Kommen und Gehen bestimmen das Gemeindeleben. Für die Pfarrerin eine Sisyphusarbeit in einer Glitzerwelt mit Schattenseiten

Ihr habt das große Los gezogen! Ein Drei-Jahres-Vertrag für Singa­pur! Glückwunsch! Das ist der beste Platz zum Leben: Die Firma zahlt Auto, Wohnung, die teuren Schulgebühren für die Kinder und ein Hausmädchen, das rund um die Uhr putzt und kocht. Genießt die Zeit! Erlebt die Vielfalt einer multikulturellen Gesellschaft! So lauten oft die Reaktionen, wenn jemand einen Arbeitsvertrag in dieser jungen Boom-Metropole bekommt.

Zirka 6000 Deutsche, 3000 Schweizer und 900 Österreicher mit Zeitverträgen leben in dieser Fünfmillionenstadt. Die deutsche Schule, an der ich evangelischen Religionsunterricht erteile, hat dieses Jahr die 1000er Schülergrenze übertroffen. "Das sprengt ja fast unsere Klassenzimmer", freut sich der Konrektor. Singapur boomt. Die Wirtschaft ist seit September 2009 um 18 Prozent gewachsen! Das garantiert "bessere Jobs, höhere Löhne, breitere Möglichkeiten und ein erfüllteres Leben", erklärte der Premier Minister Lee Hsien Loong am Nationalfeiertag, dem 9. August. Singapur zieht Firmen und Menschen an: Chinesen, Malayen, Inder, Philippinen - und auch "Expats" aus Europa, also Fachkräfte international tätiger Unternehmen, die für ein bis drei Jahre nach Singapur entsandt werden.

Shopping eine Art Religion

Die erste Shoppingmall beginnt schon am Flughafen: schnelles und kostengünstiges Reisen, Sonderangebote, freies Internet und Orchideeninseln. Handtasche stehen gelassen bei der freien Fußmassage? Die bekommen Sie zurück, keine Angst, Sie sind ja in Singapur! So passierte es zumindest unserer Tochter beim ersten Besuch. In der Orchard Road kann man von einem fünfstöckigen Shoppingcenter ins nächste gehen und jeden Monat scheint ein neues zu eröffnen. Für Singapurer ist Shopping eine Art Religion. Die tropische Hitze braucht man nicht mehr zu fürchten: Alles ist klimatisiert. Was will man mehr?

Die Singapurer sind stolz auf ihre kleine Inselstadt. Sie ist nur 710 Quadratkilometer groß, zählt 6600 Einwohnern pro Qudratkilometer (etwa 77 Prozent Chinesen, 14 Prozent Malayen, acht Prozent Inder, 1,5 Prozent andere). Prestigesymbole der Singapurer sind das Auto und die Eigentumswohnung, deren Preis sich nach zehn Jahren oft vervierfacht. Da es keine natürlichen Ressourcen gibt, setzt der Stadtstaat auf Bildung, Schulen, Univer­sitäten und auf das Finanzwesen. Über 125.000 Millionäre leben hier. Im weltweit bedeutendsten Containerhafen erfährt mein deutscher Kollege Christian Schmidt in der Seemannsmission, wie hart und manchmal gefährlich das Matrosenleben heute ist.

Gemeindebriefe staatlich überprüft

"Singapur hat nicht nur überlebt, sondern alle zu Wohlstand und Reichtum geführt", dankt der methodistische Bischof Robert Solomon Gott zum 45. Stadtgeburtstag. Doch er ermahnt auch alle Kirchen, die Stimmen der Notleidenden nicht zu überhören und mit ihnen zu teilen. Die Kirchen dürfen sich nicht zur Politik äußern, deshalb wurde 1987 die Konferenz der asiatischen ­Kirchen aus Singapur verbannt. Auch die Harmonie des Friedens darf nicht gestört werden: Gemeindebriefe, manchmal auch ­Predigten, werden staatlich überprüft.

Wer sich abfällig über eine andere Religion äußert, wird von der Geheimpolizei vorgeladen und bestraft. Doch über die politische Alleinherrschaft einer ­Partei, die strengen Gesetze und drakonischen Strafen redet niemand gerne. Singapur ist laut Verfassung zwar eine Demokratie nach britischem Modell, faktisch herrscht aber seit der Unabhängigkeit 1959 eine Partei: die People's Action Party. Opposition wird behindert oder unmöglich gemacht.

