Eine Ehrenrettung
30.11.2010

"Störe ich?", fragt meine Mutter am Telefon. Ja, sie stört. "Nein, natürlich nicht", sage ich. "Geht es dir gut?", fragt meine Mutter. Nein, es geht mir nicht gut. "Sehr gut", sage ich. Diese beiden Antworten sind wahrscheinlich meine 137. und 138. Lüge an diesem Tag. Die 126. war möglicherweise meine Reaktion auf das kahlköpfige, rotgesichtige Baby meiner Nachbarin. "Der Kleine ist aber niedlich", hieß mein Kommentar, und er klang anscheinend ganz glaubwürdig.

Nein, ich bin keineswegs eine notorische Lügnerin, sondern bloß statistischer Durchschnitt. Rund 200 Mal am Tag lügen wir, haben Forscher herausgefunden, und wir tun das überwiegend aus moralisch einwandfreien Motiven. Sage ich meiner alten Mutter die Wahrheit, ist sie gekränkt, macht sich Sorgen, oder ich muss Erklärungen abgeben, die ich nicht abgeben will. Ich verletze meine Nachbarin, wenn ich ihr wahrheitsliebend sage, dass sie einen der hässlichsten Säuglinge geboren hat, die mir je unter die Augen gekommen sind.

95 Prozent aller Menschen (eigene Schätzung) würden mir beipflichten, dass diese drei Lügen gute Lügen sind und sie selber bestimmt in der gleichen Situation auch lügen würden. Trotzdem würden genauso viele behaupten, dass sie ehrliche Menschen sind und nur im äußersten Notfall lügen, denn die Lüge, das lernen wir von Kind an, ist eine Sünde, hat kurze Beine, macht eine lange Nase und ist eine hässliche und verdammenswerte Angewohnheit. Nur zur Notlüge, das lernen wir, darf, wie der Name schon sagt, in der Not gegriffen werden. Ein solcher Notfall, lernt das Kind, sind Weihnachtsgeschenke von Oma und Opa, zu denen man niemals Sätze sagen darf wie "Was soll ich denn damit?".

"Die ersten 20 Lebensjahre trainieren wir das perfekte Lügen als kulturelle Technik"

Spätestens in der Pubertät lernt man dann, dass es für die eigene Beliebtheit abträglich ist, immer die Wahrheit und nichts als die Wahrheit über das Aussehen seiner Mitmenschen zu sagen. "Dieses Kleid macht dich dick und blass." Diese Tatsache spricht niemand einer Freundin gegenüber aus ­ es sei denn, man will sie loswerden. Und wir werden eisern behaupten, die Lieblingstante unseres Liebsten sei reizend, obwohl sie uns von der ersten Sekunde an unsympathisch war. "Die ersten 20 Lebensjahre trainieren wir das perfekte Lügen als kulturelle Technik", sagt der Sozialpsychologe Klaus Fiedler. "Menschen, die besonders gut lügen können, werden von anderen als vornehm und höflich empfunden." Also glauben wir ihnen.

Ich behaupte, menschliche Kommunikation ist überhaupt nur möglich, weil wir alle irgendwann kapieren: Der Grundsatz "Ehrlich währt am längsten" ist eine fromme Lüge. Der Kommunikationswissenschaftler Klaus Merten hält die Lüge gar für "einen der wirksamsten Mechanismen der Systemerhaltung". Und ich bin ganz einig mit Martin Luther, der die Notlüge als "Tugend" bezeichnete, "zu dem Zwecke angewendet, dass des Teufels Grimm verhindert und der Ehre, dem Leben und Nutzen des Nächsten gedient werde". Lügen aus Freundlichkeit, Höflichkeit, Rücksicht auf die Gefühle anderer, aus Taktgefühl, Mitleid und Barmherzigkeit gereichen der Lügnerin und dem Lügner auf jeden Fall zur Ehre.

