Moderne Helden sind die Väter, sagt der Philosoph. Für die feministische Theologin sollen Eltern und Kinder Geschwister sein.
Tim Wegner
Lena Uphoff
07.10.2010

chrismon: Taugt Josef von Nazareth als Vater einer modernen Familie?

Dieter Thomä: Nein. Josef ist nur eine halbe Vaterfigur. In der Kunstgeschichte gibt es nur wenige Darstellungen der Heiligen Familie, die eine Dreierkonstellation zeigen. Oft fehlt Josef. Manche haben die These aufgestellt, darin sei das Vorbild für den abwesenden Vater in der bürgerlichen Familie angelegt. Interessant. Aber ich glaube, die heutige Familie ist eine ganz andere Welt.

Claudia Janssen: Wir haben es in der Weihnachtsgeschichte mit Legenden zu tun, mit Geschichten, die Menschen etwa 80 Jahre nach Jesu Geburt aufgeschrieben haben. Jetzt müssen wir schauen: Was war los in dieser Zeit? Warum gibt es diese Figur des Josef? Warum ist Maria stärker? In den meisten Bibelübersetzungen von Lukas, Kapitel 1, Vers 48, wird sie "niedrige Magd" genannt. Wörtlich übersetzt nennt sie sich "erniedrigte Sklavin". Das kommt ihrer sozialen Realität nahe. Das Land stand unter römischer Besatzungsmacht. Es gab viel Gewalt. Maria ist eine erniedrigte Frau, die ohne Mann ein Kind bekommt. Josef vertraut dem Engel und sagt: Dieses Kind ist ein Gotteskind, mir kommt es nicht darauf an, dass ich der biologische Vater bin. Das ist auch für heute wichtig. Hängt Vaterschaft wirklich an der Biologie oder an sozialer Verantwortung?

chrismon: Herr Thomä, was ist Vaterschaft?

Thomä: Ob ihm das passt oder nicht, der Vater kommt später als die Mutter. Er hat das Kind nicht neun Monate im Bauch, sondern kommt zu einem Zweierbund hinzu. Er hat die Aufgabe, einen Beitrag bei der Öffnung des Kindes hin zur Welt zu leisten.

"Ein Vater muss der Meister der Kniebeuge sein"

chrismon: Ist der Vater der erste Fremde?

Thomä: Der erste andere, er ist dieser Dritte. Ein Vater muss der Meister der Kniebeuge sein. Er muss groß und stark sein, er muss dem Kind einen Rückhalt bieten und ihm ein Vorbild sein. Und dann kommt die Kniebeuge: Er muss sich auch auf Augenhöhe begeben, er muss hemmungslos spielen können. Wenn er diese Kniebeuge nicht macht, bekommt seine Größe etwas Angsteinflößendes und Brutales. Bliebe er aber nur auf Augenhöhe, würde er den Fehler begehen, der beste Kumpel seines Kindes zu sein.

Janssen: Diese Rollen müssen beide wahrnehmen, Vater und Mutter. Wichtig ist die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen fürs Vatersein. In Umfragen sagen 90 Prozent der Väter, dass für sie die Familie das Wichtigste ist. In der Realität verlangt die Arbeitswelt von jungen Männern, überdurchschnittlich viel zu arbeiten. Nur drei bis vier Prozent der Männer sind Hauptbetreuer ihrer Kinder. Und nur ein Drittel der Mütter mit Kindern unter drei Jahren ist berufstätig, meistens in Teilzeit. Der Wunsch nach Veränderung ist da, und doch rutschen Eltern in die alten Rollen: Der Vater ist für den Familienunterhalt zuständig, die Mutter ist zu Hause und versorgt die Kinder.

chrismon: Bringt das Elterngeld nicht mehr Männer dazu, sich in der Kindererziehung zu engagieren?

Janssen: Nur zwölf Prozent der Männer nutzen die Elternzeit, die meisten nehmen nur die zwei Pflichtmonate mit. Ich kenne viele Väter, die eine gleichberechtigte Rolle übernehmen wollen, aber dann stoßen sie auf dieselben Barrieren wie Frauen. Die Sonntagsreden über den neuen Vater passen nicht zur Realität: Der Beruf fordert Flexibilität, Effektivität, Mobilität. Wenn die Kinder klein sind, wird Karriere gemacht. Und 20 Prozent der Männer verweigern sich, eine Familie zu gründen. Aus gutem Grund: Kinderkriegen ist ein Armutsrisiko und Karrierehindernis.

