beschreiben, die den jungen Martin Luther und den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen verband.

Als junger Augustinermönch war Martin Luther zwischen 1510 und 1511 im Auftrag seines Erfurter Klosters nach Rom gewandert, um mit der im Vatikan angesiedelten Ordensleitung über die Beilegung eines Streits zu verhandeln. Strenge und die Ordensregeln eher weltlich-locker handhabende Klöstern sollten zusammengeführt werden. Luther zählte wie sein väterlicher Freund und Auftraggeber Johann von Staupitz zu den Verfechtern einer asketisch reinen Lebensführung der Mönche, wie sie in Erfurt praktiziert wurde.

Kulturschock im Vatikan

Der Besuch in Rom muss für Luther der Kulturschock gewesen sein, der seinen Blick auf die römische Kirche radikal veränderte. Er sah die gigantischen Bauprojekte im Vatikan, allen voran den Neubau der Papstkirche St. Peter. Er bahnte sich seinen Weg durch Devotionalienmärkte, wo Marktschreier Kreuze, Reliquien und Heiligenbilder anpriesen. Und ihm dämmerte, wozu der Ablasshandel auch in seiner Heimat diente. Anlass für seine 95 Thesen, mit denen er sechs Jahre später die Welt veränderte. In der 86. These fragt er: „Warum baut der Papst, dessen Reichtum größer ist als der des reichsten Crassus, nicht wenigstens die Peterskirche lieber von seinem eigenen Geld als von dem der armen Gläubigen?“

Martin Luther war nicht der erste Theologe, den die Verweltlichung und Kommerzialisierung der Kirche herausforderte. Schon 1372 hatte der britische Philosoph und Priester John Wyclif den politischen Machtanspruch der Päpste bestritten und den Verkauf von kirchlichen Ämtern scharf kritisiert. Und wie Luther hatte der Brite bei seinem Widerstand den Landesherrn, König Eduard III. von England, auf seiner Seite.

Reformation für Fürsten ausgesprochen nützlich

Die weltlichen Herren interessierte die Theologie nur am Rande. Für sie war es aus mehreren Gründen ausgesprochen nützlich, was die kirchenkritischen Köpfe postulierten. Zunächst einmal sorgten Ablasshandel und Ämterverkauf für einen Mittelabfluss aus den regionalen Wirtschaftsräumen, der höchst ärgerlich war. Wenn jemand dagegen opponierte, hieß dies: das Geld bleibt im Land.

Noch interessanter musste es den Fürsten erscheinen, wenn den geistlichen Herren, also Bischöfen, Erzbischöfen und Orden, ihre weltliche Macht abgesprochen wurde. Im ständigen Streit um Einfluss auf wirtschaftliche, politische und auch militärischen Prozesse war jeder Mitredende weniger im Sinne der Fürsten und Grafen ein Gewinn. Ein Drittes: Die Infragestellung der weltlichen Autorität des Papstes erschütterte auch die Rolle des Kaisers. Denn dessen oberste Hoheit speiste sich aus der Schlüsselrolle des Papstes, dem es vorbehalten war, das „von Gott“ ausersehene Oberhaupt des „Heiligen römischen Reiches deutscher Nation“ zu salben und damit zu legitimieren.

Luthers Schutzherr Friedrich der Weise war genau daran gelegen, an der Relativierung des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs. Für ihn wie für die meisten anderen Reichsfürsten passte die Idee der Universalmonarchie, wie sie die Habsburger Maximilian und sein Enkel Karl neu zu installieren versuchten, überhaupt nicht in die Wirklichkeit des beginnenden 16. Jahrhunderts.

In dieser Zeit ereignete sich auf den Territorien der deutschen Fürstentümer und Reichsstädte ein wirtschaftlicher Boom. Die Förderung von Rohstoffen im Bergbau, die Öffnung und Verbesserung der Handelswege zu Lande und zu Wasser gaben den Landesherren die Möglichkeit, gestalterisch tätig zu werden. Friedrich in Sachsen, aber auch Landgraf Philipp in Hessen oder der Pfälzer Kurfürst zu Heidelberg verfügten in kurzer Zeit über Möglichkeiten, von denen ihre Ahnen nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Nur sollte ihnen eben niemand in ihr Handwerk pfuschen, der sich Kaiser aller Länder nannte.

