Kraft tanken für den Wettbewerb: Vom Aufbruch der Menschen im Nordosten Estlands -­ und von ihren Religionen.
Hedwig Gafga, Autorin
07.10.2010

Anfangs gibt sich Schwester Tichona zugeknöpft. Wie ein kleiner Ritter wirkt die Nonne mit der schwarzen Strickmütze, die Kopf und Hals umschließt. "Keine persönlichen Fragen, keine Politik!" Sie ist hier, um von den Wundern Gottes zu erzählen, und nur davon. Schon eilt sie zur heiligen Pforte, wo ganz in der Nähe einem Hirten die Muttergottes erschienen war und wo man wenig später nahe der alten Schutzeiche eine Marien-Ikone fand. Seitdem seien immer wieder Menschen geheilt worden, Pilger, die unten im Tal in die eiskalte Quelle eintauchen und vor der wundertätigen Ikone beten.

"Keine persönlichen Fragen, keine Politik!"

Abseits der Schnellstraße, die von Estlands Hauptstadt Tallinn in die Grenzstadt Narva führt (siehe Karte Seite 22), liegt das orthodoxe Kloster Pühtitsa, eigentlich ein ganzes Dorf mit 170 Nonnen. Durch Birkenwälder sind wir auf seine grasgrün leuchtenden Zwiebeltürme zugefahren. In der Kathedrale umhüllt uns Weihrauchduft, manche Besucher stehen, andere knien, einige liegen, die Stirn an den Boden gedrückt. Links haben sich Gläubige zur Beichte angestellt. Der Priester hüllt den Kopf des neben ihm Knienden in seinen Schal ein und legt ihm die Hände auf. Über allem schwebt der hohe, melodische Gesang des Chores.

Ruhe und Heilung suchen die Leute in dieser Oase abseits des rasanten Wandels, der Estland, nun das nordöstlichste Land der Europäischen Union, vollständig umkrempelt. Nur hier im Kloster bleibt scheinbar alles so, wie es immer war, hier erzählt man sich weiter von den Wundern Gottes.

Der Landkreis Ida-Virumaa ist die Region mit dem schlechtesten Ruf im ganzen Baltikum: bekannt als Stromlieferant, berüchtigt für eine hohe Umweltbelastung, für Industrieruinen, für den grassierenden Alkoholismus in der Bevölkerung, die mehrheitlich Russisch spricht. Seine Vergangenheit als Sowjetrepublik aber will Estland abstreifen, rasch, wie eine alte, hässliche Haut.

Estland will seine Vergangenheit als Sowjetrepublik abstreifen

Ist die Problemregion an der Grenze zu Russland dabei, sich zu erholen? Was spüren die Menschen von der Freiheit? Und welche Rolle spielt hier, wo der evangeli-sche Glaube der Reformation und der orthodoxe Glaube der Russen aufeinander stoßen, die Religion? Helfen die gemeinsamen christlichen Wurzeln, den gesellschaftlichen Wandel zu verkraften? Wir machen uns auf den Weg vom Kloster über die Industriestadt Kohtla-Järve nach Narva im äußersten Osten -­ der Stadt der Extreme, dem historischen Grenzort, dem sozialen Brennpunkt.

Kothla-Järve grüßt von weitem mit riesigen schwarzen Pyramiden, Schlackenbergen, die von der Ölschieferverarbeitung übrig bleiben. Schlaglöcher, Fabrikruinen, langsam verrottende Wohnblocks. Wo noch Menschen wohnen, haben Secondhandläden eröffnet. T-Shirts und Jacken mit Markennamen, verbeult und verblichen. Das Drama des sozialen Umbaus lässt sich an der Zahl der verlassenen Kinder ablesen. Sieben Heime, in denen 360 Kin-der leben, sind in den letzten Jahren im Landkreis entstanden. Kinder von Eltern, die ihre Arbeit und die Orientierung verloren haben.

"O, Kohtla-Järve! Da hat man im letzten Winter auf einem Schlackenberg einen Ski- und Rodelhügel angelegt, mit Lift. Das lieben unsere Kinder." Im aufstrebenden Kurort Toila sieht man die Dinge optimistisch. Helgi Hein, die agile alte Gymnasiallehrerin, setzt estnischen Einfallsreichtum gegen den Verfall. Nur 15 Autominuten von Kothla-Järve entfernt trifft man Leute mit Plänen.