Aus diesen Gründen lügen die meisten Menschen. Und sie können das so gut, dass selbst Profis Lügner nicht erkennen: Bei Experimenten entlarvten Verhörspezialisten maximal jeden Zweiten. Lügnerinnen und Lügner werden selten rot, sie verhaspeln sich kaum und knabbern nicht an Fingernägeln. Sie pressen nur etwas häufiger die Lippen zusammen, ihre Stimme wird etwas höher, ihre Pupillen erweitern sich ein wenig. Aber diese Merkmale zeigen auch Menschen, die befürchten, für Lügner gehalten zu werden, obwohl sie die Wahrheit sagen. Das ist einer der Gründe für die Unzuverlässigkeit von Lügendetektoren.

Wohlgemerkt: Ich schreibe hier über Alltagslügen. Es wäre absurd, die Lügen von Bush und Blair zur Rechtfertigung des Irakkriegs nicht zu verdammen. Ihre Lügen kosten täglich Hunderte von Menschenleben, trotzdem sind beide Lügner in Amt und Würden, und ich höre nichts darüber, dass unsere Regierung, die so gern ihr "christliches Wertesystem" beschwört, ihnen deshalb den Handschlag verweigert. Natürlich wird mir entgegengehalten werden, dass Politikerinnen und Politiker auch in Fragen, bei denen es nicht um Leben und Tod geht, nicht lügen sollten. Nein, das sollten sie nicht. Aber sie tun es und das wissen wir doch ­ oder? Sie tun es vor allem im Wahlkampf, aus dem für sie vermutlich moralisch vertretbaren Motiv, dass sie gewählt werden wollen. Das weiß jeder vernünftige Mensch, und wenn es einer, wie kürzlich der ungarische Ministerpräsident, zugibt, wundern wir uns, dass er es zugibt. Über die Tatsache als solche wundern wir uns nicht. Das ist traurig, aber das ist auch Demokratie: Sie gibt uns das Recht, Politiker für Lügner zu halten oder nicht.

Wer von Hartz IV leben muss, dem würde ich zur Lüge raten

Dass Politikerinnen und Politiker umgekehrt ihre Wähler und Wählerinnen zum Lügen zwingen, nehme ich weniger gelassen hin. Wer von Hartz IV leben muss, dem würde ich zur Lüge über diesen Zustand raten, denn seine Umgebung hat gelernt, dass er arbeitsunwillig ist, ein Parasit oder Schmarotzer gar ­ mit diesen Worten ist seinesgleichen ja stigmatisiert worden. Jede über 50-jährige Arbeitsuchende sollte über ihr Alter so lange lügen, wie es irgend geht, vielleicht hat sie durch ihre Fähigkeiten ehrlich überzeugt, bevor sie Papiere zeigen muss. Es wird von Wissenschaftlern und Schlagersternchen, Journalistinnen und Sportlern aus Ruhmsucht, Erfolgsgier oder Gewinnstreben gelogen wie gedruckt, auf dass sich die berühmten Balken biegen. So ist die Welt. Wir gewöhnlichen Menschen, die wir keine Entdeckungen fälschen, keine Liebesdramen erfinden und nicht dopen, lügen häufig aus sehr vernünftigen Gründen.

"Lügen ist das Salz des Lebens"

Jurek Beckers "Jakob der Lügner", einer meiner literarischen Lieblingshelden, lügt aus tief empfundener Mitmenschlichkeit seinen Leidensgenossen im Getto die baldige Befreiung vor, um ihnen die Angst zu nehmen und Hoffnung zu geben. Er hält sich nicht an das sittliche Wahrheitsgebot um jeden Preis, an den erbarmungslosen Rigorismus von Kirchenvater Augustinus oder Kant und Fichte, der bis heute in den Köpfen herumspukt: Wahrheit habe um ihrer selbst willen einen höheren moralischen Wert als selbst die aus lebensbedrohlicher Lage geborene Lüge. Ich halte mich an Voltaire, der schrieb, die Lüge sei eine hohe Tugend, wenn sie Gutes tue. "Lügen ist das Salz des Lebens", sagt der Wiener Soziologe Peter Stiegnitz. Dass er uns diesen Satz sagen kann, verdankt er dem gelogenen "Nein", mit dem er 1944 die Frage beantwortete, ob er Jude sei.