Erstaunlich rasche Entwicklung - auch ohne Internet!

Wer heute aus der Internet-Welt in das Zeitalter der Renaissance zurück schaut, muss sich in Erinnerung rufen, dass Kommunikation vor 500 Jahren keine Sache von Sekunden oder Minuten war, sondern von Monaten und Wochen, im günstigsten Fall von Tagen.

Umso erstaunlicher ist das Tempo der Entwicklung zwischen Wittenberg und Worms, Marburg oder Heidelberg in dieser Phase der Geschichte. Maßgeblich dafür ist die mediale Revolution des Johannes Gutenberg aus Mainz. Dessen Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern machte es möglich, identische Texte tausendfach zu verbreiten, so dass man nicht mehr auf das Hörensagen, auf mündliche Überlieferung angewiesen war. Politische wie theologische Statements erhielt man schwarz auf weiß, autorisiert von Verfassern oder Herausgebern. Dies sorgte für eine andere Qualität von Debatten und Auseinandersetzungen, reduzierte die Bedeutung von Mutmaßungen und verfälschten Wiedergaben. Die Kommunikation zwischen den politisch Handelnden in den fürstlichen Kanzleien ermöglichte ein gemeinsames Agieren, wie es zuvor nicht möglich erschienen war.

Georg Spalatin, ein hochgebildeter Mann, gehörte zu den herausragenden Netzwerkern der Zeit. Der engste Berater und Vertraute des sächsischen Herrschers, der in denselben intellektuellen Zirkeln verkehrte wie Luther, hatte sich mit diesem angefreundet. Spalatin ist es zuzuschreiben, dass der Realpolitiker Friedrich und der kompromisslose Theologie-Professor sich in ihrem gemeinschaftlichen Interesse fanden: die Trennung von weltlicher Politik und Glauben. Luther und der Kurfürst sollen sich nie begegnet sein. Alles, was sie einander mitteilen wollten, ging über den Schreibtisch Spalatins.

Unis als wichtige PR-Objekte der Fürsten

Die Art wie dieser die Positionen und Wünsche der beiden auf einen gemeinsamen Punkt hin moderierte, würde auch in der aktuellen politischen Landschaft als genial bezeichnet. Zudem erkannte Spalatin früh, dass dieser scharfzüngige Geisteswissenschaftler zu einer Renommiermarke für die Universität Wittenberg werden würde. Auch dies vermittelte er dem Chef Friedrich eindrucksvoll.

Universitäten waren längst zu einem wichtigen PR-Objekt der Fürstentümer geworden. Sie symbolisierten Modernität und Elitenfreundlichkeit einer Herrschaft. Ähnlich wie in Wittenberg die Sachsen hielt es in Marburg ein anderer Freund und Unterstützer der Reformation: Landgraf Philipp von Hessen, genannt der Großmütige. Auch er gründete und förderte eine Universität. Sie trägt bis heute seinen Namen und gilt als erste „evangelische“ der Welt. Der Landgraf hatte Martin Luther 1521 auf dem Reichstag zu Worms kennen gelernt, sich jedoch erst drei Jahre später nach Gesprächen mit Philipp Melanchthon für die Einführung Reformation entschieden.

Der Hesse organisierte in seinem Land eine Reihe von Innovationen, die bis heute wirken, ohne das den meisten Zeitgenossen der Hintergrund ihres Entstehens auch nur ansatzweise bewusst ist. Aus den Erträgen aufgelöster Klöster finanzierte er nicht nur die erwähnte Hochschule sondern auch eine bisher nie dagewesene „staatliche“ Fürsorge für Arme und Kranke. Zu den Umsorgten gehörten auch sogenannte Geisteskranke, die bisher als „Vollidioten“ verlacht und verhöhnt worden waren. Das Herrscherhaus vergab zudem Stipendien an arme, aber begabte junge Leute.