Christen 14 Prozent

Die christlichen Kirchen sind konservativ und werden - wie die Politik - von den alten Patriarchen dominiert, die in der vorherrschenden konfuzianischen Ethik den meisten Respekt genießen. Das Management der presbyterianischen Kirche, unter deren Dach die deutschsprachige Gemeinde Gottesdienst feiert, berät, wie sie vier Millionen Dollar anlegen wollen und wie sie die Jugend an die Kirche binden können. Die hat jedoch meist andere Prioritäten: Mit 35 Jahren Millionär zu sein, zum Beispiel. Unsere Gemeinde mit ihren knapp 300 Mitgliedern ist klein im religiösen Stadtgefüge, in dem die Christen 14 Prozent aus­machen. Buddhisten sind mit rund 51 Prozent in der Mehrheit, Moslems sind gleichstark wie Christen, Hindus mit vier Prozent eine Minderheit.

Wir haben keine Kirchengebäude und kein Geld zum Anlegen. So verstehen wir uns als eine offene Gemeinde: ein Ort zum Ausruhen und Treffen, eine Gemeinschaft, um Glauben zu leben. Offen für alle Bekenntnisse. Lutheraner, Reformierte, Unierte und Baptisten, Deutsche und Schweizer sind unsere ­Mitglieder. Seit 38 Jahren feiern wir am Sonntagnachmittag ­Gottesdienst in der Kapelle in der Orchard Road, der Hauptgeschäftsstraße Singapurs. Unser Organist Robert Navaratnam, ein deutschsprachiger Inder, ist fast ebenso lange dabei und hat aus Sehnsucht nach Deutschland die Glocken vor der Kapelle ge­stiftet. Einmal im Monat bieten wir einen Gottesdienst in der deutschen Schule oder in einem der schönen Parks an. Ein paar Mal im Jahr treffen wir uns zum ökumenischen Gottesdienst mit der deutschsprachigen katholischen Schwestergemeinde unter Leitung von Pfarrer Hans-Joachim Fogl. Wir besitzen ein Pfarrgemeindehaus, das 1997 erworben wurde.

Wichtig ist die länder­übergreifende Gemeindearbeit mit Malaysia: Einmal im Monat fahre ich nach Kuala Lumpur (rund 80 Gemeindeglieder) und alle zwei Monate nach Penang (25 Gemeindeglieder). Es hat mir von Anfang an gut gefallen, dass diese Weite vorhanden ist. Jeder Gemeindeteil hat sein eigenes Profil, doch sie gehören unter ein Dach: deutschsprachige Evangelische in diesem Teil Asiens. Erste Treffen der Gemeindeteile sind in Planung, bei der Jugend geht es schneller: Die Konfirmanden feierten ihre Freizeit schon zusammen.

hohe Fluktuation

Neu und ungewohnt ist es für die meisten, dass sie sich in unserer Gemeinde anmelden und einen Mitgliedsbeitrag zahlen müssen. Das merken sie meist erst, wenn sie zum Beispiel wegen einer Taufe nachfragen. Unsere Gemeinde trägt sich selbst, das heißt, sie muss für mein Pfarrgehalt, ein Auto, das Abzahlen des Pfarrgemeindehauses und sämtliche Gemeindeausgaben aufkommen. Das alles wird von 86 zahlenden Mitgliedern in Sin­gapur getragen. Die Evangelische Kirche Deutschlands hilft mit einem jährlichen Zuschuss. Taufanfragen gibt es viele, ab und an segne ich ein Hochzeitspaar. Wer stirbt, wird in der Regel zur Beerdigung nach Deutschland ausgeflogen. Kinder und Jugend­liche sind offen für die Gruppen und den Konfirmandenunterricht. Ich achte darauf, dass sie auch die weniger begünstigten Menschen in Singapur wahrnehmen. Deshalb besuche ich mit ihnen ein Waisenhaus oder eine staatliche Sozialwohnung, wo die winzige Wohnung nur 20 Singapur-Dollar im Monat kostet. Dort erfahren die aus gut verdienenden Familien kommenden Jugendlichen etwa von einer Großmutter, die noch in einer Bowlingbar abwaschen geht, um sich diese Wohnung leisten zu können.

Kinder und Erwachsene sind eingespannt in die Mobilität der Geschäftswelt. Zwei Drittel unserere Gemeinderäte fliegt zwischen den monatlichen Kirchensitzungen zwischen den Kontinenten hin und her. Wechsel, Abbruch und Neuanfang sind gang und gäbe. Da kommt beispielsweise eine engagierte Religionspä­dagogin in die Gemeinde. Sie bringt sich ein in ­Kindergottesdienst, Jugendgottesdienst und wird im März in den Gemeinderat gewählt. Bereits im Juli verabschiedet sie sich wieder, denn ihr Mann wird zurückgerufen. Nur wenige aus der Gemeinde leben dauerhaft in Singapur. Ein Vorgänger sagte mir bei einem Besuch: "In unserem Beruf lernt man hier Gott­vertrauen." So setze ich meine Hoffnung, dass es weitergeht, neue Mitarbeiter kommen, diese Gemeinde lebendig und offen bleibt, in Gott.

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