Thomä: Man sieht einen enormen Wunsch nach Familie. Es gibt etwas, das diesen Wunsch zum Stolpern bringt.

Janssen: Ja, der Alltag: Wo bringt man das Kind tagsüber unter? Wer betreut die Hausaufgaben? Wo gibt es Krippenplätze?

Thomä: Das Faszinierende am Thema Vater und Familie ist, dass sich das Persönliche und das Politische auf dramatische Weise überschneiden. Ein Kind berührt die intimsten Wünsche eines Menschen, aber immer spielen auch Familienpolitik und Rentenversicherung eine Rolle. Es gibt einen Zielkonflikt: Die Wirtschaft will konkurrenzfähig bleiben - aber die Gesellschaft braucht die Familie für den sozialen Zusammenhalt. Das betrifft Frauen und Männer gleichermaßen. Die Sorge, ob man das Wagnis Familie eingeht, sucht auch die Frauen heim.

Janssen: Ja, sie tragen immer noch die Hauptlast der Familienarbeit!

Thomä: Ich will die Bedeutung guter Rahmenbedingungen nicht kleinreden, aber es gibt eine seit Jahrhunderten hochkochende Auseinandersetzung, in der sich zwei Lebensformen gegeneinander ausspielen: Da ist einerseits das Familienleben. Und andererseits das wettbewerbsfähige Individuum. Lange Zeit galt, dass die Frau für das Familienleben zuständig war, und der Mann war das wettbewerbsfähige Individuum. Diese Aufteilung ist immer noch präsent, aber fragwürdig. Das Rennen der Lebensformen ist in allen Köpfen eröffnet. Wir würden keine Explosion der Geburtenrate erleben, wenn wir nur Ganztagsschulen hätten.

Janssen: Viele Frauen bekommen auch deshalb keine Kinder, weil sie keinen Mann finden, der auch Kinder will.

"Werden Frauen wie Männer, bekommen wir eine kinderlose Gesellschaft"

Thomä: Männer werden Väter, wenn sie das Gefühl haben, dadurch ihr Leben zu vervollkommnen. Es gibt zwei Szenarien: Frauen werden wettbewerbsfähige Individuen wie Männer, dann bekommen wir eine kinderlose Gesellschaft. Oder: Frauen entwickeln berufliche Ambitionen und Männer entdecken die Welt der Familie. Diese Variante favorisiere ich. Mit Glück bekommen wir eine neue Balance, einen beeindruckenden Wandel der Geschlechterrollen. Ohne Neuentdeckung der Familie landen wir in einer Welt, in der der Glanz des Lebens mit Kindern verblasst.

chrismon: Jungs und Männer sind in der Krise: Mädchen sind gut in der Schule, Jungs stören. Körperliche Arbeit wird unwichtiger. Können wir uns das Luxusgeschlecht Mann bald ganz sparen?

Janssen: Wer hat denn die Führungspositionen? Wer sitzt abends in den Talkshows und erklärt uns die Welt? Männer! Das traditionelle Geschlechterverhältnis hat sich trotz verbesserter Rahmenbedingungen wenig verändert: Super ausgebildete Frauen mit tollen Abiturnoten und Universitätsabschlüssen kommen oft doch nicht in angemessene Berufe. Das hängt auch an unserer Erziehung. Auch die Kirchen stehen hier in der Verantwortung, nicht immer nur die alten Klischees hochzuhalten.

chrismon: Wo tut die Kirche das Ihrer Meinung nach?

Janssen: Beim Reden über Gott. Es ist wichtig, nicht immer nur männlich zu reden, wenn wir vom Göttlichen sprechen. Von Gott können wir immer nur in Bildern sprechen. Die Bibel in gerechter Sprache versucht, die Vielfalt der religiösen Sprache aufzuschließen. Das griechische Wort "pater" steht für Fürsorglichkeit und Schutz, also ist Gott beides - Vater, Mutter und mehr.