"Die Menschen können jetzt alles tun, was sie wollen. Sie sind frei."

Den früheren Werkbusfahrer der Fischfabrik etwa, einen Mittfünziger, der es nach der Unabhängigkeit Estlands zum Teilhaber am Touristikunternehmen "Busirejsi" gebracht hat. Oder die 18-jährige Schülerin, die sich mit feinsten Stichen die estnischen Landesfarben auf ihren Schlüsselanhänger gestickt hat und in Tartu Medizin studieren will. Oder eben Helgi Hein, mit 69 immer noch im Dienst, die sich trotz winziger Rente von nur 150 Euro für ihr Land begeistert: "Die Menschen können jetzt alles tun, was sie wollen. Sie sind frei."

Der kleine Ort Toila ist Keimzelle eines Tourismus, an dem die Region gesunden soll. Die Verkaufsleiterin des Hotels "Toila Sanatoorium" lächelt: "Am Ende weinen die Manager bei uns." Sie spricht von der Entspannungsbehandlung, vom Stressabbau, vom Auftanken an der Schnellstraße in eine neue Gesellschaft. Leise plätschert Meditationsmusik, die Physiotherapeutin wickelt einem Patienten warme, mit Rapssamen gefüllte Kissen um die Arme. Durch ein Guckfenster schauen wir in die Salzkammer hinein, wo wunderlich aussehende Männer mit Plastikhauben tief durchatmen. Draußen vor den Fenstern blitzt wie ein silbrigblauer Spiegel das Baltische Meer.

Sonntags platzt das Hotel aus allen Nähten. Familien und Paare haben das preisgünstige Wochenendangebot zum Schwimmen und Saunen gebucht. Willkommen im Europa der Wellness-Religion! Für Glauben und Kirche findet nur eine kleine Minderheit Zeit. Die meisten Esten haben die reformatorische Lehre gründlich gelernt: Es kommt ihnen mehr auf die Bewährung im Alltag, in Beruf und Familie an als auf religiöse Übung. Nur 44000 der 1,4 Millionen Einwohner von Estland sind Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche.

Zum Gottesdienst fahren wir zurück in die Klosterregion. In Iisaku, einem Ort, der vor allem vom Holzverkauf lebt, steht Propst Avo Kiir am Altar, ein in der Gegend bekannter Mann, Pfarrer und Bürgermeister zugleich. Um Heizkosten zu sparen, findet der Gottesdienst nicht in der Kirche, sondern im Gemeindehaus statt. Die Kirche ist bettelarm. Die meisten Pfarrer brauchen zum Leben einen Zweitjob.

"Das Spröde schafft keine neue Identität"

Unter den Christen ist die Suche nach Identität, nach Zeichen, die Halt geben, deutlich zu spüren. Auf den Altar hat Avo Kiir neben das Kreuz eine Madonnenfigur gestellt. Mit voller Stimme singt der in ein leuchtendes Gewand gekleidete Pfarrer eine ältere, besonders anrührende Form der Liturgie. Die 30 Besucher antworten im Stehen. Beim Abendmahl klingelt er, wie in der katholischen Kirche, zum Zeichen der Wandlung von Brot und Wein mit einem Glöckchen, und gelegentlich versprüht er sogar Weihrauch. "Das Spröde schafft keine neue Identität", erklärt Avo Kiir. Deshalb erweitert er die Tradition.

Für die Bäuerin Tiiu Truupold ist der Gottesdienst eine Kraftquelle. "Was ich dort an Zuversicht mitnehme, damit komme ich über die Woche", sagt sie. Bei ihr zu Hause sieht es so aus, wie wir uns einen estnischen Bauernhof vorgestellt haben. Ein Steinbackofen wärmt die Küche, gewebte Leinendecken liegen auf Kommoden, auf dem Schlafzimmerschrank steht eine schwarz-blau-weiße estnische Flagge. Tiiu sorgt für die Familie ihres Sohnes und die Familie ihrer Schwester. Um 4.30 Uhr steht sie auf, melkt die drei Kühe, kocht, hütet die Enkelin, sät im Garten. Als sie von der Stalltür aus "Äpfelchen" ruft, dreht die angesprochene Kuh sogleich den Kopf herum.

