Philipp Melanchthon und die Stadt seiner Kindheit. Die Stadt Bretten feiert den 450. Todestag ihres berühmtesten Sohnes - ein Besuch im Melanchthonhaus
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Herr Frank rüttelt am Knauf. Die Tür mit den Butzenglasscheiben im Obergeschoss bewegt sich nicht. Er zieht einen Sicherheitsschlüssel aus der Tasche. - Und die Alarmanlage? "Die ist ausgeschaltet", sagt Frank. Durch den offenen Türflügel strömt milde Luft herein. Frank streckt seinen Kopf über die Steinbalustrade und schaut hinunter auf den Marktplatz. Mit dieser Aussicht ist er aufgewachsen: Philipp Melanchthon, Sohn des Rüstmeisters und Waffenschmieds Georg Schwarzerdt im kurpfälzischen Städtchen Bretten. Nur, dass dort, wo die Restaurants ihre Stühle und Tische aufs Kopfsteinpflaster stellen, früher Händler ihre Waren anpriesen.

Seit elf Jahren ist Günter Frank Ausstellungs- und Akademieleiter im Melanchthonhaus gleich neben dem alten Rathaus. Der wilhelminische Bau mit der wuchtigen neugotischen Giebelwand steht genau da, wo der Humanist und Reformator Melanchthon (1497-1560), Martin Luthers wichtigster Mitstreiter, aufwuchs. "Als Kind sah er jeden Tag die orientalischen Gewürze und Tücher, die es damals dort zu kaufen gab", sagt Frank und zeigt nach unten. "Das hat in ihm die Sehnsucht nach der weiten Welt geweckt - und die Lust auf fremde Sprachen."

Mit zwölf Jahren dichtete Melanchthon lateinische Verse. Mit 21 schrieb er eine Grammatik des Altgriechischen - es wurde ein Standardwerk. Gleich danach begeisterte er die akademische Welt für eine umfassende Universitätsreform. In den verbleibenden 42 Jahren seines Lebens half er bei zahlreichen Schul- und Universitätsgründungen, schrieb Gutachten, reiste und sandte Briefe in 121 europäische Städte.

Das Geburtshaus brannte nieder

Am 19. April 2010, zu Melanchthons 450. Todestag, feierte die Evangelische Kirche in Deutschland den "Lehrer Deutschlands" zu feiern, der Schulen für alle schuf, der die Evangelischen hinter einem gemeinsamen Bekenntnis versammelte und der auf Reichstagen und in Religionsgesprächen Frieden zwischen den streitenden Konfessionen aushandelte. Nun wird auch Bretten, seine Geburtsstadt, zurechtgemacht. Die Melanchthonstraße vom Zentrum zum Bahnhof wird saniert. Der örtliche Melanchthonverein lässt neben dem Melanchthonhaus ein zusätzliches Gebäude errichten - für eine Melanchthonakademie.

Fachwerkhäuser säumen den Platz um den alten Marktbrunnen. Stolz haben einige Hausbesitzer deren hohes Alter mit goldenen Zahlen im Gebälk dokumentiert. Im Vorläufer des Hotels Krone soll Kaiser Karl V. 1550 übernachtet haben. "1699" steht auf dem Haus mit dem Käseladen, das älteste am Markt stehende Original. Zehn Jahre zuvor hatte ein französischer GeneraldieStadtabfackelnlassen. Auch Melanchthons Geburtshaus brannte nieder.

Günter Frank schließt die Tür mit dem Butzenglas wieder zu und zeigt auf die Holzkassetten, mit denen die Zimmerdecke getäfelt ist. "121 Städtewappen", sagt er, "eines für jede Stadt, mit der Melanchthon in Kontakt stand." An den Wänden meterweise Regalschränke. Metallgitter halten Besucher davon ab, sich an einer der alten Ausgaben zu bedienen, darunter etliche Erstausgaben aus Melanchthons Feder.