Thomä: Es gibt in der Väterdebatte Ideologen der Statik und Ideologen der Dynamik. Ideologen der Statik - wie der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz - sagen: Der Mann war Jäger, der muss kämpfen, und nun kommen die Frauen und die Schwulen und kochen die Männer weich. Als wären wir Männer direkt vom Lagerfeuer der Steinzeit in die Moderne gerutscht. Ideologen der Dynamik fragen: Wozu brauchen wir Väter, wenn es Samenbänke gibt? Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Frauen alle Männer in die Wüste schicken wollen. Zum Traum, Kinder zu haben, gehört doch die Vorstellung, jemanden zu lieben, mit dem man Kinder hat. Und dass man einem Menschen in die Augen guckt und sich darin verliert, ist keine ideologische Angelegenheit. Das ist Liebe. Kurzum, das Spiel der Geschlechter ist nun mal eine mühsame Verwandlung.

Janssen: Müssen wir noch hundert Jahre auf faktische Gleichberechtigung warten? Mit Ideologien kommen wir nicht weiter, die Auseinandersetzung entscheidet sich im Alltag. Auch die biblischen Texte erzählen von Konflikten. Matthäusevangelium, Kapitel 23, Vers 9: Ihr habt einen Vater im Himmel, nennt niemanden unter euch Vater. Dieser Satz Jesu kritisiert, dass Männer ihr Vatersein mit der Herrschaft über Frauen und Kinder verbinden. Dass Frauen heute in Unis, Parlamenten und Pfarrämtern vertreten sind, ist nicht selbstverständlich, sondern Ergebnis eines jahrhundertelangen Kampfes von Frauen, die sagten: Wir wollen unsere Rolle verändern, und wir ermöglichen damit auch gutwilligen Männern, neue Rollen in gleichberechtigter Geschwisterlichkeit zu leben.

Thomä: Sie kritisieren mich, weil ich im Spiel der Geschlechter einen langsamen Prozess sehe. Aber es gibt nun mal mühsame Kämpfe, innere und äußere. Ihre Bibellesart hilft mir da gar nicht: Wenn es heißt, dass man auf Erden keinen Vater haben soll ...

Janssen: Noch einmal - es heißt dort: Nennt niemanden Vater! Biologische Väter gibt es natürlich.

Thomä: ...klingt das so, als sei der ideale Zustand eine Erde ohne Väter. Das kann ja nicht gemeint sein.

Janssen: Nein, aber ohne Hierarchien, ohne Vorherrschaft der Väter.

Thomä: Wie sieht dann das Bild eines Vaters aus, der nicht Herrschaftsinstanz ist?

Janssen: Die biblische Aussage ist: Meine Geschwister sind die, die sich an die Tora, die Gebote Gottes halten.

Thomä: Mit der Geschwisterlichkeit, die Sie vorschlagen, ist uns nicht geholfen, weil die Menschen nicht alle Geschwister sind. Das sieht man auch in der Französischen Revolution, wo das Ideal der Brüderlichkeit für viel Gutes stand; für Solidarität und dafür, Machtverh ltnisse aufzubrechen. Aber das heikle Problem ist: Der Satz "Alle Menschen werden Brüder" ist blind für die Frage, wer die Mütter und Väter dieser Brüder sind. Damit ist in der Moderne ein kritischer Punkt erreicht.

Janssen: Biblisch wird die Frage so beantwortet: Gott ist Vater.

Thomä: Also schaffen wir das politische Patriarchat ab. Das hat die Französische Revolution auch versucht. Gleichzeitig war es so, dass der Vater in der Familie weiter an seiner Macht festhielt, die nur langsam bröckelte. Wir leiden bis heute darunter, dass man sich damals nicht wirklich der Frage stellte, wie sich die Rolle des Vaters verändert. Heute behaupten viele, am Vaterbild habe sich jahrhundertelang nichts geändert, das sei alles erst mit der Frauenbewegung gekommen. Das ist falsch. Die gesamte Moderne ist bestimmt von massiven Transformationen, auch im Privaten.