Aber Tiiu würde viel lieber auswärts arbeiten wie ihre Verwandten. Sicher, das einst zwangskollektivierte Land gehört wieder den Familien, aber das meiste liegt brach. Der Anbau lohnt sich nicht. Tiiu vermisst die Arbeitskollegen. Vor sie-ben Jahren war sie an Krebs erkrankt. Seitdem bekommt sie vom Staat etwa 60 Euro Unterstützung im Monat. In ihrer ehemaligen Kolchose, jetzt ein stark verkleinerter Privatbetrieb, gibt es für sie nichts mehr zu tun. "Ich hab durch meine Krankheit verloren, nicht durch die Gesellschaft", sagt sie, springt auf und holt ihr Akkordeon. Sie stimmt ein estnisches Lied an: "Unterwegs".

Noch 60 Kilometer bis Narva, bis zur schwer bewachten Grenze nach Russland. Vielen Esten ist sie heilig. Sie sichert die Unabhängigkeit ihres kleinen Landes. Liebevoll spricht man von ihr: Hundert Jahre muss sie halten, heißt es, mindestens. An der Grenze in Narva warten Dutzende vorwiegend russische Passanten auf die Passkontrolle vor der Brücke, die über den Fluss führt. Waschpulver, Wodka, Gartenschuhe ­ mit Tüten ziehen sie über die Brücke, von Estland nach Russland und zurück, als seien sie zu einem ganz gewöhnlichen Einkauf unterwegs.

Dabei gibt es keine zweite Grenze wie diese. Unter uns schießt die Narva dahin. An ihren Ufern stehen sich die beiden imposanten, nach den Schlachten des Zweiten Weltkriegs restaurierten Festungen unbeugsam gegenüber ­ die Hermannsfeste auf estnischer, Schloss Ivangorod auf russischer Seite. Jeder Meter der Brücke wird von Kameras beäugt. In der Wache zeigt uns der Diensthabende, wie aufwändig die Grenze gesichert ist, wie man auf dem Bildschirm Pässe vergrößert, Daten vergleicht.

"Das Schwimmen hat schon manchen vor dem Alkoholismus gerettet"

Weiter unten am Fluss härten sich die "Walrosse" ab, halten sich fit im harten Kampf um Jobs und Wohnungen in Narva. Bei jedem Wetter springen die Männer dieser Schwimmvereinigung in die Strömung hinein, selbst wenn noch Eisschollen auf dem Fluss treiben. "Das Schwimmen hat schon manchen vor dem Alkoholismus gerettet", erklärt ein älterer Boxtrainer und schnürt zufrieden den Gürtel um seinen zerknautschten Kunstledermantel fest.

Der Sprung ins kalte Wasser ist wahrscheinlich die beste Art, sich an Narva, die Stadt der Extreme, zu gewöhnen. Narva, die Grenzstadt, der Energiespender, die Stadt der Kranken, alles in einem. Von hier aus versorgt "die Eesti Energia" das Land mit Strom, das gewaltige Kraftwerk. Demnächst mit reduziertem Schadstoffausstoß und halbierter Belegschaft. Stolz und wehmütig zeigt Ingenieur Igor Naidjonow, ein älterer Herr mit Schutzhelm, noch einmal die museumsreife Schaltzentrale. Bald hat sie ausgedient. Mit der Umstellung verliert auch er seinen Posten.Viele Betriebe schrumpfen.

Narva durchlebt eine Radikalkur, die viele nicht verkraften. Nach Auskunft der Stadtverwaltung sind von 77000 Bürgern rund 8000 alkoholkrank, 2000 heroinsüchtig, mehr als 1000 aidsinfiziert. Sozialdezernentin Reet Välja, das Handy als Halskette über der Kostümjacke, zählt einige Hilfsangebote auf. Für die meisten Kranken aber gibt es wenig staatlichen Beistand. Wenn sie nicht arbeiten oder studieren, sind sie nicht einmal krankenversichert.

"Narva wird sich erholen"

Aber die Politikerin wäre eine schlechte Estin, hätte sie nicht die Fähigkeit, den Blick in eine andere Richtung zu lenken. "Narva wird sich erholen", prophezeit Reet Välja. Fern am Horizont leuchtet eine Chance: Tourismus. Eine Eissporthalle entsteht, ein großes Hotel wird renoviert. Und dann ist da noch Narva-Jöesuu, der schönste Strand von Estland, mit kunstvoll verzierten Strandhäusern, beliebt bei russischen Künstlern.