Der Modernisierer Philipp ließ zwar auch Bauernaufstände niederschlagen. Im Gegensatz zu anderen Fürsten interessierte er sich jedoch auch dafür, warum es zu ihnen gekommen war. Nach umfangreichen Befragungen ordnete er an, die sozialen Missstände zu beseitigen, die zu den Krawallen geführt hatten. Eine wesentliche, gesellschaftliche Veränderung erreichte er aus rein persönlichen, privaten Gründen.

Plötzlich schien Scheidung möglich

Viele Jahre war Philipp bereits mit Christine von Sachsen verheiratet, als er sich 1540 in die Hofdame Margarete von der Saale verliebte, mit 18 Jahren halb so alt wie er. Er beschloss, das Mädel zu heiraten, in zweiter Ehe. Allerdings gab es ein Problem: Ehefrau Christine lebte noch, war gerade wieder schwanger. Was tun? Philipp überzeugte die Reformatoren Luther, Melanchthon und Martin Bucer, ihm – ausnahmsweise – die Doppelehe zu erlauben.

Die Ausnahmeregelung erwies sich einerseits als schwere öffentliche Belastung für die Reformation. Zwar hatte Luther jedwede theologische Rechtfertigung verweigert, aber als Seelsorger dem Hessen nachgegeben. Im Reich stand noch immer die Todesstrafe auf Bigamie. Wenig überraschend wurde in der Marburger Doppelehe von den Gegnern der Reformation ein Skandal erkannt, der sich nutzen ließ. Moderne Sozialwissenschaftler und Juristen erkennen in dem Vorgang den Einstieg in die Möglichkeit der Ehescheidung. Bevölkerungspolitisch war Philipp in beiden Ehen außerordentlich produktiv. Mit jeder seiner beiden Frauen zeugte er neun Kinder, nach der zweiten Eheschließung immerhin noch drei mit Frau Nummer eins.

Die Bedeutung Luthers für die Fürsten liegt mit Sicherheit darin begründet, dass er die weltliche Obrigkeit nie in Frage stellte. Seine eindeutigen Äußerungen in Sachen Bauernaufstände sind hinreichend bekannt. Dass sie ebenso wie sein Einschreiten gegen die radikalen Reformatoren um Karlstadt in Wittenberg als Versuche der Deeskalation anzusehen sind, ist historisch möglich.

Auch mit den besten Absichten lässt sich größtes Unrecht produzieren

Wenn man 500 Jahre nach dieser Zeit fragt, wie die Reformation Staat und Gesellschaft in Deutschland geprägt habe, darf man nicht in die Falle gehen, die Ereignisse an der Elle heutiger Lebensweisen und Einstellungen zu messen. Reformation als Prozess ist die Folge anderer Entwicklungen wie der Wiederentdeckung der klassischen Philosophie in der Renaissance, der Veränderung der Welt und ihrer wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und , bereits zitiert, technologischer Revolutionen wie dem  Buchdruck. Eines jedoch ist nicht zu übersehen: die Neuformulierung der Grenzen zwischen weltlicher und kirchlicher Herrschaft, die Pluralisierung gelebten Glaubens in Konfessionen haben Staat und Gesellschaft irreversibel verändert. Und dass es, gerade in Deutschland, bis heute eine außerordentlich starke regionale Identität gibt, ist eine Frucht der Reformation, die keineswegs immer (man denke an den 30jährigen Krieg) ein Segen war.

Die positiven Effekte dürfen dennoch nicht übersehen werden. Regionale Identität hat einen Wert, wenn sie als Grundlage verstanden wird für einen föderalen Wettbewerb im Sinne der Menschen, für bessere Konzepte zu Bildung, sozialer Politik und kultureller Entwicklung. Die Fürsten zu Luthers Zeiten, der Reliquiensammler Friedrich wie der Doppel-Ehemann Philipp stehen für die Bereitschaft und die Fähigkeit, epochalen Wandel realpolitisch und pragmatisch anzugehen. Nicht trotz, sondern wegen der Erkenntnis, dass alle Menschen nach Luthers Auffassung stets Gerechte wie Sünder sind und auf die Gnade Gottes hoffen sollten, mahnt diese Geschichte gleichzeitig zur Einsicht: Auch mit den besten Absichten kann man größtes Unrecht produzieren. Daran hat sich, wie gegenwärtig vielerorts wahrzunehmen ist, leider nichts geändert.

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