Janssen: Schon die Bibel ist voll unterschiedlicher Vaterbilder. "Gott ist euer Vater, deswegen nennt niemanden auf Erden Vater! " Das bedeutete eine Herausforderung für den Alltag, wirklich geschwisterlich miteinander zu leben. Es gab Männer, die den Tischdienst übernahmen, und andere, die sich weigerten. Es gab damals keine Kleinfamilie. Die Menschen in den frühchristlichen Gemeinden nannten sich Brüder und Schwestern und stritten um neue Rollen für die Geschlechter.

Thomä: Ich bin nicht einverstanden mit Ihrer These, dass das Ideal der Geschwisterlichkeit ein adäquater Ersatz für den Vater ist. Ich sehe auch nicht ein, warum in der Bibel der Weisheit letzter Schluss liegen soll, was die Rolle des Vaters angeht.

Janssen: Warum nicht?

Thomä: Aufgrund einer Alltagserfahrung: Geschwister haben ein symmetrisches Verhältnis. Sie sind gleich, sie sind Kinder. Aber es ist doch Tatsache, dass das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern asymmetrisch ist. Es bleibt ein blinder Fleck, wenn man alles wie unter Geschwistern abwickeln wollte.

chrismon: Was kann ein Vater, was eine Mutter nicht kann?

Thomä: Eine wie in Stein gemeißelte Antwort gibt es nicht. Ich beobachte nur Alltägliches, zum Beispiel, dass es den Ausdruck "ein Kind im Manne" gibt. Das steht für die exzessive Spielfreude bei Männern.

Janssen: Was männlich und weiblich ist, muss man - gerne auch spielerisch - herausfinden. Das ist wichtig. Nur wenn ich mich als Vater oder Mutter in meiner Rolle sicher fühle, kann ich auch Vorbild sein. Was zur Rolle gehört, ist Verhandlungssache.

"Hauptsache, es sagt überhaupt jemand zum Kind, dass frische Luft gut ist!"

chrismon: "Geh raus, hock nicht immer nur in deiner Bude! ", sagt der Vater. "Aber zieh dir eine Jacke an! ", ruft die Mutter hinterher. Haben solche Stereotype ausgedient?

Janssen: Hauptsache, es sagt überhaupt jemand zum Kind, dass frische Luft gut ist, und mit warmer Kleidung noch besser. Wer das sagt - der Vater, die Mutter, die Tante oder der Busfahrer - ist nicht entscheidend.

chrismon: Josef war bei Jesu Geburt dabei. Zur Väterrolle scheint heute zu gehören, mit in den Kreißsaal zu kommen. Gut so?

Thomä: Die Geburt ist das größte Ereignis in einem Aufbruch, der das Leben völlig verändert. Es wäre kurios, als Vater zu fehlen.

Janssen: Die Arbeit bei der Geburt muss die Frau machen. Ich finde es toll, wenn Männer sie unterstützen und die Schmerzen miterleben. Aber das ist kein Muss. Übrigens: Historisch betrachtet war Josef wahrscheinlich bei Jesu Geburt gar nicht dabei. Die Geburt lag in der Antike in der Hand der Frauen.

chrismon: Josef war gar nicht dabei im Stall zu Bethlehem? Da nehmen Sie den Menschen aber einen Mythos!

Janssen: Auch wenn ich mich der Bibel wissenschaftlich nähere, zerstört das meinen Glauben nicht. Im Gegenteil. Ich entwickle dabei eine große Nähe zu den Menschen, die diese Geschichten erzählen, weil sie von ihren Hoffnungen und Sehnsüchten berichten. Besonders die Weihnachtsgeschichten bieten Trost und Zuspruch, ohne dass ich alles wortwörtlich nehmen muss. Muss ich an die Jungfrauengeburt glauben? Oder dass Jesus in Bethlehem geboren wurde? Muss ich wissen, wer Jesu Vater war? Die Weihnachtsgeschichte erzählt, dass jede Geburt ein Wunder ist, jedes Kind ein Kind Gottes, egal, welche Bedingungen herrschen.

Thomä: Diese biblische Botschaft ist zeitlos. In Christi Geburt wie auch im Kinderhaben heute liegt eine Bejahung des Lebens, wie sie besser und heftiger nicht zu haben ist. 

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