Viele junge Esten sehen ihre Chancen. Und die jungen Russen, Angehörige der Minderheit im Land? Julia Antonowa von der Schule Nr. 1, eine fröhliche Frau mit dunklem schulterlangem Haar, legt die Requisiten für den Theaterkurs beiseite. Die Aussichten auf höhere Bildung seien schlecht, sagt die Lehrerin. "Unsere Schüler werden Bauarbeiter, Elektriker, Verkäufer. Aber nicht einmal unsere beste Schülerin hat im letzten Jahr einen Freiplatz an der Universität ergattert. Sie erreichen das verlangte Sprachniveau im Estnischen nicht." Man merkt, dass die russische Lehrerin die nationalen Gefühle der Esten für etwas übertrieben hält: hochgeschraubte Ansprüche eines kleinen, gekränkten Volkes, das nun die eigene Sprache durchsetzt, mit all ihren Doppelvokalen und den 14 Fällen. "Den estnischen Pass gibt's ja nur auf Helden-Niveau, nach der Sprachprüfung", spottet sie.

Ost trifft West: Vom oberen Teil der Stadt Narva, nahe der Brücke, sieht man die Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen Auferstehungskathedrale und das zeltartige, silbrig glänzende Dach der protestantischen Alexanderkirche ganz nah beieinander. Zu Sowjetzeiten wurde der protestantische Glaube massiv unterdrückt, die evangelische Kirche zum Getränkelager herabgewürdigt. Eine Initiative beschafft nun Geld für die aufwändige Restaurierung des Baus. Nicht weil die gut 100-köpfige Gemeinde die Kirche so dringend bräuchte, sondern weil sie eine solche Symbolkraft besitzt. Die estnische Kultur soll nach Narva zurückkehren.

Zusammen mit dem evangelischen Pfarrer und seinem Sohn betreten wir die Alexanderkirche mit ihren kahlen Mauern. Was er in seiner Freizeit am liebsten mache, fragen wir den Pfarrerssohn. Der schmale Junge in schwarzer Lederjacke stellt sich breitbeinig hin, die Knie leicht gebeugt, kampfbereit. Ob wir "Kaitseliit" kennen? Dort würden er und andere Mitschüler von Armeeoffizieren militärisch geschult, auch an automatischen Waffen ausgebildet. Mit 18 Jahren werde er einen Waffenschein erhalten, mit 21 könne er die Waffe dann mit nach Hause nehmen. Warum sind ihm, dem Pfarrerssohn, Waffen so wichtig? "Zur Verteidigung", sagt Jaanus Jürjo, "gegen Terroristen zum Beispiel." Er guckt grimmig.

Auf dem Rückweg fahren wir noch einmal beim Kloster Pühtitsa vorbei. In der Kapelle oben im Wald wartet eine Taufgesellschaft aus Kohtla-Järve auf den Priester. Zeit für die resolute Großmutter, ihr antikirchliches Vorleben zu beichten: Wie sie als einzige Ärztin weit und breit die marxistische Weiterbildungsakademie absolviert hatte, dann die Schulung in wissenschaftlichem Atheismus und wie sich nach dem Zerfall der Sowjetunion plötzlich alle aus ihrer Familie taufen ließen. "Einen Glauben muss man doch haben", setzt die Tochter hinzu.

Dort könne jederzeit ein Wunder geschehen.

In den Jahren der Wende hat das Kloster einen gewaltigen Aufschwung genommen. Aber jetzt? "Natürlich spüren wir die Grenze", sagt Schwester Tichona, ärgerlich, dass wir nun doch noch die Politik ansprechen. "Es kommen viel weniger Pilger aus Russland."

Hart arbeiten die Nonnen: auf ihren Feldern, im Stall, und sie betreuen Pilger. Weil wir noch einen weiten Weg vor uns haben, servieren sie uns Buchweizensuppe, Bratkartoffeln, Rote Beete und Gurkensalat. Dann verabschiedet uns Schwester Tichona an der heiligen Pforte. Verschmitzt lächelnd rät sie uns, noch schnell in der eiskalten Quelle zu baden. Dort könne jederzeit ein Wunder geschehen.

 

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