Aus Liebe von der Weihe entbunden - Melanchthon hätte es erfreut

Weltoffen war dieser Mensch, ein Mann des Ausgleichs, der den Frieden zwischen den Religionen suchte. Dass heute ein katholischer Theologe sein Erbe in Bretten verwaltet, hätte Melanchthon bestimmt gefreut. Günter Frank, geboren 1956, war zunächst Kaplan in Erfurt. Später ließ er sich von Priesterweihe und Zölibat entbinden - wegen seiner Liebe zu einer Frau. Dann forschte er darüber, wie sich Vernunft und Religion einander zuordnen lassen. Und so stieß er auf Philipp Melanchthons Werk.

Vom "Fürstenzimmer" auf der Südseite des Stockwerks aus blickt man auf die Stiftskirche, Melanchthons Taufkirche. In ihrem Innern sind nur einzelne gotische Bögen erhalten, der Rest liegt unter weißem Putz. Einige Jahrhunderte diente sie gleichzeitig Protestanten und Katholiken als Gotteshaus. In der Mitte des Fürstenzimmers liegen Briefe in Vitrinen aus und Bücher mit handschriftlichen Notizen.

Zum Beispiel ein Geschenk des Humanisten Johannes Reuchlin, eine griechische Grammatik mit Widmung: "dem Philipp Melanchthon aus Bretten, im Jahr 1509 an den Iden des März". Reuchlin hatte den Nachnamen Schwarzerdt ins Griechische übersetzt: Schwarz heißt "melanos" und Erde "chthonos". Seither nannte sich der damals 12-Jährige "Melanchthon". Da war er bereits Halbwaise und hatte seine Heimatstadt verlassen.

"Süß ist es mir immer, wenn ich jemanden der Heimat sehe"

1504, während des Landshuter Erbfolgekriegs, hatte Philipps Vater Georg Schwarzerdt aus einem Brunnen mit giftigem Wasser getrunken. Drei Jahre vegetierte er schwerkrank dahin, dann starb er. Philipp besuchte fortan die Lateinschule in Pforzheim, später die Universitäten in Heidelberg und Tübingen, bis er zu Luther nach Wittenberg kam. Der Stadt seiner Kindheit blieb der Humanist und Reformator stets verbunden. Im Erdgeschoss des Melanchthonhauses, in der "Gedächtnishalle", weist Günter Frank auf ein historistisches Wandgemälde. Es zeigt Melanchthon, der von seinem Pferd abgesprungen ist und beim Anblick von Bretten kniet und betet.

Schräg daneben ist ein Melanchthonzitat in eine Schautafel graviert. "Es kann zum Fehler werden, wenn man den Ort seiner Geburt mehr als andere Örter liebt", liest Frank vor und kommentiert: "Da kämpft er mit seiner Vernunft gegen das Gefühl an." Frank fährt fort: "Aber süß ist es mir immer, wenn ich jemanden aus jener Gegend sehe und höre, so bin ich so innig vergnügt, als ob ich in meine Kindheit zurückkehrte."

Draußen schlägt die Stiftskirche 12 Uhr 30. Vorm Melanchthongymnasium drängen sich die Schüler an der Bushaltestelle. Hinter ihnen ragt aus einem Tulpenbeet eine Statue in den Himmel: ein Mann im Gelehrtenrock, in der Rechten ein aufgerolltes Blatt, an das irgendein Scherzbold eine Strickmütze geknotet hat. Gütig schaut der Alte über die Schülermenge, über das gegenüberliegende Pek ingrestaurant und den Schulneubau hinweg. Ebenso über den breitschultrigen blonden Jungen, der eng umschlungen mit seiner zierlichen afrodeutschen Freundin in Richtung Marktplatz läuft. Und am türkischen Herrn mit der hölzernen Gebetskette vorbei. Über sein hageres Gesicht zieht sich ein freundliches Lächeln.

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