Offenheit und Aufrichtigkeit gelten als erstrebenswerte Charaktereigenschaften. Das sind sie auch. Aber nur dort, wo sie andere weder verletzen noch uns selbst in Turbulenzen stürzen. Daraus folgt für mich: Wenn meine Freundin mir sagt, mein neues Kostüm sei einfach umwerfend, werde ich nicht misstrauisch ihre Pupillen studieren. Ich will nicht, dass der Enkel seiner Oma an den Kopf knallt, sie habe ein doofes Geschenk gekauft. Ich frage nicht skeptisch nach, wenn der einsame Nachbar von seiner großen Familie erzählt. Lügen im Alltag fördern und erfordern Kreativität, Fantasie, Einfühlungsvermögen, Flexibilität und Schlagfertigkeit ­ alles höchst erstrebenswerte Fähigkeiten! Die moderne Evolutionsbiologie behauptet sogar, dass Lügen einen enormen Selektionsdruck für die Entwicklung von Bewusstsein, Intelligenz und Moralität dargestellt haben.

Der Philosoph Gerit Hoppe, der sich mit den "Kulturen der Lüge" beschäftigt, sagt, unsere seelische Grundausstattung "scheint durch die natürliche Auslese in unseren Gehirnen herangezüchtet worden zu sein, damit wir Betrüger entlarven und selber besser vermeiden können, bei Betrugsmanövern aufzufallen. Demnach wäre die Lüge eine treibende Kraft zur Entwicklung von Geist, Sprache und Kultur." Deshalb sollten wir von klein auf lernen, intelligent, sensibel und wohldosiert zu lügen und zu unterscheiden, wann Lügen verwerflich und wann sie geboten sind. Ehrlich sein können wir zur Not immer noch. "Störe ich?", fragt meine Mutter am Telefon. "Ja", sage ich. "Warum", fragt meine Mutter, "gehst du dann ans Telefon?" Vielleicht ist die gelegentliche Alternative zum Lügen: schweigen.

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Hallo und guten Tag,
dieses "Thema" hat mir die Hölle eingebracht, denn so schön wie es oben http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2007/du-sollst-nicht-luegen-stimmt-schon-aber-oft-richtet-die-wahrheit-noch-viel-mehr-schade beschrieben wird, habe ich selten etwas "auf den Punkt" zusammengefasst bekommen.
"Du sollst nicht lügen" ist ein Gebot (Du sollst) und kein Gesetz. Es soll eigendlich die Menschen zur freundlichen Zugewandtheit anleiten. Es sollte ein Regelfall sein, kein Ausnahmefall.
Es gibt nur keine Ausnahmen die überliefert beispielhaft genannt wären, und - Ganz schlimm nur, dass es keine "Ausführungsbestimmungen" gibt, so bleibt man alleingelassen. Erklärende Mitmenschen sind selten, häufiger dagegen sind vorhandene Personen an Strassen aus Extremistischen Glaubenskreisen (Zeugen Jehovas, Freikirchen,...) Und in extremen Zerreiß-Momenten mit den Nächsten, benimmt man sich "ungeschickt" "tölpelhaft" "vielleicht beleidigend" - ohne das auch SO zu wollen. DAS "platte" GEBOT macht mich lebensuntüchtig ! habe ich den Eindruck. Bringt mich in psycholog. Zwänge, in Verzweiflung....in ein unheilvollen „Teufelskreis“.

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Hallo
ich finde solche Anhandlungen recht gut, eklären diese doch im HEUTE, wie wir mit den verstaubten 10 Geboten lebenstauglich leben könnten.
Ob es wohl noch weitere Fortsetzung gibt ? Mit den anderen überlieferten Geboten ?
Ich würde mich sehr freuen.
und bedanke mich

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