Gibt es Gnade ohne Reue?
Der Bundespräsident kann dafür sorgen, dass ein früherer Terrorist vorzeitig aus der Haft freikommt. Aber muss der dafür nicht erst bereuen? Martin Luther meinte: Gnade macht Reue erst möglich.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Vom Motorrad aus schoss der Mann ins Innere des dunkelblauen Mercedes. Mit 15 Kugeln aus dem Lauf einer Maschinenpistole tötete er am 7. April 1977 den Chauffeur Wolfgang Göbel, den Sicherheitsbeamten Georg Wurster und den Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Vermutlich hielt der Täter die Insassen des Wagens für "Schweine in Uniform" und "Charaktermasken". Er hatte verlernt, in ihnen Menschen mit eigener Würde zu sehen.

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Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

Einer der Tatbeteiligten war Christian Klar. Ob er selbst schoss oder ein Komplize, darüber schweigt Klar bis heute. Anfang 2007 ist der damals 54-Jährige seit bald 25 Jahren in Haft, eine vorzeitige Haftentlassung soll ab 2009 möglich sein. Nun möchte der Ex-RAF-Terrorist, dass ihm die letzten Jahre seiner Haft erspart bleiben. Er bat den Bundespräsidenten um Begnadigung.

In einer Debatte um Klars Gnadengesuch meldeten sich namhafte Theologen zu Wort und empfahlen dem Präsidenten, Klar nicht eher zu begnadigen, als bis er Reue für seine Taten zeige. Doch setzt Gnade wirklich Reue voraus?

Die Person hat eine Würde, auch wenn sie schwerste Verbrechen begeht

Gnade ist ein zentraler Begriff christlicher Theologie. Als gnädig empfand der Reformator Martin Luther den göttlichen Weltenrichter, der Menschen trotz ihrer Bosheit nicht verurteilt, sondern freispricht. "Rechtfertigung" nannte Luther diesen Vorgang: Gott macht gerecht.

Luthers Rechtfertigungslehre ist der Schlüssel zum Verständnis aller protestantischen Theologie. Aus ihr stammen Unterscheidungen, die heute in der Begnadigungsdebatte hilfreich sind. Zum Beispiel die Unterscheidung von Person und Werk. Gottes Gnade gilt der Person, nicht seinen Taten. Und die Person hat eine Würde (lateinisch: dignitas), auch wenn sie schwerste Verbrechen begeht. Dieser Begriff aus der christlichen Theologie hat Eingang in den ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes gefunden.

Luther war überzeugt, die göttliche Gnade befreie Menschen davon, sich selbst rechtfertigen zu müssen. Sie erst mache dem Sünder den Weg zur Versöhnung frei. Demnach setzt nicht die Gnade Reue voraus, sondern umgekehrt: Gnade macht Reue überhaupt erst möglich. Es könnte doch sein, dass ehemalige RAF-Terroristen eine Begnadigung als Entgegenkommen anerkennen und im Gegenzug glaubwürdige Zeichen der Reue setzen. Und dass derjenige, der damals auf den Dienstwagen des Generalbundesanwaltes schoss, sich dann endlich offen zu seiner Tat bekennt.

Das Gnadenrecht dient als Korrektiv gegen Härten der Rechtsprechung

Natürlich wusste Luther, dass sich Menschen von der Gnade Gottes oder gar dem Entgegenkommen anderer Menschen nicht unbedingt erweichen lassen. Kein Richter spricht einen Straftäter in der Hoffnung frei, dass er danach seine Tat bereut und sich bessert, das wäre naiv. Im Bereich staatlichen Handelns gelten daher nicht religiöse, sondern innerweltliche Regeln. Der Staat muss Menschen mit seinen Gesetzen in Schranken weisen und sie bei Verstößen bestrafen. Wobei heute die Strafen überführte Täter resozialisieren sollen. Zudem müssen Inhaftierte unabhängig von der Schwere ihrer Tat die Aussicht haben, nach Verbüßen der Strafe in Freiheit zu leben ­ sofern sie niemanden mehr gefährden.

Das Gnadenrecht des Bundespräsidenten ist in dieses innerweltliche Recht eingebunden, es dient als Korrektiv gegen Härten der Rechtsprechung im demokratischen Rechtsstaat. Indem der Bundespräsident einen Mörder begnadigt, kann er selbst einen ersten Schritt auf den Inhaftierten zugehen und ein einseitiges Zeichen der Versöhnung setzen. Er ist in seiner Entscheidung frei. Der Inhaftierte kann ihn weder durch öffentliche Reuebekundungen zum Gnadenspruch zwingen noch durch zur Schau gestellte Unbeugsamkeit daran hindern.

Der Präsident kann sich die Hoffnung zu eigen machen, dass sein Gnadenspruch den Straftäter zu Reue ermutigt. Selbstverständlich kann er aber auch aus pragmatischen Erwägungen vor seiner Entscheidung Zeichen der Reue und des Respekts vor den Opferfamilien verlangen. Zeichen, die ihm erleichtern, eine Begnadigung zu verantworten, und die deutlich machen: Von diesem Inhaftierten geht keine Gefahr für die Gesellschaft mehr aus. Eine notwendige Voraussetzung für die Begnadigung sind solche Zeichen aber nicht.

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